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Néomi blinzelte. Ihre gut ausgeprägte Nachtsichtigkeit kehrte nur langsam zurück. Selbst nach all diesen Jahren war sie immer noch überrascht, dass sie unverletzt geblieben war.

Sie erkannte den schnittigen, tief liegenden Wagen vom Vorabend wieder, der sich deutlich von den Trucks unterschied, die gewöhnlich über diese alte Landstraße tuckerten. Was bedeutete … was bedeutete …

Er ist zurückgekommen! Der Mann mit den ernsten Augen, der gestern Abend hier war!

Augenblicklich war die Zeitung vergessen, und sie materialisierte sich auf einem Treppenabsatz in Elancourt, von dem aus sie den Haupteingang im Blick hatte. Mit weit ausgestreckten Armen schwebte sie auf das Fenster zu, als ob sie sich mit beiden Händen an den Fensterrahmen festhalten wollte.

Dort draußen in der Einfahrt stand sein Wagen.

Bitte zieh doch hier ein!, hatte sie ihn am vergangenen Abend anflehen wollen, als der Mann das Herrenhaus inspiziert hatte. Er hatte die Säulen untersucht, die Tücher von einigen der übrig gebliebenen Möbelstücke heruntergezogen und schließlich sogar den Heizstrahler im großen Salon in Gang gesetzt. Offensichtlich zufrieden, dass er funktionierte, hatte er dann die Rohre geprüft, die unter dem Fußboden lagen, indem er wiederholt auf die Marmorfliesen gestampft hatte.

Die Heizung wird funktionieren, hatte sie innerlich geschrien. Vor zehn Jahren war das Herrenhaus von einem jungen Paar modernisiert worden, das eine ganze Zeit lang dort gewohnt hatte.

Doch sie war leider nicht in der Lage, diesem mysteriösen Fremden die Vorzüge von Elancourt näherzubringen. Denn sie war ein Geist. Wie sich herausgestellt hatte, war es ihr unmöglich zu sprechen oder sich zumindest auf eine Art und Weise zu äußern, die andere zu hören vermochten, genauso wenig wie sie sich für andere sichtbar machen konnte.

Was vermutlich auch gut so war. Ihr Spiegelbild wirkte sogar auf sie selbst erschreckend. Obwohl Néomis Erscheinungsbild eine recht getreue Kopie ihres Aussehens in der Nacht, als sie gestorben war, darstellte – dasselbe Kleid, derselbe Schmuck –, wirkten ihre Haut und ihre Lippen so bleich wie Reispapier. Ihr Haar wallte in ungebärdigen Strähnen, in die sich zahllose Rosenblütenblätter verfangen hatten, über ihre Schultern, während sich die Haut unter ihren Augen verdunkelt hatte, sodass ihre Iris im Kontrast dazu in extremem Blau leuchteten.

Sie konzentrierte sich wieder auf den Wagen, aus dem tiefe, maskuline Stimmen erklangen. Anscheinend war der Mann nicht allein gekommen.

Vielleicht wieder zwei von diesen „eingefleischten Junggesellen“, wie das gut aussehende Paar, das in den Fünfzigern hier gelebt hatte?

Wer auch immer sich in diesem Wagen befand, sollte sich lieber beeilen. Den ganzen Abend lang hatte wiederholt Herbstregen eingesetzt, und Blitze zuckten in immer kürzeren Abständen auf. Sie hoffte nur, dass die Männer die Fassade nicht im Schein der Blitze näher inspizierten. Mit ihren Bögen und Überhängen und den farbigen Glasfenstern konnte das Herrenhaus ziemlich … abweisend wirken. Eben die gotischen Züge, die sie selbst so bewundert hatte, schienen andere abzuschrecken.

Das Fahrzeug begann jetzt auf seinen breiten Reifen von einer Seite zur anderen zu schaukeln, und die Stimmen wurden lauter. Dann war das Brüllen eines Mannes zu hören. Ihr Mund öffnete sich, als ein Paar riesiger Stiefel die Heckscheibe eintraten und sie vollkommen zerschmetterten, sodass sich die Glasscherben auf den Kies ergossen.

