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„Was stimmt bloß nicht mit mir?“ Wieder einmal hatte er sich in den Garten, in die Nähe des alten Pavillons zurückgezogen. Sämtliche Geschöpfe der Nacht um ihn herum waren still, als ob sie die Bedrohung spürten, die von ihm ausging. „Warum kann ich nichts richtig machen?“, brüllte er in die Nacht hinaus.
Néomi fehlte körperlich nichts, doch sie war untröstlich.
„Du hast keine Ahnung, was du getan hast!“, hatte sie geschluchzt. Die zum Schlag erhobene Hand hatte gezögert. Sie hatte sie zu einer Faust geballt, bevor sie den Arm senkte, ohne ihm den Schlag zu versetzen, den er verdient hatte.
Als ihr Blick gleich darauf sein Gesicht gestreift hatte, hatte er den Ausdruck vermisst, an den er sich inzwischen gewöhnt hatte. In ihren Augen lag weder Stolz auf ihn, noch flossen sie vor Begierde über.
Sie schien sich verraten zu fühlen.
Eine Stunde lang war er den vertrauten Pfad am Wasserrand entlanggelaufen. Er merkte kaum, dass sich die Himmelsschleusen öffneten und es zu regnen begann. Als er vorhin das Zimmer verlassen hatte, glaubte er gehört zu haben, dass ihr Weinen stärker wurde. Sie weinte seinetwegen.
Er fühlte sich innerlich leer und hohl, sein erst seit Kurzem schlagendes Herz schmerzte. Zum Teufel, konnte sich der Tod schlimmer anfühlen als dies hier?
Das Einzige, was ihm Hoffnung gab, war, dass sie den Ring nicht abgezogen hatte. Ihrer beider Blicke waren auf den Stein in dessen Mitte gefallen, und dann hatten sie sich in die Augen gesehen. Er war sicher gewesen, sie würde ihm den Ring ins Gesicht schleudern.
Aber sie hatte ihn nicht endgültig zurückgewiesen. Noch nicht.
Da – ein Geräusch hinter ihm. Zuerst dachte er, sie wäre ihm in den Regen hinausgefolgt, und er drehte sich um, bereit seinem übervollen Herzen Luft zu machen: Ich liebe dich. Ich werde mich bessern. Ich werde dir nie wieder wehtun …
Acht Schwertkämpfer standen mit gezückten Waffen vor ihm, unter ihnen Tarut. Es gab nicht viele Männer, bei denen Conrad den Kopf erheben musste, um ihnen in die Augen zu sehen, aber dieser war einer von ihnen.
Verdammt noch mal, wie hatte Conrad nur so unvorsichtig sein können? Seine Sinne hatten ihn noch nie dermaßen im Stich gelassen. Der Dämon hätte sich von hinten an ihn anschleichen und ihm den Kopf abtrennen können, bevor Conrad auch nur das Geringste gemerkt hätte.
„Wirst du dich translozieren, Wroth?“ Tarut sprach mit erhobener Stimme, um den Regen zu übertönen. „Oder kämpfen?“
„Bist du endlich bereit zu sterben?“
Ein letzter Kampf, also. Wenn Conrad besiegt würde, war es vielleicht das Beste so. Wenn Néomi ihn verließ, würden die Erinnerungen erneut die Herrschaft über ihn übernehmen, und er wäre sowieso verloren.
Oder wenn er siegte … Sie hatte seinen Ring nicht abgelegt. Wenn er siegte, würde er nicht zulassen, dass sie ihn verließ.
Das Schicksal soll über meine Zukunft entscheiden.
Er stand allein acht Kämpfern gegenüber, und er war unbewaffnet. Aber Conrad würde für sie kämpfen, weil er geschworen hatte, Tarut unschädlich zu machen und sich von dem Mal zu befreien, und dann würde sie seine Frau werden.
Alles war auf einmal so einfach. Töte die acht – behalte sie für immer.
