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„Wer ist deine beste Freundin, mon grand?“, gurrte sie, während sie zwei Flaschen in der Luft schweben ließ. „Wen liebt Conrad?“

Er kniete am Kamin und kümmerte sich ums Feuer. Die Nacht draußen war stürmisch, aber drinnen würde es sehr behaglich werden.

„Was hast du da?“ Er stand auf, wischte sich die Hände an der Hose ab und setzte sich auf einen der Stühle vor dem Kamin.

„Ein Geschenk für dich.“

„Ein … Geschenk?“ Selbst er merkte, wie überrascht er klang.

Oui. Auch als Gabe bekannt. Oder wie der Franzose sagt: un présent.“

Er nahm die Flaschen von ihr entgegen und wischte den Staub vom Etikett der einen. Gleich darauf sackte sein Unterkiefer nach unten. „Das ist ein Glen Garioch von neunzehnhundertfünfundzwanzig!“ Er zögerte, bevor er das andere Etikett las. „Mein Gott“, flüsterte er. „Macallan, vierundzwanzig. Néomi, das ist Whisky im Wert von ungefähr hunderttausend Dollar. Ich kann das nicht trinken – du könntest es verkaufen. Beziehungsweise es jemanden für dich verkaufen lassen.“

„Was sollte ich denn mit dem Geld anfangen? Ich habe jede Menge davon in meinem Safe. Außerdem bereitet es mir viel mehr Vergnügen, dir beim Trinken zuzusehen.“ Sie schwebte gleich hinter ihm und spähte über seine Schulter, sodass sie ihre leisen Worte direkt in sein Ohr sprach. „Und dann musst du mir den Geschmack beschreiben, ganz langsam, mit deiner tiefen, brummigen Stimme. Ist er rauchig oder eher erdig wie Torf? Wie entfaltet er sich auf der Zunge? Wie lange dauert es, bis sich die Hitze in deinem Körper ausbreitet?“

Sie könnte selbst das Telefonbuch vorlesen, und es würde immer noch erotisch klingen. „Bist du dir sicher?“

„Wohl bekomm’s!“ Sie schenkte ihm ein seltsames Lächeln, als sie hinzufügte: „À ta santé.“ Auf deine Gesundheit.

„Dann möchte ich jetzt trinken und dir beim Tanzen zusehen.“

Sie schien sich sehr über seine Worte zu freuen – von diesem Gesichtsaudruck konnte er nie genug bekommen. „Ich möchte tanzen und meinem Vampir beim Trinken zusehen.“

Mein Vampir … Verdammt noch mal, er mochte es, wenn sie ihn so nannte. Er wusste, dass es nichts weiter als ein Flirt war, konnte aber nichts dagegen machen, dass er vor Freude rot anlief.

Er öffnete den Macallan und ließ ihn atmen. Dann traf ihn der Duft, und seine Lippen kräuselten sich. Das würde kein Whisky sein, den er einfach nur benutzte, wie er es in der Vergangenheit getan hatte. Zum einen brauchte er ihn nicht mehr so sehr, um seine Wut zu dämpfen, wie es früher der Fall war. Wichtiger noch war aber, dass eine Flasche wie diese danach verlangte, gewürdigt zu werden.

„Bin gleich wieder da“, sagte sie und verschwand.

Sofort wurde er nervös, ängstlich, wie jedes Mal, wenn sie ihn allein ließ, aber sie kehrte innerhalb von Minuten zurück und trug über der einen Hand ein Grammofon zum Aufziehen und über der anderen ein kristallenes Glas. Das Glas reichte sie ihm, und dann stellte sie das Grammofon auf dem Fußboden ab. Sobald sie es aufgezogen und die Nadel auf der richtigen Stelle abgesetzt hatte, erklang leicht kratzige Musik – eine langsame Jazzballade.

