27
Innerhalb von Sekunden brach das Chaos aus.
Der Kampf breitete sich mit der Geschwindigkeit eines Buschfeuers in dürrem Gras aus. Kreaturen veränderten sich, Augen wechselten die Farbe, Verhaltensweisen verkehrten sich ins Gegenteil, Waffen tauchten scheinbar aus dem Nichts auf.
Irgendwie war es den zarten Nymphen gelungen, unter ihren durchsichtigen Röcken Dolche zu verbergen, die sie jetzt mit lautem Kampfgeschrei schwangen. Etwas weiter weg sah Néomi Cade und Rydstrom mit Breitschwertern kämpfen. Die Sirenen fummelten an ihren Stimmenmodulatoren herum, sodass sie in der Lage waren, Schreie auszustoßen, die ihre Feinde mit blutenden Ohren zu Boden schickten.
Néomi entdeckte Mari und Bowen, die auf sie zu eilten.
„Bleib, wo du bist!“, rief Mari.
„Oui“, sagte sie schwach. Sie war zu entsetzt, um sich zu bewegen.
Aber dann wurde Mari von einem verirrten Ellbogen getroffen und durch die Luft geschleudert. Bowen rastete aus und begann sogleich, seine Werwolfgestalt anzunehmen. Néomi blieb bei diesem Anblick die Luft weg. Grauenhaft. Sie war froh, dass der Lykae sie vergessen hatte – bis die rasende Menge sie einschloss.
Wie hatte sie sich bloß einbilden können, dass sie damit fertig werden könnte? Ein versehentlicher Stoß mit dem Ellbogen würde die unsterbliche Mari nicht umbringen, aber Néomi vielleicht schon. War das der Zeitpunkt, zu dem das Schicksal sie beseitigen würde? So bald?
Sie versuchte sich zu ducken und zu flüchten, wurde aber im Strom der aufgeregten Kreaturen immer wieder aufgehalten. Mit jeder Brandung wurde sie näher an das Feuer herangeschoben. Die Band spielte indes weiter, anscheinend genauso selbstvergessen wie ihre Kollegen auf der Titanic.
Dann sah sie ihn.
Er war auch schwer zu übersehen, wie er auf sie zustürzte und die meisten anderen überragte. Er trug eine dunkle Sonnenbrille, aber sie wusste, dass seine Augen unumwunden auf sie gerichtet waren.
Ohne auch nur den geringsten Umweg in Kauf zu nehmen, kam er auf sie zu und überrannte jeden, der es wagte, ihm in die Quere zu kommen.
Sie hatte noch nie jemanden gesehen, der so kämpfte wie er, so methodisch und zugleich brutal – so routiniert. Seine Fänge waren rasiermesserscharf, die Muskeln in Hals und Brust zum Zerreißen gespannt.
Wenn ein Krieger es wagte, sich zu wehren, drehte er ihm den Hals um oder setzte ihn mit einem Rückhandschlag außer Gefecht. Gott sei Dank hatte seine Hand sich regeneriert …
Eine Faust traf ihn mit zerschmetternder Wucht ins Gesicht. Seine Sonnenbrille flog davon, aber er hielt nicht eine Sekunde inne.
Dieser wilde Unsterbliche, dessen pechschwarzes Haar sein Gesicht umpeitschte. Sie fühlte eine Welle des Stolzes in sich aufbranden, dass ein solcher Mann zu ihrer Rettung eilte.
Er will mich. Diese brennenden, blutgefüllten Augen waren unerschütterlich auf sie gerichtet. Er sah sie an, als ob sie die Seine wäre, nur die Seine. Er hatte davon gesprochen, dass er als Vampir über neue Instinkte verfügte, tierische Instinkte. Niemand konnte missverstehen, was seine Augen ausdrückten …
Jeder, der ihn von dem fernhielt, was sein war, würde sterben.
Conrad konnte es nicht riskieren, sich zu ihr zu translozieren – sie war ein bewegliches Ziel mitten im Schlachtgewühl. Ich darf sie nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen lassen. Muss schneller rennen, härter kämpfen …
Auf einmal stolperte er. Er hatte das Gefühl, unter seinen Füßen sei gerade eine Mine hochgegangen. Er richtete sich wieder auf, senkte das Kinn und stürmte wieder auf sie los.