Jemand, den sie nicht sehen konnte, zerrte den Mann mit den Stiefeln wieder hinein, aber dann wölbte sich plötzlich eine der hinteren Türen nach außen. Waren die Autos heutzutage so zerbrechlich, dass ein Mann sie mit Tritten deformieren konnte? Nein, nein, sie hatte pflichtbewusst immer sämtliche Reportagen über Crashtests gelesen, und darin stand …

Die Tür wurde aus den Angeln gesprengt und bis zur Veranda geschleudert. Sie fuhr zusammen, als ein offensichtlich wahnsinniger Mann mit wildem Blick aus dem Wagen stürzte. Er war sowohl an den Händen wie auch an den Füßen mit Ketten gefesselt und von oben bis unten mit Blut bedeckt. Gleich darauf rutschte er in dem glitschigen Matsch der Einfahrt aus und wurde von drei anderen Männern zu Boden gerungen.

Einer von ihnen war ihr zukünftiger Mieter von gestern Abend.

Dann erkannte sie, dass sie alle blutverschmiert waren – weil der Gefesselte sie damit bespuckte, während er wild um sich trat.

Nein … nein!“, brüllte er und wehrte sich mit aller Kraft dagegen, das Haus zu betreten. Ob er womöglich spürte, dass es hier mehr gab, als das Auge zu sehen vermochte? Da wäre er der Erste.

„Conrad, hör endlich auf, dich zu wehren!“, stieß der Mieter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wir wollen dir nicht wehtun.“

Aber der Verrückte, den sie Conrad nannten, ließ einfach nicht nach. „Gott verdamme dich, Nikolai! Was hast du mit mir vor?“

„Wir werden dich von diesem Wahnsinn befreien, deine Blutgier besiegen.“

„Ihr Narren!“ Er begann wie ein Wahnsinniger zu lachen. „Niemand kehrt zurück!“

„Sebastian, nimm seine Arme!“, befahl dieser Nikolai einem der anderen. „Murdoch, du hältst seine verfluchten Beine fest!“ Als Murdoch und Sebastian eiligst zur Tat schritten, fiel ihr auf, dass sie beide Nikolai ähnelten. Alle drei hatten denselben grimmigen Gesichtsausdruck sowie die gleichen hochgewachsenen, kräftigen Körper.

Brüder. Ihr Gefangener musste auch einer von ihnen sein.

Sie schleppten den blutigen, wild um sich schlagenden Conrad auf die großen Doppeltüren des Haupteingangs zu. Blut in ihrem Zuhause. Sie erschauerte. Sie verabscheute Blut, hasste schon den bloßen Anblick, den Geruch. Sie würde niemals vergessen, wie es sich angefühlt hatte, in ihrem eigenen Blut dazuliegen, als es um ihren sterbenden Körper herum langsam gerann und auskühlte.

Hatte Elancourt davon nicht bereits mehr als genug gesehen?

In einem Anfall von Panik raste sie nach unten und riss die Hände in die Höhe, sodass eine unsichtbare Kraft auf die Türen einwirkte. Mit aller Kraft hielt sie den Eingang geschlossen. Jetzt konnte niemand mehr eindr…

Die Tür flog auf. Die Männer wälzten sich durch sie hindurch, und sie erschauerte, als ob sie sich in Spinnweben verfangen hätte. Ein Windstoß blies ins Haus hinein und wirbelte die Blätter und den Schmutz durcheinander, die den Fußboden bedeckten.

Über welche Kraft sie verfügten! Sicher, sie waren von gewaltiger Statur, aber sie hatte die Tür mit der Kraft von zwanzig Männern zugehalten.

Sobald sie den dunklen Raum betreten hatten, warf Nikolai ohne Rücksicht auf den italienischen Marmor eine Kette über den Boden.

Der Irre konnte sich ein weiteres Mal losreißen und sprang auf die Füße. Er war riesig! Schwerfällig setzte er sich in Richtung Tür in Gang, aber seine gefesselten Füße sorgten dafür, dass er gleich darauf in einen antiken, mit einem Tuch verhüllten Schrank stolperte, der unter dem Aufprall in sich zusammenbrach.

Vollkommen zerschmettert.

Sie hatte zwei Vorstellungen tanzen müssen, um sich dieses Stück leisten zu können, und erinnerte sich noch gut daran, wie sie es mit viel Liebe höchstpersönlich poliert hatte. Es war eines der wenigen Originalmöbelstücke, die ihr noch geblieben waren.

Nachdem Murdoch und Sebastian ihn aus den Überresten herausgezogen hatten, schlang Murdoch seinen starken Arm um Conrads Hals und umfasste mit der freien Hand seinen Hinterkopf. Sie konnte deutlich sehen, wie Murdoch seinen Bruder mit aller Kraft festhielt, seinen Griff noch verstärkte, bis sich seine Miene vor Anstrengung verzog und die Muskeln an seinem Hals durch die Anspannung hervortraten.

