25
Conrad hockte in einem Baum auf einem Hügel, von dem aus er einen Überblick über die Versammlung hatte. Er suchte die Menge nach Tarut ab, aber bis jetzt hatte er ihn noch nicht ausfindig machen können. Dabei würde der Dämon selbst in dieser Masse leicht zu entdecken sein. Er war annähernd zwei Meter fünfzig groß.
Obwohl er mit seiner Anwesenheit ein großes Risiko einging, war Conrad vorbereitet. Seine Hand hatte sich fast vollständig regeneriert. Die Wirkung der ihm verabreichten Drogen war nahezu völlig verflogen. Und geistig war er in bester Verfassung.
Blödsinn.
Er war süchtig nach Néomi. Ich bin süchtig nach einem Geist. Conrad konnte ihre Gegenwart nicht spüren, ihren Duft nicht riechen. Und das brachte ihn um.
Hinter einer Sonnenbrille sprangen seine Augen hin und her. Immer wieder sagte er sich, dass einzig sein eigenes Überleben zählte. Sie war ihm egal. Verdammt noch mal, das ist sie!
Doch im Verlauf der letzten drei Tage, während seine Wut nach und nach abklang, war ihm klar geworden, dass sie ihm seine Freiheit nicht aus Boshaftigkeit oder gar Selbstsucht vorenthalten hatte. Ihr Gesicht hatte so schrecklich gequält ausgesehen, als sie ihm den Schlüssel gereicht hatte. Solange er lebte, würde er nie vergessen, wie sie da im Regen vor ihm gestanden hatte, ihr liebliches Gesicht vom Glitzern der elektrischen Funken eingerahmt.
Mit jeder Stunde kehrten weitere Erinnerungen an seine wutentbrannte Tirade in sein Gedächtnis zurück. Er hatte sie beschuldigt, ihn willentlich und wissentlich der Gefahr durch seine Feinde auszusetzen. Dabei hatte sie stets bei ihm Wache gehalten, wenn er schlief. Wenn jemand Conrad auf Elancourt angegriffen hätte, hätte sie ihn – daran hatte er nicht den leisesten Zweifel – ohne Weiteres gegen die Decke geschleudert.
Und er hatte ihr unterstellt, sie habe vor, ihn verhungern zu lassen, wenn der Blutvorrat aufgebraucht wäre, hatte in Zweifel gezogen, dass sie auch nur das Geringste für ihn empfand – wo es doch in Wirklichkeit Néomi war, die ihn überhaupt erst dazu gebracht hatte, dieses abgepackte Blut zu trinken. Jeden Tag bei Sonnenuntergang hatte sie ihm einen bis zum Rand gefüllten Becher davon gebracht, obwohl sie schon den Anblick verabscheute.
„Ich kann es einfach nicht ansehen, ohne mich zu erinnern“, hatte sie gesagt. „Als ich starb, war ich von Kopf bis Fuß damit bedeckt, mit Louis’ …“
Conrad hatte das gewusst, denn in jener Nacht, in der sie getanzt hatte, konnte er sehen, wie es sich über den ganzen Boden ergossen hatte.
„Und warum bringst du es mir dann jeden Tag?“, hatte er sie gereizt gefragt.
Sie hatte geblinzelt. „Weil du es brauchst.“
Warum sollte Néomi auch einen bekennenden Mörder freilassen? Sie war schließlich von einem solchen gequält worden.
Geh zu ihr zurück, flüsterte es in seinen Gedanken. Und was sollte er dann tun? Er hatte sich noch nie in der Situation befunden, die verletzten Gefühle einer Frau beschwichtigen zu müssen. Ihm gingen die Worte nicht so leicht von den Lippen wie Murdoch.
Warum sollte sie auch überhaupt noch etwas mit ihm zu tun haben wollen, nach all den Dingen, die er ihr an den Kopf geworfen hatte? Er war so verdammt hart zu ihr gewesen. Er wusste noch, dass er ihr gewünscht hatte, sie möge in der Hölle verrotten. „Da bin ich doch schon längst“, war ihre geflüsterte Antwort gewesen.
Er packte sich an die Stirn. Was ist bloß los mit mir?
Sie hatte diese Hölle achtzig Jahre lang ertragen, nur damit dann ein dahergelaufener Vampir ihr Haus zerstörte und mit den Fäusten ihre Wände kurz und klein schlug. Und schon früher hatte Néomi leiden müssen. Dafür hatte der Mistkerl, der sie umgebracht hatte, gesorgt. Robicheaux hatte ihr nicht etwa nur das Messer in die Brust gestoßen und dann voller Entsetzen auf sein grauenhaftes Werk gestarrt. Er hatte den Messergriff gepackt und die Klinge auf sadistische Weise herumgedreht. Und Conrad konnte den Mann, der ihr das angetan hatte, nicht einmal foltern und abschlachten.
