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Wenn man wahnsinnig ist, ist es am besten, die Dinge nach Möglichkeit zu vereinfachen.

Um in seinem Leben zurechtzukommen, hatte Conrad seine Existenz in ein System aus Belohnungen und Hindernissen auf dem Weg zu Belohnungen umstrukturiert. Er hatte die Belohnung identifiziert, die er sich wünschte: Néomi in Fleisch und Blut, bereit für ihn.

Die Hindernisse: seine Gefangenschaft, ihr fehlender Körper und möglicherweise Taruts Fluch.

Im Grunde genommen verfügte Conrad jetzt über eine Liste von Dingen, die er zu erledigen hatte – eine ziemlich kurze Liste: Freikommen, Tarut umbringen. Herausfinden, wie man Néomi wiederauferstehen lässt.

Letzteres war durchaus nicht unmöglich. Conrad musste nur den richtigen Zauberer finden und ihn zwingen, zu tun, was er wollte. Er wusste, dass es auf der ganzen Welt und in allen anderen Dimensionen nur einige wenige gab, die dazu fähig waren, Wesen wiederauferstehen zu lassen. Und noch weniger, die willens waren, es zu tun.

Was seine Gefangenschaft betraf – es war doch so: Seine Brüder würden nicht zurückkommen, zumindest nicht allzu bald. Nicht ehe der Krieg vorbei war. Falls sie den überlebten.

Konnten die Walküren Mount Oblak erobern? Das war sicherlich möglich. Aber sie würden Zeit für die Vorbereitungen brauchen. Zeit, die er nicht hatte. Sein Blutvorrat war nicht unerschöpflich, und außerdem hing die Bedrohung, die Tarut darstellte, wie eine düstere Wolke über ihm.

Noch heute Abend würde Conrad anfangen, seine Liste abzuarbeiten.

Als er an diesem Abend aufgewacht war, hatte Néomi ihm einen Becher voll Blut gebracht und sich dann auf die Suche nach ihrer Zeitung gemacht. Gut. Er wollte sie nicht in seiner Nähe haben. Er nahm ein Badetuch und ging die Treppe hinunter.

Auf die eine oder andere Weise würde sich Conrad von den Ketten befreien. Zerstören konnte er sie nicht, also blieb ihm nur eine andere Möglichkeit. Er hatte in dem alten Werkzeugschuppen eine alte Holzfälleraxt gefunden und dahinter einen Holzklotz.

Wenn er reichlich Blut zu sich nahm, würde sich eine Hand in drei, vier Tagen regenerieren. Er würde sie sich natürlich nacheinander vornehmen, also würde die Regeneration insgesamt wenigstens sechs Tage dauern. Und das bedeutete, dass er die Versammlung verpassen würde, und damit ein vielversprechendes Jagdrevier. Aber ohne Hände zu töten, könnte ein wenig problematisch werden …

Auf einmal hörte er … das Klingeln eines Telefons? Er runzelte die Stirn und rannte los, dem schwachen Klang hinterher, bis er in ein kleines, abgelegenes Wohnzimmer im Erdgeschoss gelangte.

Das Klingeln schien aus der Wand zu kommen. Er warf sich das Handtuch über die Schulter und hob die gefesselten Hände, um mit den Handflächen gegen die Wand zu schlagen – es klang hohl. Er verzog die Lippen. Eine Geheimtür. So etwas hatte er in älteren Häusern schon öfters gesehen.

Nachdem er festgestellt hatte, wo sich die Ecken befanden, suchte er sorgfältig nach dem Öffnungsmechanismus. Vielleicht in der Verkleidung? Er tastete über das schmutzige weiße Holz. Da ist es. Als er daraufdrückte, hörte er ein leises Klicken.

Er schob die Tür auf und stellte fest, dass dahinter Zeitungen aufgestapelt waren, aber Néomi würde schließlich auch nicht durch eine geöffnete Tür eintreten müssen.