Trotzdem schien Conrad für einige schier nicht enden wollende Augenblicke unbeeinträchtigt. Doch dann hörte er endlich auf, sich zu wehren, und sein Körper erschlaffte. Während Murdoch ihn auf den Boden legte, brachte Nikolai hastig die Kette an demselben Heizkörper an, den er vergangene Nacht überprüft hatte, und befestigte das andere Ende an Conrads Handschellen.

Darum hatte Nikolai ihn einer so sorgfältigen Prüfung unterzogen? Weil er diesen Irren hier einsperren wollte?

Warum hier?

„Hättest du keinen gruseligeren Ort finden können, um ihn festzuhalten?“, fragte Sebastian heftig keuchend, als sie sich jetzt alle wieder aufrichteten. In diesem Augenblick leuchtete ein Blitz auf. Die hohen Buntglasfenster, die an einigen Stellen zerbrochen waren, warfen farbiges Licht in das Innere des Hauses und verzerrten die Schatten. „Wieso nehmen wir nicht die alte Mühle?“

„Dort könnte ihn jemand zufällig finden“, erwiderte Murdoch. „Und Kristoff weiß von der Mühle. Wenn er oder seine Männer erfahren, was wir planen …“

Wer ist Kristoff? Und was haben sie vor?

„Außerdem wurde mir Elancourt empfohlen“, fügte Nikolai hinzu.

„Wer sollte denn so was empfehlen?“ Sebastian wedelte mit der Hand. „Das sieht aus wie in einem Horrorfilm.“

Sie wünschte, er hätte unrecht, aber gleich darauf blitzte es erneut, und von allen Seiten schienen Schatten auf sie zuzugleiten, um sich auf sie zu stürzen. Sebastian hob die Augenbrauen, als ob er sagen wollte: Hab ich’s euch nicht gesagt?

Nikolais Blick richtete sich auf die Gesichter seiner Brüder, um ihre Reaktion auf seine Antwort zu beobachten. „Das war Nïx.“ Er zögerte, offenbar unsicher, ob sie lachen, fluchen oder nicken würden.

Murdoch zuckte die Achseln, und Sebastian nickte grimmig.

Wer ist Nïx?

Sebastian sah sich um. „Trotzdem – mir sträuben sich hier sämtliche Nackenhaare.“ Wieder blitzte es. „Fast so, als ob … als ob es hier spukt.“

Sebastian hat sich einen Keks verdient.

„Und ihr wisst, dass ich so was nicht leichtfertig sagen würde. Conrad hat es offensichtlich ebenfalls gespürt.“

Na klar doch, denn abgesehen davon geht es ihm ja bestens.

„Durch das Wetter sieht es schlimmer aus, als es ist.“ Nikolai fuhr mit der Hand durch sein feuchtes Haar und wischte sich das Gesicht mit einem Zipfel seines Hemdes ab. „Und selbst wenn hier ein paar Geister rumspuken – habt ihr denn vergessen, was wir sind? So ein Geist täte gut daran, uns zu fürchten.“

Sie zu fürchten? Kein lebendes Wesen konnte sie – Néomi – berühren.

„Genau genommen ist es ideal, weil dieses Haus die Leute abschreckt“, fuhr Nikolai fort, während erneut ein Donnerschlag krachte. „Das Haus der Walküren ist auch nicht weit weg, und es gibt nur wenige Mythenweltgeschöpfe, die sich in die Nähe ihres Zuhauses wagen würden.“

Walküren? Mythenwelt? Ihr fiel ein Zeitungsartikel ein, der vor ein paar Jahren erschienen war und sich mit dem Straßenjargon, den Kriminelle untereinander benutzten, beschäftigt hatte. Diese Männer benutzten so einen Slang. Was sollte es sonst sein?

„Vielleicht haben die Walküren etwas gegen Vampire in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft“, sagte Murdoch.

Vampire? Keine Gang? Sie sind alle wahnsinnig. Mon Dieu, ich brauche einen Bourbon.

„Ist das Ding überhaupt bewohnbar?“, erkundigte sich Sebastian in spöttischem Ton.

Nikolai nickte. „Die Bausubstanz und das Dach sind solide …“

Wie ein Fels in der Brandung.