Seine Augen weiteten sich. Aber er konnte an ihrer Stelle das Grab dieses Bastards schänden! Endlich mal eine gute Idee! Und natürlich müsste Néomi von Conrads Geste erfahren, das würde ihr gefallen. Damit hätte er einen Grund zurückkehren, allein, um ihr davon zu erzählen.
Dieser Einfall munterte ihn beträchtlich auf und machte seine Anwesenheit bei dieser Versammlung um einiges erträglicher.
Als sich ihr Spiegel auf einmal wölbte – offensichtlich auf irgendeine Weise nachgiebig geworden –, zuckte Néomi zusammen. Dann flog eine Aktentasche aus dem Spiegel heraus und landete mit einem Knall auf dem Fußboden ihres Studios. Es folgten Hände, die den Spiegel teilten wie einen Vorhang.
Aus der Öffnung krabbelte ein hübscher Rotschopf mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Ihr folgte eine geradezu unheimlich gut aussehende Frau mit fesselnden goldenen Augen – und spitzen Ohren. Hinter den beiden schloss sich der Spiegel wieder nahtlos.
„Ich bin Mari MacRieve“, sagte die Rothaarige. Sie zeigte mit dem Daumen auf ihre Freundin. „Das ist Nïx die Allwissende. Sie ist eine Walküre.“
Néomi schüttelte ihr Erstaunen ab und sagte: „Es ist mir ein besonderes Vergnügen, euch beide kennenzulernen.“ Dann wandte sie sich an die schwarzhaarige Frau. „Nïx? Ich kenne ein paar Leute, die nach dir suchen.“
„Tun sie das nicht immer, Schätzchen?“ Nïx seufzte. Dann hauchte sie ihre Fingernägel – die allerdings eher an zierliche, elegante Krallen erinnerten – an und polierte sie.
„Wie geht es dir mit den ganzen Spiegeln?“, fragte sie Mari.
Die atmete tief aus. „Es geht so.“
„Sie ist Captromagierin“, erklärte Nïx. „Sie benutzt Spiegel für ihre Magie und zum Reisen.“
„Allerdings“, wandte Mari ein, „trage ich diese fremdartige gierige Macht in mir, wegen der mich die Spiegel restlos bannen können, wenn ich nicht aufpasse. Ich kann also nicht mit ihnen leben, aber ohne sie geht es auch nicht.“ Mari drehte sich um sich selbst. „Wahnsinn, was für ein Zimmer!“
Néomi sah, dass auf ihrem Rücken ein Zettel klebte, auf dem stand: Ich treibe es auch mit Ghulen.
„Oh, warte mal“, Néomi zeigte verschämt auf den Zettel. „Mari, du hast da ein …“
Mari tastete ihren Rücken ab, bis sie den Zettel erwischte. „Verdammte Regin.“ Nachdem sie ihn gelesen hatte, zerknüllte sie ihn und warf Nïx einen wütenden Blick zu. „Wann kommt Lucia endlich zurück? Ich werde mit Reege allein einfach nicht mehr fertig.“
Nïx zuckte die Achseln. „Mach dir keine Sorgen. Um Regin habe ich mich bereits gekümmert. Folly, eine abtrünnige Walküre und Regins Erznemesis, kommt am nächsten Freitag um Viertel nach vier.“
Mari atmete erleichtert auf. „Ah, deine Hellseherfähigkeit ist wirklich eine wunderbare Sache. Ich wünschte, die meine wäre auch nur einen Bruchteil so stark wie deine.“
„Dafür braucht man keine hellseherischen Fähigkeiten. Ich habe Folly ein Flugticket gekauft. Ich lasse sie erster Klasse aus Neuseeland einfliegen. Regin wird sich über den Verrat furchtbar aufregen, aber manchmal muss man eben grausam sein, um jemandem einen Freundesdienst zu erweisen.“
„Du bist weise“, sagte Mari. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit der vollkommen verdatterten Néomi zu.
„Wie kommt es, dass ihr beide Geister sehen könnt?“, fragte Néomi.