Drinnen angekommen, kniff er die Augen zusammen. Bei dem Zimmer handelte es sich um ein Studio, ihr Tanzstudio, mit an den Wänden befestigten Stangen und Spiegeln an allen Seiten. Das ist also ihr Geheimversteck. Hierhin zieht sie sich zurück.

Man sah dem Raum an, dass er von einer Frau genutzt wurde. Er war in – mittlerweile verblassten – Rosa- und Rottönen gehalten, voller Seide und sich auflösender Spitze. Aber sämtliche Spiegel waren zerbrochen, und das Muster der Splitter deutete darauf hin, dass sie jemand mit einem Fausthieb – oder einem Schlag telekinetischer Energie – zerstört hatte.

An der gegenüberliegenden Wand stand eine schmale Liege, mit Decken ausgepolstert, die sie niemals wärmen würden. Ein unbenutztes Paar Ballettschuhe lag darauf, als ob es jemand achtlos dorthin geworfen hätte. Neben einem Tresor auf dem Boden entdeckte er einen ansehnlichen Haufen Kieselsteine und einige übereinandergestapelte Kisten alkoholischer Getränke.

Auf einem Tisch sah er jede Menge Krimskrams, der mit äußerster Sorgfalt drapiert worden war, als ob es sich dabei um Kostbarkeiten handelte. Unter den Gegenständen befanden sich Sebastians Geldclip, Nikolais inzwischen verstummtes Handy und die Haarspange aus Murdochs Tasche. Néomi hatte die Spange wahrscheinlich aufgehoben, weil sie sie hübsch fand.

Sie wird Tausende davon haben.

Ganz zufällig war er auf das Nest eines kleinen Geistes gestoßen, angefüllt mit Tand, den sie den Lebenden gestohlen hatte, um eine Verbindung zwischen sich und ihnen herzustellen. Benommen ließ er sich auf das Bett sinken. Das ist alles, was sie hat. Für sie ist Elancourt die ganze Welt.

Und du hast gedroht, es niederzubrennen.

Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, hier eingesperrt zu sein, wenn sie sich in der jeweils umgekehrten Lage befinden würden. Sicher, auch er war eingesperrt, aber er hatte immer gewusst, dass er früher oder später wieder frei sein würde.

Kein Wunder, dass sie so sehr an ihm festgehalten hatte. Sie musste verzweifelt gewesen sein.

Dann stieß er mit dem Absatz seines Stiefels gegen etwas. Als er sich bückte, fand er ein in Leder gebundenes Album. Er wischte eine Staubschicht weg und öffnete es trotz des protestierenden Knirschens des Leders.

Die Seiten waren deutlich beschriftet, der Inhalt – Programmhefte und Artikel über ihren Erfolg – sorgfältig mit Wachs umrandet.

Er blickte auf. Er hatte das Gefühl, sie müsse gleich vor ihm erscheinen und anfangen, ihn wegen unerlaubten Betretens ihres geheimen Zimmers auszuschimpfen, aber zweifellos war sie hinter dieser Zeitung her wie ein halb verhungerter Terrier hinter einem Knochen. Also fing er an zu lesen …

Einer der Artikel trug die Überschrift Niedergang des Balletts? Nicht länger nur für die kulturelle Elite. Néomi hatte dafür gesorgt, dass für Kinder aus dem Französischen Viertel und aus Storyville bei ihren Auftritten Plätze reserviert wurden.

Einem anderen Artikel zufolge hatte Miss Néomi Laress mitsamt ihrer Clique wiederholt gegen die Gesetze von Schicklichkeit und Anstand des Bezirks New Orleans verstoßen.

Russischer Prinz macht einheimischer Ballerina den Hof lautete eine andere Schlagzeile. Conrads Finger gruben sich tief ins Leder. Immer diese verdammten Russen!

