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„Bilde ich mir das nur ein oder scheint es ihm besser zu gehen?“, fragte Nikolai, nachdem sich die drei ins Zimmer transloziert hatten.

„Er scheint nicht mehr so … durcheinander zu sein“, sagte Sebastian.

So als ob er ihnen das Gegenteil beweisen wollte, begann Conrad in einer Sprache, die Néomi noch nie gehört hatte, unverständlich vor sich hin zu murmeln, und sein Blick schoss zum Fenster.

„Warum versuchst du nicht mal, allein mit ihm zu reden?“, fragte Murdoch. Auf Nikolais Nicken hin verließen Murdoch und Sebastian das Zimmer.

Nikolai stellte die Thermosflasche auf den Nachttisch, zog sich einen Klappstuhl heran und drehte ihn um, sodass er sich rittlings darauf setzen konnte. Néomi liebte es, wenn Männer sich auf diese Weise hinsetzten. Mit leiser Stimme begann er zu sprechen.

„Wo bist du gewesen, Bruder?“

Bruder. Die Vorstellung, dass Conrad ein Teil dieser Familie war, erstaunte sie nach wie vor. Sebastian schien so entschlossen und lernbegierig, Murdoch war ruhig und geheimnisvoll, und Nikolai war so respekteinflößend wie der General, der er tatsächlich war. Im Gegensatz dazu war der Wahnsinnige aggressiv und erschien ihr unehrenhaft, wie jemand, der in einem Duell zwischen Gentlemen seinem Gegner Dreck in die Augen schleudern würde.

„Was willst du von mir?“, stieß Conrad mit krächzender Stimme hervor. „Warum habt ihr mich nicht getötet?“

Von dieser Reaktion offensichtlich überrascht, sagte Nikolai: „Das ist nicht unsere Absicht.“

„Was dann? Mich unter Drogen zu setzen und verhungern zu lassen?“

Nikolai erhob sich mit einem Ruck und griff nach der Thermoskanne. „Ich habe hier Blut. Willst du trinken?“ Rasch öffnete er den Deckel und goss etwas davon in die daran befestigte Tasse.

Néomi sah die zähflüssige dunkle Flüssigkeit. Als sie das glucksende Geräusch hörte, fragte sie sich, ob es ihr wohl möglich wäre, sich zu übergeben.

„Du gibst mir Blut zu trinken.“ Conrads Stimme war schneidend. „Aber das ist ja nichts Neues.“

Nikolai schien bei diesen Worten nur mit Mühe ein Zusammenzucken unterdrücken zu können, doch dann hielt er Conrad die Tasse an die Lippen.

Trinken. Blut. Conrad akzeptierte es folgsam und nahm einen tiefen Schluck.

Ich möchte mich übergeben.

Er spuckte es Nikolai mitten ins Gesicht. Dann lachte er, ein rauer, unheilvoller Laut. In seinen roten Augen stand ein derart beißender Hass, dass ihn wohl nur der Tod beenden könnte, dachte Néomi.

Nikolai wischte sich das Gesicht mit einem Hemdzipfel ab. Seine fast schon überirdische Geduld schien keine Grenzen zu kennen. Néomi fühlte mit ihm. Wie sehr musste ihm sein Bruder am Herzen liegen, um etwas Derartiges zu erdulden. Nikolai schien ihr nicht gerade der friedfertigste Mann auf Erden zu sein.

Natürlich gab Néomi sich keine Mühe, ihre angewiderte Miene zu verhehlen. Seltsam … Als Conrads Blick in ihre Richtung zuckte, hätte sie schwören können, dass seine Unruhe noch weiter anwuchs. Dann wanderte sein Blick wieder zum Fenster.

„Blut aus dem Beutel ist alles, was du bekommen wirst“, sagte Nikolai. „Wenn du es nicht trinkst, musst du eben ohne auskommen.“

„Ich jage. Ich trinke direkt aus der Ader. Im Gegensatz zu euch entmannten Verrätern“, stieß Conrad hervor, der seinem Bruder jetzt wieder das Gesicht zuwandte. „Ich weiß, dass ihr mich vor eurem König versteckt. Eurem russischen König. Er wird dich dafür hinrichten lassen – Lieblingsgeneral hin oder her.“

„Schon möglich. Dann kennst du also das Risiko, dass wir eingehen.“

„Warum?“

„Wir möchten dir helfen …“

„So wie das letzte Mal!“, brüllte Conrad. Er bäumte sich wild in den Ketten auf, die ihn ans Bett fesselten, seine unglaublichen Muskeln zum Zerreißen angespannt.

Unbeeindruckt fuhr Nikolai fort. „Wir werden dir dabei helfen, gegen deine Blutgier anzukämpfen.“

„Niemals.“ Conrads blutige Eckzähne schienen spitzer zu werden. „Keiner kommt je zurück. Das Rot in meinen Augen wird niemals verschwinden.“

„Das würde es schon, wenn ich dich ausbluten ließe, wenn ich deinen Körper bis auf den letzten Tropfen entleeren würde. Aber du würdest nur wieder in deinen vorherigen Zustand zurückkehren wollen, und dein Wunsch zu töten wäre noch stärker als zuvor. Und du würdest all die Macht verlieren, die du angehäuft hast.“

„Das weiß ich!“

„Wusstest du dann auch, dass du lernen kannst, die Erinnerungen zu kontrollieren, wenn du nicht ständig neue hinzufügst?“ Auf Conrads leicht überraschte Miene hin fuhr Nikolai fort: „Wir wissen von den Erinnerungen. Sie sind eine Krankheit. Du kannst nicht zwischen denen deiner Opfer und deinen eigenen unterscheiden. Sie verursachen ständige Halluzinationen, und dein Kopf fühlt sich an, als ob er gleich explodieren würde.“

Was hatte das zu bedeuten? Conrad war krank? Gab es für seinen Wahnsinn tatsächlich einen medizinischen Grund?