„Weil ich eine Hexe bin“, antwortete Mari, „und weil sie verdammt alt und mächtig ist.“
„So alt wie Kohlenstoff“, bestätigte Nïx. „Und so mächtig, dass ich schon an meinem Halbgöttinnen-Namensschildchen bastle.“
Néomi fand nicht, dass Nïx auch nur einen Tag älter aussah als Mari, aber was wusste sie schon? „Kann eine von euch mir sagen, wie ich zum Geist geworden bin?“
Mari schüttelte den Kopf. „Das weiß niemand so genau, aber ich hab mal gehört, dass es damit zu tun hat, wenn eine Seele zu stark ist, um ins Jenseits zu wandern, sogar nach dem Tod. Oh, und für gewöhnlich braucht man dazu auch noch einen stabilen Geisteranker.“
„Geisteranker?“
„Ja klar. Wenn du an einem Ort stirbst, den du geliebt hast oder der eine bestimmte Bedeutung für dich hatte, dann kann er deinen Geist dort verankern.“
Néomi hatte Elancourt geliebt. Dieser Besitz war das Einzige in ihrem Leben gewesen, das dauerhaft und beständig war. Hier hatte sie Wurzeln schlagen und ihren Kindern beim Spielen im Garten und im Pavillon zusehen wollen. Hier hatte sie alt werden wollen, mit jemandem, den sie liebte.
Warum blitzte Conrads Gesicht vor ihrem geistigen Auge auf, wenn sie daran dachte?
„Und, was machst du hier so, wenn du Spaß haben willst?“, erkundigte sich Mari.
„Spaß? Hm, ich lese Zeitung. Und … oh, manchmal ziehen hier Katzen ein. Und dann gibt’s da noch eine Biberfamilie, die immer im Winter reinkommt und überall rumschnüffelt. Es ist zu komisch, wie die hier herumtollen, ich könnte ihnen stundenlang zusehen.“ Sie runzelte die Stirn. „Genau genommen tue ich das auch.“
Mari warf Nïx einen vielsagenden Blick zu. „Bones, wir sind wohl gerade noch rechtzeitig gekommen!“
„Klare Sache, Jim“, erwiderte Nïx in gelangweiltem Tonfall.
Bones? Jim?
„Dann habt ihr also schon von mir gehört?“, fragte Néomi.
„Mmh. Ich hatte darüber nachgedacht, meine Hausarbeit über dich zu schreiben.“
„Aber dann hast du dich anders entschieden?“, sagte Néomi, um einen möglichst beiläufigen Tonfall bemüht.
„Eine der älteren Hexen hatte schon eine Hausarbeit über einen Frauenrechtler aus Baton Rouge verfasst, und ich fand, es wäre durchaus nicht unter meiner Würde, den Schrieb zu benutzen. Aber ich weiß noch, dass du eine Burleskentänzerin warst, die dann später zur Ballerina wurde.“
„Burleske? Das ist herausgekommen? Aber die Leute verstehen das nie“, sagte Néomi. Sie fragte sich, was diese Frauen wohl von ihr halten mochten – Conrad war entsetzt gewesen. Würden sie sie und ihr Anliegen überhaupt ernst nehmen? „Das habe ich nur drei Monate lang gemacht. Möglicherweise vier. Allerhöchstens ein Jahr. Und ich war niemals völlig nackt“, fügte sie hinzu. „Wirklich nicht allzu häufig. Damals nannte man das noch Striptease – also, ‚tease‘ wie in jemanden reizen oder scharfmachen. Nicht Strip, versteht ihr? Da gab es meistens jede Menge Fächer oder große Federn …“
„Aber das ist ja gerade das, was die Leute an dir so liebten“, sagte Mari. „Heutzutage ist Burleske wieder voll in. Nachdem dein Geheimnis herausgekommen war, haben die Leute dich die ‚Ballerina mit der burlesken Seele‘ genannt. Du passt zu New Orleans wie die Faust aufs Auge.“
„Oh. Na dann“, sagte Néomi aufatmend. Zumindest sahen die Menschen sie, wie sie sie sehen sollten. „Dann bin ich beruhigt.“
„Toll. Also, kommen wir zum Geschäftlichen.“
„Möchtet ihr euch vielleicht setzen?“ Es war so unwirklich, Gäste zu haben!
Mari nickte, versetzte ihrer Aktentasche einen Tritt, sodass sie am Kaffeetisch vorbei zum Bett rutschte, und setzte sich. Nïx hüpfte auf den Tisch, auf dem Néomi ihre Sammlung ausgebreitet hatte, und hockte sich auf den staubfreien Platz, an dem das Grammofon gestanden hatte. Sie musterte Néomis Sammelsurium von Kondomen, BHs und Mardi-Gras-Krimskram, sagte aber nichts.
„Ich würde euch ja Kaffee anbieten …“
„Ich nehme weder feste Nahrung noch Getränke zu mir“, erklärte Nïx mit ruhiger Stimme.