„Und nun, meine Damen und Herren!“, sagte sie mit der Stimme einer Ansagerin, „unsere Matinee! Die höchst talentierte Miss Laress wird jetzt für unser Publikum auftreten, das sich überaus glücklich schätzen kann! Und aus genau einer Person besteht!“

Sie lächelte schüchtern. „Ich hab mich an einen alten Tanz erinnert, den ich aufgeführt habe, als ich noch jünger war. Ich denke, er wird dir gefallen …“

Während sein überaus seltener Whisky atmete, lehnte sich Conrad in seinem Stuhl vor dem Feuer zurück und betrachtete die schönste Frau, die er je gesehen hatte und die nun ganz allein für ihn tanzen würde.

Obwohl Néomis Wangen sich nicht röten konnten, erschien sie ihm dennoch wunderschön – vor allem wenn sie sich bewegte. Hypnotisierend. Ihr Tanz schien völlig mühelos. Manchmal sah sie ihn mitten in einer Pirouette oder Arabesque an und lächelte ihn an oder zwinkerte ihm zu.

Néomi lebte ganz im Moment, lachte ausgelassen, flirtete ohne Unterlass. Sie war von Natur aus ein glücklicher Mensch, was ihn sowohl anzog als auch verwirrte. Sein ganzes langes Leben lang hatte er diesen Zustand nie kennengelernt. Aber sie hatte dazu eine Theorie: „Viele glauben, das Glück würde ihnen einfach in den Schoß fallen. Aber man muss danach streben. Und manchmal muss man es einfach am Schopf packen, auch wenn es sich mit Händen und Füßen wehrt.“

Néomi war ermordet worden, besaß keinen Körper mehr, und dennoch packte sie so viel Glück, wie sie nur konnte, in ihr Leben. Das nötigte Conrad Respekt ab.

Jetzt tanzte sie, als ob sie instinktiv wüsste, wie sie allein ihn locken könnte. Wie sie für ihn unwiderstehlich werden konnte. Also, warum sollte er versuchen zu widerstehen? Warum gegen diese Anziehungskraft kämpfen?

Weil er sie am Ende doch nur enttäuschen würde, selbst wenn sie seine Gefühle erwiderte.

Hier ging es ihm langsam besser, aber er war keineswegs bei vollem Verstand, litt immer wieder unter Wutanfällen und quälenden Albträumen. Wie würde es werden, wenn er erst einmal in die reale Welt da draußen hinausmusste? Würde es ihm gelingen, sich zu beherrschen und darauf zu verzichten, seine Feinde leer zu trinken, wo er doch süchtig danach war, ihre Macht in sich aufzunehmen?

Seit Jahrhunderten waren seine Widersacher erpicht darauf herauszufinden, woran ihm etwas lag. Aber das war schließlich so etwas wie eine unausgesprochene Regel der Mythenwelt. Unsterbliche konnten dem Tod ziemlich gleichgültig gegenüberstehen, nachdem sie so lange gelebt hatten, also war das beste Druckmittel die Androhung von Vergeltung an der Familie oder anderen geliebten Personen. Doch er war in all den Jahren nie erpressbar gewesen.

Das hatte sich jetzt geändert. Conrad stand kurz davor, ihr mit Haut und Haar zu verfallen

Er schüttelte den Kopf. Nein, seine Feinde konnten Néomi nichts antun, konnten sie weder entführen noch verwunden. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er bei ihr diese ungewöhnliche Gelassenheit empfand, weil er wusste, dass auch er ihr nichts antun konnte. Selbst wenn er freikäme, wäre er nicht imstande, sie versehentlich zu verletzen, wenn er die Selbstbeherrschung verlöre.

Aber wie sollte er freikommen? Nicht einer seiner Brüder war zurückgekehrt, seit dem Tag, an dem er versucht hatte, sie von Néomis Existenz zu überzeugen – dem Tag, an dem sie nach Mount Oblak, der Burg der Devianten, aufgebrochen waren.

Conrad wusste, was das bedeutete.

Möglicherweise hatte Kristoff entdeckt, dass sie Conrad lebend gefangen hielten. Das zweite Gesetz des Deviantenordens? Tötet die Gefallenen, wo immer ihr ihnen auch begegnet. Schon indem sie Conrad am Leben gelassen hatten, hatten sie Hochverrat begangen. Kristoff hatte sie wahrscheinlich auf Mount Oblak eingekerkert und feierlich gelobt, er werde sie freilassen, sobald sie Conrads Aufenthaltsort verrieten.