Eine weitere Explosion, er taumelte nach vorne und verlor sie für einen Moment aus den Augen. Was zum Teufel ist hier los?
Sein Mund öffnete sich, als er begriff. Immer wieder donnernde Explosionen wie von Bomben.
Néomi – sie ist es.
Das dröhnende Donnern schien einen Rhythmus einzuhalten – sein … Herzschlag. Conrad hörte zum ersten Mal seit dreihundert Jahren sein Herz schlagen.
Mein! Noch im Rennen fühlte Conrad den wilden Triumph. Seine Lungen begannen sich auszudehnen, erwachten zu neuem Leben. Sie holte ihn ins Leben zurück. Nur noch drei Meter von ihr entfernt, nur noch ein Hindernis …
Sein Körper wurde mit der Gewalt eines Güterzuges zu Boden geschleudert. Er wurde von starken Händen ergriffen, die ihn wieder auf die Füße zerrten. Zwei Dämonen hielten ihn fest. Néomi beobachtete das Ganze entsetzt. Vorerst in Sicherheit.
Schwach … kann sie nicht abschütteln. Während der Erweckung war er wertvolle Sekunden lang verwundbar. Kann mich nicht losreißen.
„Ein rotäugiger Gefallener in New Orleans“, sagte Cadeon der Königsmacher, der jetzt vor Conrad trat. „Bist du derjenige, der den Kriegsherren ausgesaugt hat?“
Conrads Brust hob und senkte sich, als er Luft einsog. Mit jedem Atemzug kehrte seine Kraft zurück, ja, er fühlte sich sogar noch stärker als zuvor. Eine Energie, die er sich niemals hätte vorstellen können, schoss durch seinen Körper.
„Du musst schon ein bisschen konkreter werden, Cadeon“, höhnte er. „Von der Sorte gab es mehrere.“
„Wir haben dich gesucht, Vampir.“ Die Augen des Dämons waren jetzt vollkommen schwarz, seine bedrohlich gewachsenen Hörner begradigt. Den Zustand besinnungsloser Wut hatte er allerdings noch nicht erreicht.
Conrad hörte Néomi „Mère de Dieu“ murmeln. Dabei war Cadeon noch weit entfernt davon, seine volle Dämonengestalt anzunehmen. Wenn man diese sah, bedeutete das für gewöhnlich, dass man nicht mehr lange zu leben hatte.
Endlich normalisierte sich Conrads Atmung, und sein Herz zeigte ihm mit tosenden Schlägen seine Bereitschaft an … Mit einem Ruck streckte er die Arme aus und schleuderte die, die ihn festhielten, davon. Dann stürzte er sich auf Cadeon. Er umklammerte die Kehle des Dämons mit beiden Händen und drückte mit all seiner durch die Erweckung neu gewonnenen Kraft zu.
Durch Conrads Adern schien pure Kraft zu pulsieren. Sein Gesichtsfeld färbte sich rot. Das Verlangen zu trinken und zu töten war unleugbar. Es gab keinen Weg zurück aus dem Stadium der Blutgier, seine Brüder hatten sich geirrt. Er hatte Böses getan und würde es auch in Zukunft tun. Er schleuderte Cadeon zu Boden, sodass dieser kurz das Bewusstsein verlor.
Conrad konnte das Blut des Dämons riechen, konnte sein Herz hören. Noch mehr Kraft – ich muss sie mir nur nehmen. Er wurde jetzt vollkommen von seinem Instinkt beherrscht. Er packte Cadeons Kopf und riss ihn zurück, um den Hals zu entblößen.
Cadeons Haut verfärbte sich zu einem dunklen Rot. Die Fänge oben und unten in seinem Mund wuchsen. Der Dämon befand sich im letzten Stadium der Wandlung, aber es war zu spät …
„Conrad, nicht.“
Als er aufblickte, sah er in Néomis weit aufgerissene Augen. Conrad war sich nur allzu bewusst, wie er in ihren Augen aussehen musste, mit triefenden Fängen, glühenden Augen und dem Wahnsinn nah, in seiner Gier nach Blut. „Jetzt weißt du, was ich bin.“ Er senkte den Kopf, um es zu Ende zu bringen.