„Und Kaffee nach den ganzen Margaritas würde bedeuten, den Zorn des Cuervo herauszufordern“, fügte Mari hinzu. Sie zog einen Stift und einen Notizblock aus ihrer Tasche. „Also, Néomi, zuerst mal ein paar Hintergrundinformationen, nur für meine Akten … Warum hast du dich ausgerechnet jetzt mit mir in Verbindung gesetzt? Ich meine, du bist schließlich schon seit Jahrzehnten ein Geist.“
„Na ja, ich wusste ja nicht einmal von der Existenz der Mythenwelt, bis vor ein paar Wochen die Vampire eingezogen sind. Ich hatte keine Ahnung, dass es Hexen gibt oder Walküren …“
„Vampire sind eingezogen?“, unterbrach Mari sie mit einem raschen Blick auf Nïx. „Komisch. Ich habe erst kürzlich einen fremden Vampir in einer Bar am Bayou gesehen. Was für ein Zufall.“
Nïx formte die Worte „Wer? Waaas?“ mit den Lippen.
„Ja, sie kommen aus Estland“, sagte Néomi, und schon sprudelte die ganze Geschichte aus ihr heraus. „… und dann hat sich Conrad die Hand abgehackt und mich einen jämmerlichen, mitleiderregenden Geist genannt, und das konnte ich nicht ertragen. Und damit war der Zeitpunkt gekommen, wo ich dich angerufen habe.“
„Du strebst doch nicht wegen des Vampirs nach einem Körper, oder?“, fragte Mari. „Um ihm zu zeigen, was er verpasst? Denn das ist schon eine wirklich ernste Sache.“
Selbst wenn Néomi Conrad niemals wiedersehen würde, musste sie irgendetwas unternehmen. Denn ich hasse das, was aus mir geworden ist. „Ich strebe danach, weil es an der Zeit ist.“
„Okay, dann werde ich dir mal alles erklären.“ Mari legte den Stift hin. „Ich kann dir bei deinem Körperlosigkeitsproblem helfen, aber es wäre nur vorübergehend, und es wird dich einen hohen Preis kosten. Damit meine ich nicht nur die monetäre Seite. Es handelt sich im Grunde genommen um einen Hüllenzauber, mit dessen Hilfe ein Körper geschaffen wird, der dem Schicksal sozusagen für Schießübungen dient. Durch diesen Zauber wirst du genauso aussehen und fühlen wie der Mensch, der du einmal warst, aber du wirst … na ja, wenig später wirst du getötet werden.“
„Aber wieso?“
„Manche Leute nennen das, worüber wir gerade sprechen, ein Ave-Maria-Mortalitäts-Schauspiel. Es wäre doch möglich, dass du anfängst, früheres Unrecht wiedergutzumachen, indem du Wissen aus deinem Leben nach dem Tode benutzt, um die Gegenwart zu verändern. So was gefällt dem Schicksal überhaupt nicht, und darum setzt es dir ein gewaltsames Ende“, erklärte Mari. „Es ist so, als ob du mit einer leuchtenden Zielscheibe auf dem Rücken herumläufst. Früher oder später wirst du durch irgendeine gewaltsame Ursache ausgemerzt werden – durch einen Wagen, dessen Fahrer die Kontrolle verloren hat, oder einen Flugzeugabsturz, oder du stirbst an einem Stromschlag deines Föns. Jedenfalls wird irgendetwas ziemlich Grauenhaftes passieren. Deine körperliche Hülle wird sterben, dann verschwinden, und damit wird auch dein Geist sterben – Ende und aus.“
„Wie viel Zeit würde ich haben?“
„Ein, zwei Wochen? Eine Nacht? Vielleicht ein paar Monate. Das kann man nicht sagen. Aber die längste Zeitspanne, von der ich in einem Internetforum gelesen hab, betrug ein Jahr.“
Néomi schluckte. „Was passiert nach dem Tod?“
„Da sitzt der Haken. Das weiß niemand. Das ist so eine Sache zwischen dir und deinem Gott, deinen Göttern, Göttinnen et cetera.“
„Na ja, wo wir nun schon mal dabei sind“, sagte Néomi, „hab ich noch eine Frage: Gibt es denn irgendeine Möglichkeit, einen Körper für ein ganzes Menschenleben zurückzubekommen? Vielleicht hab ich ja genug Geld für eine komplette Wiederauferstehung?“
Mari und Nïx sahen einander an. „Damit will ich nichts zu tun haben. Aber was du willst, ist auch keine Wiederauferstehung. Dein Geist ist ja hier und steht zur Verfügung. Es ist also nicht nötig, ihn auf diese Ebene zurückzuzerren. Was du brauchst, ist eine Verkörperlichung, was an und für sich schon verdammt gefährlich ist. Und dann gibt es da noch ungefähr ein Dutzend verschiedene Bedingungen, die eingehalten werden müssten. Aber selbst wenn alle Umstände ideal wären, habe ich einfach nicht genug Erfahrung, um so was zu versuchen. Noch nicht.“
„Hast du es noch nie ausprobiert?“
„An einem Menschen? Nicht außerhalb des Simulators.“ Nach kurzem Zögern gab sie zu: „Letztens habe ich allerdings einen Versuch mit meiner Geisterkatze gestartet.“
„Und?“
„Hast du jemals Friedhof der Kuscheltiere gesehen?“
Néomi schüttelte den Kopf.