„Aber was wäre, wenn du sie an- und abschalten könntest, ganz nach Belieben auf sie zugreifen könntest?“, fragte Nikolai. „Was glaubst du, wie viel besser könnte dein Leben sein, wenn sie dich nicht mehr quälen? Wenn wir es schaffen, dich zu stabilisieren, kannst du lernen, sie in Schach zu halten.“

Conrad schüttelte schroff den Kopf. „Ich will Blut aus der Ader. Nur aus der Ader …“

„Darum werden wir dir dabei helfen, deine Braut zu finden. Denn es gibt einen Trieb, der stark genug ist, um es mit der Blutgier aufzunehmen.“

Seine Braut? Meinte Nikolai damit das Bedürfnis nach Sex?

„Und das Verlangen zu töten?“, stieß Conrad hervor. „Ich genieße es … ich sehne mich in ebendiesem Augenblick danach, deinem Leben ein Ende zu machen.“

„So wie es einen Antrieb gibt, der die Blutgier überwinden kann, gibt es auch ein Verlangen, das stärker ist als das, zu töten.“

„Und das wäre?“, fragte Conrad höhnisch.

„Du wirst es erkennen, wenn du es erlebst“, erwiderte Nikolai schlicht.

Conrad sah wieder zum Fenster. „Was ist in den Spritzen, die ihr mir gebt?“

Wenn er sprach, stutzte er manchmal. So als ob er es selbst nicht fassen könnte, dass das, was er eben gesagt hatte, tatsächlich vernünftig klang. Er musste schon für sehr lange Zeit wahnsinnig sein.

„Eine Seherin hat es für uns von den Hexen besorgt. Es ist eine Art Beruhigungsmittel. Es wird dich auch weiterhin körperlich schwächen, aber nach ein paar Tagen solltest du zumindest nicht mehr unter dieser starken Benommenheit leiden.“

Conrads Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf seinen Bruder, als er ausstieß: „Ihr habt kein Recht, mich unter Drogen zu setzen!“

„Wir tun, was immer nötig ist“, sagte Nikolai mit Stahl in der Stimme. „Du warst ein guter Mann, und das kannst du auch wieder sein.“

„Kein Mann! Nicht mehr!“ Er knirschte mit den Zähnen. „Ich bin ein Mörder, sonst nichts.“

„Die meisten Angehörigen der Mythenwelt sind davon überzeugt, dass du verloren bist. Dass rote Augen automatisch bedeuten, dass wir keine andere Wahl haben, als dich zu töten. Ich stimme dem nicht zu. Hör auf meine Worte, Conrad. Auf die eine oder andere Weise wirst du geheilt werden“, schwor Nikolai mit grimmiger Stimme. Seine grauen Augen verfärbten sich schwarz, wie um seine Gefühle zu unterstreichen.

Ganz egal, was passierte, sie wusste, dass Nikolai seinen jüngeren Bruder aufrichtig liebte.

„Uns stehen Ressourcen zur Verfügung, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst.“

Nikolais Antwort schien gerade kryptisch und selbstbewusst genug zu sein, um Conrad zu reizen.

„Und wie lange genau soll ich hier unter Drogen gefangen gehalten werden?“

„Einen Monat. Wir werden dich einen Monat lang davon abhalten zu töten. Wenn sich bis dahin keine Veränderung gezeigt hat, werden wir … die Lage neu einschätzen.“

Jegliches Interesse in Conrads Gesicht verschwand. „So viel Zeit habe ich nicht.“

„Wieso? Was meinst du?“

Conrad antwortete nicht. Er schien sich in seinen eigenen Gedanken zu verlieren, und seine roten Augen jagten wieder in ihre Richtung. Sie hätte schwören können, dass er begonnen hatte, ihren Bewegungen zu folgen, also schwebte sie zum Fenstersitz. Aber er starrte weiterhin auf den Fleck, an dem sie sich eben noch aufgehalten hatte.

Sie erkannte genau den Moment, in dem Nikolai bewusst wurde, dass er nicht weiterkommen würde. Die Enttäuschung ließ ihn förmlich in sich zusammensinken. Mit einem ernsten Nicken in Conrads Richtung translozierte er sich hinaus, und Sekunden später erschien Murdoch. Er drehte den Klappstuhl um, setzte sich darauf und beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt.

„Wir haben dich vermisst, Con“, sagte er ruhig. Dieser Mann erschien Néomi müde und erschöpft, wie jemand, der sich auf eine lange, anstrengende Reise begeben hatte. Und sein Gesichtsausdruck zeigte, dass er eben erst, in genau diesem Augenblick, festgestellt hatte, dass er noch nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatte.

„Ich weiß, du hasst uns dafür, was wir dir angetan haben“, sagte er. „Aber das können wir nicht mehr rückgängig machen.“

Was hatten Nikolai und Murdoch bloß getan? Diese Untertöne, die Spannungen, die unausgesprochenen Worte … Sie musste zugeben, dass sie das alles überaus faszinierte.

„Ganz gleich, wie du uns behandelst, Nikolai wird nicht aufgeben. Nicht ehe er davon überzeugt ist, dass für dich jede Rettung zu spät kommt.“

Conrad lächelte. Seine Zähne waren immer noch blutbefleckt, die Fänge ausgefahren – das bedrohlichste Lächeln, das Néomi je gesehen hatte. Sie erschauerte.

„Dann überzeuge ihn, Bruder. Es gibt keinen Weg, mich von dem Bösen zu erlösen.“