„Jetzt weiß ich, was du warst. Conrad, bring mich bitte nach Hause.“
Das Verlangen zu beschützen. Er zögerte, über den Hals des Dämons gebeugt. Stärker als das Verlangen zu töten.
Wenn du mich in einem Anfall von Blutgier zu Gesicht bekommen hättest, würdest du mich ebenfalls für ein Ungeheuer halten.
Conrad hatte nicht übertrieben. Wenn Néomi ihn nicht gekannt hätte, wäre sie vor Angst außer sich gewesen. Aber sie kannte ihn, und ihr wurde klar, dass er sich um ihretwillen zurückgehalten hatte.
Vor ihr stand ein durch und durch furchterregender Conrad und alles, was sie fühlte, waren Stolz und Zärtlichkeit …
Plötzlich nutzte Cade die Lage aus und stieß seinen Kopf mit voller Wucht gegen Conrads, sodass diesem der Schädel brummte. Und dann waren die anderen beiden Dämonen wieder da und griffen ihn auf der Stelle an …
Ohne ihre Telekinese war sie hilflos, konnte nichts tun, um sie aufzuhalten. Von den Umstehenden hatten inzwischen viele aufgehört zu kämpfen, um diesen Zusammenstoß zu beobachten. Es erstaunte und erregte sie offenbar, dass der gefallene Vampir nicht seiner Blutgier nachgab und der Dämon seine Wandlung nicht vollzogen hatte.
Rydstrom stieß mit vier weiteren übel aussehenden Dämonen zu ihnen.
„Du kennst diesen Vampir?“, fragte er Néomi.
Mit einem Mal war sie von überaus finster dreinblickenden Dämonen umzingelt, deren Augen sich schwarz färbten.
Sie schluckte, als sie sich auf sie zu bewegten. „Ich … n-nun ja …“
„Du bist seine Braut, oder leugnest du das?“
Bin ich seine Braut? Überall um sie herum wurde aufgeregt geflüstert. Die verschiedenartigsten Kreaturen musterten sie interessiert. Warum?
Sie wich ein paar Schritte zurück, und als Rydstroms Begleiter ihr folgten, wandte sie sich Conrad zu. Er kämpfte nach wie vor gegen seine drei Angreifer.
„Conrad!“, rief sie.
Im nächsten Augenblick stand er vor ihr, den Arm weit ausgestreckt, und zog sie mit einem Ruck hinter sich. Sein Körper war eine einzige erhitzte Masse von Muskeln, seine breiten Schultern hoben und senkten sich unter seinen tiefen Atemzügen …
Atemzüge?
Sie legte das Ohr gegen seinen Rücken. Sein Herz hämmerte. Ich habe ihn erweckt!
„Eine neue Verpflichtung, Wroth?“, fragte Cade. Er wischte sich mit dem Arm über sein blutiges Gesicht. „Dann stell uns doch mal deiner Braut vor.“
„Wenn ihr auch nur daran denkt, ihr etwas anzutun“, stieß Conrad mit rauer Stimme hervor, „dann besiegelt ihr damit euer eigenes Ende.“ Er packte sie am Oberarm und zog sie nach vorne, an seine Seite.
Néomi schluckte, als einige der anwesenden Frauen ihr mitfühlende Blicke schenkten. Was wissen sie, das ich nicht weiß? Was wird er mit mir tun?
Sie hatte es mit einem unsterblichen Auftragsmörder zu tun, dem soeben seine Beute abhanden gekommen war. Ihretwegen. In seinen Augen sah sie ein ungezähmtes, besitzergreifendes Leuchten sowie eine tief sitzende Wut, als ob ihm etwas weggenommen worden wäre, als er diese Dämonen nicht getötet hatte.
Niemand wagte es, ihn herauszufordern – einen Vampir, der seine Braut beschützte. Er legte ihr seine Hand in den Nacken, um allen zu zeigen, dass sie ihm gehörte. „Sie ist mein Eigen. Und ich beschütze mein Eigentum.“
Dann … verschwanden sie.