Was sie niemals tun würden. Trotz all ihrer Fehler waren sie die loyalsten Männer, die man sich vorstellen konnte.

Die andere Möglichkeit? Sie waren im Kampf gefallen. Und Conrad war sich nicht sicher, wie er sich dabei fühlte. Im Verlauf der letzten Woche war ihm sehr wohl bewusst geworden, dass er ohne seine Brüder Néomi nie kennengelernt hätte.

Da er jetzt ein wenig rationaler denken konnte und in der Lage war, einen Großteil seiner Wut zu beherrschen, bedrückte ihn der Gedanke, sie alle drei zu verlieren, überraschend stark.

Mit ihr über die Einzelheiten seiner Vergangenheit zu sprechen, hatte ihn gezwungen, sich bessere Zeiten in Erinnerung zu rufen. Er hatte sich daran erinnert, wie Nikolai ihm immer wieder aus der Patsche geholfen hatte. Er hatte an den Tag zurückgedacht, als die vier Brüder die schicksalhafte Entscheidung getroffen hatten, die Kontrolle über die Verteidigung ihres Landes zu übernehmen: Außer uns schafft das niemand. Conrad erinnerte sich, wie stolz er gewesen war, dass nicht einer von ihnen gezögert hatte.

Sollten seine Brüder noch am Leben sein, wäre er nicht imstande, sie zu vernichten, wie er es eigentlich geplant hatte. Er wollte nichts mit ihnen zu tun haben, aber töten konnte er sie nicht …

„Möchtest du den Whisky denn gar nicht probieren?“, fragte sie, als sie in ihrem Tanz kurz innehielt.

„Was? Ja.“ Er hatte vorgehabt, ihn für jedes „Lebensjahr“ wenigstens eine Minute lang atmen zu lassen, aber sie sah so erwartungsvoll aus. Er schätzte, dass eine gute halbe Stunde ausreichen dürfte und der Geschmack würde mit der Zeit nur noch an Komplexität zunehmen. Also goss er sich einen Schluck ein und ließ ihn im Glas herumwirbeln.

Dann nahm er den ersten Schluck. Nur mit Mühe konnte er verhindern, dass sich seine Augen vor Genuss schlossen. „Mein Gott, so sollte es immer sein.“ Das Aroma war belebend und weich zugleich, seine Bestandteile ergänzten einander perfekt und waren doch deutlich unterscheidbar.

„Ist er besser als das, was du sonst trinkst?“

„Meinst du Whisky oder Blut?“, fragte er.

„Beides.“

„Dieser Whisky stellt alle anderen in den Schatten – und er ist auch besser als das Blut, das ich in letzter Zeit getrunken habe.“

Conrad wusste instinktiv, dass dieses Blut keinem Vergleich mit dem ihren standhalten würde.

Bien“, sagte sie und setzte ihren Tanz fort.

Während sein Blick ihr folgte, fragte er sich, wie es wäre, ihre blasse Haut mit seinen Fängen zu durchbohren. Wenn sie eine Frau aus Fleisch und Blut wäre, wie wäre es wohl, ihre Brüste mit beiden Händen zu umfangen und gleichzeitig an ihrem Hals zu saugen?

Noch nie hatte er die Brüste einer Frau berührt. Er versuchte häufig, sich vorzustellen, wie sich Néomis anfühlen würden, nachdem er sie zu Gesicht bekommen hatte. Sie würden sich weich an seine rauen Handflächen schmiegen, unter seinem Griff leicht nachgeben …

Er hatte sich immer nach einer Frau gesehnt, die nur ihm allein gehörte. Er hatte davon geträumt, sie tagelang nicht mehr aus dem Bett aufstehen zu lassen, wo er sie erforschte, entdeckte, wie er ihr Vergnügen bereiten konnte. Er hatte sich gewünscht zu lernen, wie er seine Frau dazu bringen könnte, sich nach ihm zu sehnen, wenn er sie verließ, und dass sie laut seinen Namen rief, wenn er in sie eindrang.

Mit einer sinnlichen Stimme mit kaum merklichem französischen Akzent.