„Nein? Jedenfalls war mein Tigger total daneben, als er zurückkam!“, schluchzte sie und biss sich in einen Fingerknöchel.
Nïx erhob sich, setzte sich neben Mari und tätschelte ihren Rücken. „Ist schon gut, du bist meine Lieblingsperson aus dem Bereich des Wicca.“
Mari betupfte ihre Augen und murmelte: „Mir ist, äh, Staub ins Auge gekommen.“
„Mari ist unglaublich mächtig“, sagte die Walküre an Néomi gewandt, „aber dafür bräuchte man schon eine Befähigung der Stufe …“ Sie runzelte die Stirn. „Tja, welcher Stufe?“
„’ne glatte Fünf“, antwortete Mari, die langsam ihre Fassung wiedergewann. „Von fünf.“
„Hast du nicht Lust, an mir zu üben?“, fragte Néomi in munterem Ton. „Ich bin bereit.“
Nïx schüttelte den Kopf. „Für einen Zauber der Stufe fünf müsste Mari mit dem Spiegel kommunizieren, um ihre ganze Macht zu entfesseln. Höchstwahrscheinlich würde sie sich in ihrem eigenen Spiegelbild verlieren, unfähig, sich davon zu lösen. Möglicherweise für immer.“
Mari nickte. „Aber in fünfzig Jahren werde ich mich meinem Spiegelbild stellen, wenn ich stärker bin und mehr Erfahrung habe. Wir haben den Tag schon im Kalender angestrichen. Falls du so lange warten kannst, trage ich dich ganz oben auf der Liste ein, für eine einmalige, äußerst geringe Gebühr …“
„Nein. Merci, aber nein.“ Weitere fünfzig Jahre der Einsamkeit unter dem Splittermond? Ihren Tod noch ungefähr sechshundert Mal aufs Neue durchleben?
Die Alternative war, möglicherweise ein ganzes Jahr lang zu leben. Es war keine Frage, was sie wählen würde.
„Tut mir leid, Néomi. Wenn ich jetzt versuchen würde, dich zu verkörperlichen, wäre ich am Ende höchstwahrscheinlich rettungslos meinem Spiegelbild verfallen, und dir wäre ein Schicksal beschieden, das schlimmer ist als der Tod. Ich weiß, du glaubst, es gibt nichts Schlimmeres als den Tod …“
„Nein, das denke ich ganz und gar nicht.“ Néomi hatte die Spanne eines ganzen Lebens hinter sich, das schlimmer war als der Tod. Sie begriff das Konzept und warum es weise war, es zu vermeiden.
„Es gibt aber noch eine weitere Option“, sagte Nïx. „In der Mythenwelt existieren Phantome, eine geisterähnliche Spezies von Unsterblichen, die nach Belieben eine Gestalt annehmen können, etwa wie Gestaltwandler, die zwischen Leben und Tod stehen. Wenn du auf dieser Ebene lange genug als Geist existieren kannst, dann würdest du mit der Zeit erneut einen Körper entwickeln und genug Kräfte ansammeln, um so zu werden wie sie. Du wärst in der Lage, deinen Geisteranker zu verlassen und würdest trotzdem deine telekinetischen Fähigkeiten behalten.“
„Wie lang?“ Das klang perfekt. „Wie lange muss ich existieren, damit mir ein Körper wächst?“
Nïx schnipste mit den Fingern. „Allerhöchstens vier- oder fünfhundert Jahre. Die vergehen wie im Fluge.“
„Oh.“ Die Art, in der Nïx von diesem Zeitraum sprach, brachte Néomi dazu sich zu fragen, wie alt die Walküre denn wohl sein könnte. „Das kommt für mich leider auch nicht infrage. Ich durchlebe nämlich jeden Monat noch einmal meinen Tod. Das halte ich keine fünfzig Jahre aus, geschweige denn fünfhundert.“
„Ah, das ewige Geisterschauspiel.“ Nïx nickte mitfühlend. „Vermutlich wäre dein Geisteranker bis dahin sowieso schon längst abgebrannt oder abgerissen.“
„Gibt es denn sonst noch jemanden, der so eine Verkörperlichung durchführen kann?“
Nïx hob eine Augenbraue. „Niemand, mit dem du dich abgeben möchtest. Es gibt eine Handvoll Hexer, die dazu fähig sind, aber sie würden eine haarsträubende Gegenleistung dafür verlangen, deinen Erstgeborenen oder etwas ähnlich Unkomisches.“
„Hör mal, Néomi“, sagte Mari, „es gibt keinen Grund, warum du unserem Rat in dieser Frage vertrauen solltest, aber ich kann dir eine Liste mit Referenzen von Leuten geben, die dir wirklich gerne …“
„Nein, ich vertraue euch. Wie schnell könntest du das mit dieser Körperhülle machen?“, fragte Néomi.