„… und wenn wir erst einmal ein paar kleine Veränderungen vorgenommen haben, wird es für unsere Zwecke ideal sein. Wir reparieren nur, was wir brauchen: ein, zwei Schlafzimmer, eine Dusche, die Küche. Ich hatte heute schon die Hexen hier, für einen Schutzzauber rund um das Grundstück. Solange Conrad diese Ketten trägt, kann er die Grenze nicht übertreten.“

Hexen? So langsam reicht’s jetzt aber! Néomi hob die Hand, um sich die Schläfe zu massieren. Auch wenn sie nichts spürte, fühlte sie sich durch die vertraute Geste beruhigt.

Inzwischen wanderte Murdoch durch den Salon und wischte ein paar Spinnweben fort. „Conrad wusste, dass wir in die Kneipe kommen würden.“

„Daran besteht kein Zweifel“, erwiderte Nikolai. Er ging zu einem der Fenster, das vor Schmutz starrte, und warf einen Blick nach draußen. „Er hat uns erwartet. Um uns zu töten.“

„Offensichtlich ist er inzwischen ziemlich gut in so was.“ Sebastian tastete vorsichtig seine Rippen ab und zuckte zusammen.

Als Néomi genauer hinsah, erkannte sie, dass sie alle auf irgendeine Art und Weise verletzt zu sein schienen. Selbst Conrad sah aus, als habe ihm eine wilde Bestie mit ihren Klauen die Brust zerfetzt. „Es bereitet ihm Vergnügen.“

Töten bereitet ihm Vergnügen? Ein Mörder in meinem Haus. Schon wieder. Ob er wohl dieselbe Art Mann wie Louis war – einer, der einer wehrlosen Frau ein Messer mitten ins Herz stieß? Ganz ruhig, Néomi … Der Wind wurde heftiger. Zügle deine Emotionen.

„Na, das musste er wohl, wenn es wahr ist, was man so über seine Beschäftigung hört.“

Ein professioneller Killer?

„Dass wir ihn ausgerechnet jetzt gefunden haben … Das hätte wirklich zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt passieren können“, sagte Sebastian. „Wie sollen wir das bloß schaffen?“

„Wir befinden uns im Krieg, hintergehen unseren König, versuchen, uns nicht allzu viele Sorgen um Kaderin und Myst zu machen, und gleichzeitig tun wir unser Bestes, damit Con bald wieder seinen gesunden Vampirverstand zurückerlangt“, erwiderte Nikolai mit ruhiger Stimme.

Murdoch hob eine Augenbraue. „Ach, und ich hatte mir schon eingebildet, wir hätten uns zu viel vorgenommen.“

Die Brüder begannen die benachbarten Räume zu erforschen, überprüften das Holz auf Trockenfäule hin, zogen die Laken von den Möbeln und erkundeten ihre Umgebung.

Néomi hatte in der Vergangenheit immer sehr viel Glück mit den Bewohnern von Elancourt gehabt. Nette Familien waren gekommen und gegangen, dazu ein paar harmlose Obdachlose. Leider besagte rein gar nichts an diesen Männern Wir sind nett und harmlos!

Das galt insbesondere für den in Ketten liegenden Mörder. Er lag auf dem Boden, in seinem Mundwinkel sammelte sich Blut, das schließlich herabtropfte.

Tropf … tropf … Eine karmesinrote Pfütze hob sich grell von ihrem hellen Marmorfußboden ab. Genau wie damals. Unterdrücke es. Beherrsche es.

Schlagartig öffneten sich die Augen des Wahnsinnigen. Sie konnte die anderen nicht warnen! Schnell wie ein Blitz sprang er auf die mit Ketten gefesselten Füße und humpelte mit übernatürlicher Geschwindigkeit davon. Noch bevor sie auch nur die Arme heben konnte, um ihn aufzuhalten, hatte er die Kette straff gespannt … und der Heizkörper bog sich unter dem ungeheuren Druck.

Er konnte ihn nicht herausreißen. Unmögl…

Mit einem gewaltigen Knall löste sich der Heizkörper aus der Verankerung, während der Wahnsinnige mitten durch den Saal schoss, auf die Tür zu – die Tür, in der sie stand. Sie starrte ungläubig auf den Heizkörper, den er wild hin und her schleudernd hinter sich herzog und der alles zerstörte, was sich ihm in den Weg stellte.

Mit einem Mal brach das Netz der unter dem Fußboden verlegten Heizungsrohre durch den Boden – Meter für Meter stöhnendes Metall, explodierender Marmor und herumfliegende Splitter.

Wieder stürzten sich die drei Männer auf ihn. Der ganze Haufen aus Männerleibern rutschte über den Boden, bis er kurz vor ihren Füßen zum Stehen kam.

Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen um sich. Ihr Heim, ihr geliebtes Heim! Innerhalb von fünfzehn Minuten hatte der Wahnsinnige Elancourt schlimmer zerstört, als die gesamten vergangenen achtzig Jahre es vermocht hatten.

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Beherrsche es. Aber ihr Haar wirbelte bereits um ihr Gesicht, und Rosenblätter flogen wie von Sturmwinden getrieben um ihren Körper herum. Draußen nahm der Wind an Stärke zu, strömte durch die Löcher in den hohen Fenstern und wirbelte Dreck und Staub auf, bis sie in der Lage war, das volle Ausmaß der Zerstörung zu erkennen.

Der Marmor! Als ihre Augen sich vor Trauer mit Tränen füllten, begann draußen Regen herabzuströmen.

Bekämpfe es.

Zu spät. Blitze nahmen das Haus unter Beschuss und erleuchteten die Nacht wie eine ganze Serie von Bombenexplosionen. Ganz unten in dem Haufen aus Männerleibern hob Conrad mit einem Ruck den Kopf und blickte in ihre Richtung.

Blitzschnell wirbelte Néomi herum, sodass ihr Haar sich wie ein Schleier über ihr Gesicht legte, während sie sich auflöste, um Sekundenbruchteile später auf einem Treppenvorsprung wieder aufzutauchen, von dem aus sie auf ihn hinunterblickte.

Conrad starrte nach wie vor auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Er blinzelte hektisch, und seine Gegenwehr nahm immer weiter ab, als ob er vollkommen aus dem Konzept geraten wäre.

War es möglich, dass … er sie gesehen hatte?

Das war noch nie zuvor geschehen. Nicht ein einziges Mal. Sie wurde nun schon seit so langer Zeit durchweg ignoriert, dass sie schon begonnen hatte, sich zu fragen, ob sie tatsächlich existierte.

Von Nahem hatte sie sehen können, dass das Weiße in seinen Augen … rot war. Sie hatte zunächst angenommen, er sei verletzt, dass geplatzte Blutgefäße für diese Färbung verantwortlich seien, hatte dann aber erkannt, dass sie vollkommen gleichmäßig rot verfärbt waren.

Was waren das für Wesen? Konnten es tatsächlich … Vampire sein? Selbst angesichts dessen, was mit ihr geschehen war, fiel es ihr nach wie vor schwer, an übernatürliche Kräfte zu glauben.

Conrad schüttelte den Kopf und begann erneut, mit ganzer Kraft zu kämpfen und sich Zentimeter für Zentimeter seinen Weg zur Tür zu bahnen, trotz der Gegenwehr seiner Brüder.

„Ich wollte das eigentlich nicht tun, Conrad!“, stieß Nikolas hervor und griff in seine Jackentasche. Während die anderen ihren Bruder festhielten, biss er das Ende von etwas ab, das wie eine Spritze aussah, und injizierte den Inhalt in Conrads Arm.

Was auch immer es war, es verlangsamte ihn. Er blinzelte immer wieder mit seinen roten Augen.

„Was hast du ihm gegeben?“, fragte Sebastian.

„Ein Gebräu der Hexen, teils Medizin, teils Magie. Das sollte ihn für ein Weilchen ruhigstellen.“

Für wie lange würde es Conrad ruhigstellen? Wie lange hatten sie vor, ihn hierzulassen? Damit er auf ihren Fußboden spuckte und in ihren Salons herumgrölte? Sie würde auf gar keinen Fall zulassen, dass jemand wie Louis ihr Heim ein weiteres Mal beschmutzte! Dieser Conrad war eine Bestie. Man sollte ihn einschläfern lassen. Oder zumindest auf irgendeine andere Art und Weise aus dem Verkehr ziehen.

Sie würde diesen Eindringlingen Kräfte demonstrieren, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatten. Sie würde sie in den Hof fegen wie Abfall! Sie würde sie bei den Füßen packen und mit den Köpfen nach unten bis ins Bayou schleppen! Néomi würde ihnen zeigen, was es bedeutete, wenn ein Geist zum Poltergeist wurde …

Wo … ist sie?“, brachte Conrad zwischen keuchenden Atemzügen heraus.

Néomi erstarrte. Er konnte doch nicht sie meinen. Er konnte sie nicht gesehen haben.

„Wer, Conrad?“, fragte Nikolai kurz angebunden.

Kurz bevor das Hexengebräu ihm das Bewusstsein raubte, stieß er mit rauer Stimme aus: „Die Frau … wunderschön.“