Als der Interviewer Néomi fragte, ob sie wohl in absehbarer Zeit nach Moskau umziehen würde, hatte sie geantwortet: „New Orleans verlassen? Niemals, und ganz besonders nicht für einen Mann, mag er ein Prinz sein oder nicht. Diese Stadt liegt mir im Blut.“ Zumindest hatte Néomi damit hellseherische Kräfte offenbart. Nicht mal der Tod konnte sie dazu bewegen, New Orleans zu verlassen.

Warum sollte sie sich bloß für Conrad entscheiden, wenn sie sogar einem Prinzen einen Korb gegeben hatte? Enttäuschung legte sich auf ihn wie ein Gewicht, das seine Brust erdrückte. Sie hatte gesagt, sie seien zu verschieden. Er fragte sich, ob sie ihm, wäre die Situation eine andere gewesen, auch nur einen zweiten Blick gegönnt hätte.

Andererseits war in Russland jeder ein Prinz!

Gerade als er das Album beiseitelegen wollte, entdeckte er einen Artikel ganz weit hinten, der ungeschickt befestigt worden war und sich ohne die Wachsbehandlung teilweise schon auflöste. Mit hochgezogenen Brauen las er, soweit er dazu in der Lage war:

Berühmte Ballerina von verschmähtem Ölmillionär brutal ermordet

Néomi Laress, eine schillernde und angesehene Bürgerin von New Orleans, starb Samstagabend in ihrem Haus, als Louis Robicheaux, einer der begehrtesten Junggesellen der Stadt, ihr ein Messer in die Brust stieß. Gleich darauf richtete er die Klinge gegen sich selbst und schlitzte sich die Kehle auf.

… aus einer geheimnisumwitterten Vergangenheit erhob sich Laress in die Ränge der professionellen Tänzerinnen und gewann landesweit Anerkennung als Primaballerina …

„Es war schrecklich“, berichtete einer der Zeugen, der aufgrund der Tatsache, dass auf der Party Alkohol ausgeschenkt wurde, anonym bleiben möchte. „Sie atmete noch, als er das Messer in ihrer Brust herumdrehte und ihr befahl, sie solle es für ihn fühlen! Überall war Blut, sie war von oben bis unten voll davon. Ich dachte, ich würde in Ohnmacht fallen.“

Conrads bebende Hände verkrampften sich um die Seiten des Albums. Er starrte in einen der Spiegel, und seine Augen waren röter, als er es je zuvor gesehen hatte.

Nicht nur, dass er sie ermordet hatte, dieses Ungeheuer hatte auch noch dafür gesorgt, dass sie … litt. Conrad hatte gewusst, dass sie erstochen worden war, hatte sich schon tausend Mal ihren Schmerz vorzustellen versucht, aber niemals hätte er sich vorstellen können, dass jemand dazu fähig wäre, das Messer zu ergreifen und es in Néomis zarter Brust herumzudrehen – und ihr dabei zu befehlen, den Schmerz für ihn zu fühlen.

Und ich kann diesen elenden Mistkerl nicht mal mehr abschlachten.

Wie betäubt nahm er einen ihrer winzigen Ballettschuhe in die Hand und strich mit dem Daumen über die Seide. Ihr Tod war grauenhaft gewesen, ihr Leben nach dem Tode unglücklich; aber er konnte dafür sorgen, dass ihre Zukunft eine bessere sein würde.

Sobald er freikäme.

Selbst wenn sie ihn nicht so begehrte wie er sie, war sie ein guter Mensch und verdiente Besseres, jedenfalls mehr Freundlichkeit, als er ihr hatte zuteil werden lassen.

Mit neuer Entschlossenheit legte er den Schuh weg und verließ das Zimmer. Als er den Hackklotz erreichte, packte er mit festem Griff die Axt. Diese Operation würde wegen seiner Ketten problematisch werden, aber er glaubte doch, für einen sauberen Schlag ausreichend Schwung holen zu können.

War dies ein weiterer Beweis für seinen Wahnsinn? Nein. Er würde es für sie tun. Also, worauf wartest du dann noch?

Er hob die Axt und betrachtete seine Hand ohne jede Gefühlsregung.

Ein Hindernis.