Mari schien überrascht, dass sie immer noch interessiert war. „Äh, bis heute Abend. Aber ganz ehrlich, du solltest die ganze Sache vielleicht doch lieber vergessen. Ich meine, so übel kann es hier doch gar nicht sein.“
Néomi blickte Mari fest in die Augen. „Ich sitze in einer nicht enden wollenden Hölle fest, und mir bleibt nicht einmal die Möglichkeit, mich umzubringen, um ihr zu entkommen. Ich spüre nichts, außer in dieser einen Nacht jeden Monat, wenn mir ein Messer ins Herz gestoßen und anschließend in meiner Brust herumgedreht wird.“
„Alles klar, scheint so, als ob wir den Zauber durchführen werden!“ Mari zog einige Papiere und Formulare aus ihrer Aktentasche. „Und jetzt zur Bezahlung.“
Néomi winkte mit einer Hand in Richtung Schmuckkasten hinter ihr, und augenblicklich öffnete sich eine mit Filz ausgelegte Schublade voller Juwelen. Mit vier weiteren oft geübten Gesten öffnete sie den Safe. „Nimm, was du willst.“
Mit Kennermiene suchte sich Mari einige Diamanten mitsamt Zertifikaten heraus und verstaute sie in einem Innenfach ihrer Tasche. Nïx sah sich währenddessen im Studio um, wobei ihr verwirrter Blick immer wieder zu Néomi zurückkehrte.
„Und?“, fragte Mari, die dabei war, Verträge auf dem Kaffeetisch auszubreiten. „Siehst du schon irgendwas über Néomi?“
„Da ist rein gar nichts“, erwiderte Nïx.
„Ist das gut oder schlecht?“, fragte Néomi.
Nïx kniff die Augen zusammen. „Es ist jedenfalls ungewöhnlich.“
Mari reichte Néomi einen Stift. „Wenn du bitte hier und hier unterschreiben würdest. Ein Kreuz reicht schon.“ Néomi vollführte mithilfe ihrer Telekinese ein etwas krakeliges X. „Okay, und hier noch. Nïx, ich brauche dich als Zeugin.“
Nïx kritzelte ihre Unterschrift daneben: Nïx die Allwissende, Proto-Walküre & Wahrsagerin Ohnegleichen.
„Muss ich irgendetwas tun, um mich vorzubereiten?“, fragte Néomi.
„Warum die Eile? Für gewöhnlich lasse ich meinen Kunden eine Bedenkzeit von achtundvierzig Stunden, wenn es sich um einen unumkehrbaren Zauber handelt.“
„Die Mythenwelt gefällt mir wirklich und ich möchte mehr davon sehen. Und heute Abend findet diese Versammlung …“
„Ah ja, auf dieser Party wird es hoch hergehen. Wir nennen sie Nacht der Prügel. Die Party war Nïx’ Idee.“
Nïx nickte mit strahlender Miene. „Ein B.D.E.O.M. Bring dein eigenes Opfer mit.“
„Also, warum flüstern mir meine Spinnensinne, dass Conrad Wroth dort sein wird?“, fragte Mari.
„Was? Ach, wirklich?“, sagte Néomi heiter.
„Selbstverständlich möchtest du, dass er sieht, wie du mit anderen Männern flirtest und er seine Worte bereut“, fügte Nïx hinzu.
Néomi war unsicher, was sie tun würde, falls sie ihm dort begegnete. Ein Teil von ihr wollte auf Gedeih und Verderb wissen, ob sie sein Blut wieder zum Fließen bringen könnte. Ein anderer Teil wollte sich vergewissern, ob er nach drei Nächten weit weg von Elancourt noch bei klarem Verstand war. Und zugegeben, ein weiterer Teil von ihr wollte Conrad beweisen, dass sie nicht in ihrem gruseligen Herrenhaus saß und sich vor Gram verzehrte.