Mit einem Mal überschlugen sich die Bilder in seinem Kopf – wie er ihren Hintern knetete, während er gleichzeitig an ihren Brustwarzen saugte. Wie er ihren zarten, blassen Körper stundenlang mit Zärtlichkeiten verwöhnte, bis sie wieder und immer wieder für ihn kam …

„Du wirkst zufrieden, mon trésor.“

Er hüstelte in seine Faust. „Ich muss sagen, ich war schon in schlimmeren Gefängnissen.“ Und es schadete nicht, so eine begehrenswerte Zellengenossin zu haben. Obwohl sein Verlangen, sich um Tarut zu kümmern, mit jeder Stunde dringender wurde, und ihn vielversprechende Jagdgründe erwarteten, musste er feststellen, dass die Vorstellung, sie auch nur für kurze Zeit zu verlassen, ihn nervös machte.

Plötzlich wirbelte sie herum, und ein knisternder Kuss streifte seine Wange. Er kniff die Augen argwöhnisch zusammen, aber sie lachte nur.

„Das nennt man Zuneigung. Los, sag es mit mir zusammen: Zu-nei-gung.“

Er war davon ausgegangen, dass sie mit ihm flirtete, weil es in ihrer Natur lag. Konnte es sein, dass sie … konnte es sein, dass sie sich tatsächlich für ihn interessierte? Sich sogar zu ihm hingezogen fühlte? Mitsamt seinen Narben und den roten Augen? Vielleicht sehnte sie sich nach mehr, genau wie er.

Aber schließlich gab es sonst auch niemanden, zu dem sie sich hätte hingezogen fühlen können. Er war hier absolut konkurrenzlos.

„Warum solltest du mir ein Zeichen deiner Zuneigung geben?“

„Weil ich … Zuneigung verspüre?“, erwiderte sie.

„Warum?“

„Warum, warum, warum?“, fragte sie mit einem Lachen. „Musst du immer alles Gute infrage stellen?“

„Ja, wenn es unlogisch ist. Du weißt nichts über mich …“

„Ich weiß mehr über dich als jede andere Frau, n’est-ce pas? Du musst nicht erst all deinen Mut zusammennehmen, um mir deine Geheimnisse anzuvertrauen, während du insgeheim hoffst, dass ich nicht schreiend davonlaufe, weil ich sie bereits alle kenne. Ich bin immer noch hier.“ Ihre Augen leuchteten und ihr Mund lächelte. „Und ich weiß, dass du mein allerliebster Mann bist. Dans le monde entier.“

„Weil ich der Einzige auf der ganzen Welt bin, der dich sehen und hören kann.“

Sie zuckte wieder nur auf geheimnisvolle Weise mit den Achseln. Er wusste, dass sie vermutlich bloß mit ihm spielte; ihre Koketterie war sicherlich bedeutungslos. Aber ihre Worte gingen ihm verdammt noch mal an die Nieren. Es wurde immer einfacher so zu tun, als ob ihre Gefühle real wären.

„Du weißt gar nicht, was du mit Zuneigung anstellen sollst, stimmt’s?“

„Ich … habe keine Ahnung“, gab er zu. „Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mich verhalten soll. Die ganze Sache gibt mir das Gefühl, schwach zu sein. Manchmal bist du es, die mir dieses Gefühl gibt.“

„Ich werde niemals begreifen, wie sich ein so starker Mann wie du schwach fühlen kann. Das bringt mich durcheinander. Was soll ich deiner Meinung nach ändern, damit du dich nicht mehr so fühlst?“

Er rieb sich mit der Hand das Gesicht und bemühte sich, die rechten Worte für seine Gefühle zu finden. „Manchmal fühle ich mich unsicher in deiner Gegenwart, weil du und alles, was du tust, mir so fremd ist.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Dein Lachen. Es kommt mir so vor, als ob du jede Sekunde des Tages nur in der Erwartung eines Augenblicks verbringst, in dem du lachen oder jemanden necken kannst.“

„Das klingt ja très terrible. Wie hältst du es bloß mit mir aus? Das muss wohl an deiner engelsgleichen Geduld und Gelassenheit liegen.“ Sie schenkte ihm nach.