„Du kannst mit uns kommen“, bot Mari ihr an. „Mein Mann ist auch dort mit seinen Verwandten. Er hasst unsere Weiberabende – kriegt jede Woche einen Tobsuchtsmannfall. Ich schätze, ich könnte ihn ja mal aus seinem Elend befreien.“
„Ich würde sehr gerne mit euch kommen!“ Und falls Conrad dort war, sollte sie ihm vielleicht sagen, er könne sich zum Teufel scheren, und diesen zugleich mitleidigen und angewiderten Blick erwidern, den er ihr zugeworfen hatte. „Ich möchte mich in Schale werfen und neue Leute kennenlernen. Ich möchte fühlen!“
„Die Versammlung wird sicher ziemlich extrem“, sagte Mari. „Und du wirst nur ein Mensch sein – ohne jegliche Kräfte, die du als Geist besessen hast. Bist du sicher, dass du damit klarkommst?“
„Ich kann’s kaum erwarten.“
„Adrenalinjunkie“, sagte Mari. „Schon verstanden. Also, das wird wohl eine Neufassung von Cinderella. Ich fühl mich schon wie die gute Fee.“ Sie sah Néomi abschätzend ab. „Bist du sicher, dass du das willst?“
„Mein Ball wartet auf mich.“
„Solange ich mich fertig mache, kannst du schon mal einen Live-Blick auf die Nacht der Prügel werfen.“ Mari presste die Fingerspitzen auf das Glas, wobei sie es sorgfältig vermied, direkten Augenkontakt mit dem Spiegel aufzunehmen, ehe ein Bild erschien. Wilde, lärmende Gestalten tanzten um ein Freudenfeuer, das wenigstens fünf Stockwerke hoch war.
Welch wunderschönes Chaos. Néomi sehnte sich danach, darin einzutauchen, auch wenn sie sich fragte, ob sie wohl tatsächlich inmitten dieses Tumults zurechtkäme – eine Sterbliche unter Unsterblichen.
„Sieh dir mal meinen Mann an.“ Mari zeigte eine andere Szene und zeigte auf einen riesigen, sehr gut aussehenden Mann, der mit finsterer Miene abwechselnd in seinen Drink und auf seine Umgebung starrte. „Oh verdammt, dieser Werwolf macht mich echt total an.“ Mari seufzte. „Er sieht so unglücklich aus“, fügte sie entzückt hinzu.
Néomi runzelte die Stirn. „Das ist Bowen MacRieve, dein Mann?“ Mari nickte. „Sie meinten, er würde in zwei Wochen kommen und hinter Conrad her sein, falls es ihm bis dahin nicht besser ginge. Könntest du deinen Mann nicht dazu bringen, Conrad nicht, na ja, wehzutun?“
„Ich werd mit ihm reden. Aber ich hätte nicht gedacht, dass dich das überhaupt interessiert, nachdem der Vampir dich als mitleiderregend bezeichnet hat.“
„Es interessiert mich aber immer noch.“ Néomi seufzte. Vermutlich würde das wohl auch so bleiben. Denn möglicherweise hatte sie sich ein kleines bisschen – wirklich nur das allerkleinste bisschen – in Conrad verliebt.
„Wieso gehst du nicht mit dem Vorsatz hin, ihn einfach komplett zu vergessen?“, fragte Mari. „Schließlich ist es doch möglich, dass er heute Nacht seine Braut findet – und das bist wahrscheinlich nicht du. Dort gibt es jede Menge Männer, die dich ablenken könnten. Nïx soll dich mit Cade und Rydstrom bekannt machen – Freunde von mir, die zu den heißesten Dämonenbrüdern gehören, die du jemals zu Gesicht bekommen wirst.“ Sie holte ein winziges Handy aus einer ihrer zahlreichen Hosentaschen. „Ich muss mal schnell telefonieren.“
Während Mari sich zur anderen Seite des Zimmers zurückzog, wies Nïx sie auf zwei ungewöhnlich attraktive, gehörnte männliche Wesen hin. „Das da ist Cade, makelloses goldenes Aussehen und moralische Ambivalenz. Der perfekte Gegenpart zu dem mächtigen König Rydstrom mit seinen Narben und seiner stolzen Ehre.“
„Sieh dir nur mal die Augen an“, hauchte Néomi. Obwohl einer der Brüder hellere Haare hatte und der andere dunklere, besaßen sie beide leuchtend grüne Augen.
„Oh ja. Sie haben wirklich tolle Augen. Alle sagen, das wäre der Grund, wieso die Frauen Schlange stehen, um einmal unter ihnen Hula-Hoop zu spielen. Entweder das oder ihr Akzent – eine Mischung von Australisch und Südafrikanisch. Aber ich glaube, es liegt an den Hörnern.“
Ihre Hörner, perlmuttfarben und geschwungen, begannen gleich über ihren Ohren und schwangen sich dann über ihre Köpfe hinweg. Ihre Form und Ausrichtung erinnerte Néomi an die Lorbeerkränze, wie sie die Männer in der Antike getragen hatten, auch wenn Rydstroms Hörner genauso von Narben übersät waren wie der Rest von ihm.
„Ja“, fuhr Nïx fort, „diese schlanken … steinharten Hörner … sind sie nicht zum Abschlecken?“
Hatte Nïx gerade ein Knurren ausgestoßen? „Es scheint, als ob du dir gerne einen von ihnen schnappen würdest. Oder, äh, beide.“
„Oh nein, nein. Ich bin Mike Rowes Auserwählte.“
„Ist das Mike da unten?“
„Nein, Mike ziert sich im Moment ein wenig.“ Mit leerem Blick murmelte sie: „Aber das wird dir nichts nützen … du unartiger kleiner Schlingel.“
In diesem Moment hörte Néomi Mari sagen: „He, Ellianna … ha ha, nein, ich brauche keine Kaution! Ich hab nur gerade über diesen Zauber für Geister nachgedacht. Heißt es corpus carnate oder carnate corpus?“
Merde! Die Hexe musste sich erst noch Anweisungen holen?
Mari verstummte kurz. „Und ob ich dem gewachsen bin … aha, aha … und deshalb werde ich auch nicht dem Spiegel verfallen, stimmt’s?“
Néomi wollte gerade ihre Bedenken anmelden, als Nïx sich wieder zu Wort meldete.
„Ich habe diesen Vampir in dein Haus geführt. Und ich weiß immer noch nicht, warum.“ Sie beugte sich vor, offenbar aufrichtig verwirrt. „Vor allem, weil du sterben wirst.“
Néomi schluckte. „Woher kennst du Conrad?“
„Ich kenne seine Brüder.“ Ihre Stimme nahm einen verträumten Tonfall an. „Und ich schätze, ich verspüre eine gewisse Verbundenheit mit Conrad. In meinem Kopf gibt es ebenfalls unerwünschte Untermieter.“
„So, da bin ich wieder!“, sagte Mari. „Hast du irgendwas über Néomi gesehen? Welchen Weg sollte sie einschlagen?“
Nïx schien wieder in die Gegenwart zurückzukommen. „Ich sehe sehr wenig über dich“, sagte sie zu Néomi. „Ich werde zwar die Allwissende genannt, aber alles weiß ich dennoch nicht. Nur eins weiß ich, und das mit absoluter Gewissheit: Der Tag, an dem irgendjemand herausfindet, was du vorhast, wird dein letzter sein.“
„Was meinst du damit?“
„Niemand außer uns dreien kennt die Bedingungen, unter denen deine Transformation stattfindet. Niemand darf herausfinden, dass der Countdown läuft, sobald du deine Körperhülle angenommen hast.“
„Conrad wird wissen wollen, was los ist“, sagte Néomi, um rasch fortzufahren: „Falls er dort ist und falls ich ihn erwecke und falls er sich für sein Benehmen entschuldigt, natürlich.“ Und falls er nicht immer noch dieses verrückte Gefühl hat, hintergangen worden zu sein.
Nïx schnaubte. „Ich bin sicher, damit wirst du schon irgendwie fertig werden, falls du, ach, ich weiß auch nicht … noch ein bisschen länger am Leben bleiben willst.“
„Dann schwören wir jetzt, dass keine von uns je darüber sprechen wird“, sagte Mari. „Wir werden niemandem offenbaren, dass Néomis Zeit hier begrenzt ist oder wie ihre Veränderung vor sich ging. Einverstanden?“
Néomi nickte entschlossen. „D’accord.“
„Einverstanden“, stimmte Nïx zu. „Ich liebe unheilige Bündnisse.“
„Also gut. Das wäre erledigt.“ Mari zog eine kleine Puderdose aus einer anderen Hosentasche. „Und ich bin einsatzbereit. Bist du dir sicher, Néomi?“
Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte auf diese Art weiterexistieren oder auch nur einen einzigen Tag leben? Néomi nickte. „Tun wir’s.“
Mari öffnete die Puderdose in ihrer Handfläche. „Okay. Jetzt kommen wir zur alles entscheidenden Frage.“ Als sie begann, mit dem Daumen über den kleinen Spiegel zu reiben, färbten sich ihre Augen silbern, wurden selbst zu winzigen Spiegeln, in denen sich Néomis erstaunte Miene spiegelte. „Was willst du anziehen?“