Conrads Fänge wurden schärfer. Er fuhr mit der Zunge über einen von ihnen, und das Blut wirkte wie ein Adrenalinstoß. Es befanden sich Hindernisse zwischen ihm und dem, was er wollte. Er grinste die Dämonen höhnisch an. Sie hatten ja keine Ahnung, worauf sie sich eingelassen hatten. Eliminiere die Hindernisse.
Er griff den an, der ihm am nächsten stand. Wie der Blitz schoss Conrads Hand vor und zerfetzte dem Dämon die Kehle. Blut spritzte heraus. Seine Gedanken kreisten nur um eines: Diese Kreaturen standen zwischen ihm und Néomi. Eine Welle der Wut überrollte ihn. Sie stellten eine Bedrohung für ihr Leben dar!
Conrad erreichte den nächsten, packte ihn bei den Hörnern und drehte ihm den Kopf herum, bis die Wirbel brachen. Seine Finger gruben sich in die dicke Haut des Dämons, und er riss ihm den Brustkorb mit bloßen Händen auf.
Sie hatten es gewagt, den Tod in Néomis und sein Heim zu bringen …
Er geriet in Rage – nie zuvor hatte Conrad Ähnliches verspürt. Und dann … ergab er sich der Raserei und tat, was er am besten konnte.
Als Néomi im Spiegel die beiden Blutstropfen, so groß wie Stecknadelköpfe, auf ihrem Hals betrachtete, lief ihr erneut ein Schauer über den ganzen Leib.
Der Biss, der ihr solchen Genuss bereitet hatte, bedeutete zugleich ihr Verderben. Nie zuvor hatte sie sich einem Lebewesen tiefer verbunden gefühlt, und nachdem es vorbei war, nie schlimmer hintergangen.
Jetzt fühlte sie nichts mehr als Bedauern. Ihr Zorn auf Conrad war ähnlich sinnlos, wie ein Raubtier dafür zu schelten, dass es auf die Jagd ging. Er war ein Vampir, er hatte sie gebissen. Sie wusste, dass dies keine bewusste Entscheidung gewesen war. Er schien verwirrt, entsetzt über sich selbst, als er mit heiserer Stimme sagte: „Ich sollte dich eigentlich vor Männern wie mir beschützen.“
Sie blickte auf den atemberaubenden Ring, den er für sie gekauft hatte, aber sie konnte sich nicht überwinden, ihn abzulegen. Er hatte ihr gesagt, sie solle ihn abnehmen, wenn sie ihn wirklich nicht heiraten wolle.
Aber sie wollte es.
Ihm war daran gelegen, Anspruch auf sie zu erheben und ihre gemeinsame Zukunft zu sichern. Sie verspürte genau dasselbe Verlangen, was ihn anging. Doch zugleich fühlte sie schon seit einer Weile, dass sie bald fortgehen müsste. Sie wusste nicht, wohin, wusste nur, dass es ohne Conrad sein würde.
Ach, wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Sie hatte keine Reise vor, sie würde sterben. Und sie hatte Angst.
Sie wandte sich vom Spiegel ab, um auf seine Rückkehr zu warten. Vermutlich hatte er sich mal wieder zum Pavillon zurückgezogen. Sie wünschte, er würde zurückkommen – der Wind wurde immer heftiger, und Regen prasselte gegen die Fenster.
Mit einem Mal erklang ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus dem Garten.
„Conrad!“ Oh Gott, ob er sich wohl etwas antun würde? Sie war so hart mit ihm ins Gericht gegangen!
Sobald sie seinen Schmerzensschrei gehört hatte, war sie aufgesprungen. Sie schloss den Gürtel ihres Morgenmantels, eilte zur Tür und stürzte sich kopfüber in die stürmische Nacht, wo sie, die Augen zum Schutz gegen den Regen zusammenkneifend, dem Lärm bis zu einer Lichtung in der Nähe des Pavillons folgte.
Dort blieb sie beim Anblick dreier zerfleischter Leichen wie angewurzelt stehen. Fünf weitere Wesen, alle riesig und muskelbepackt, umzingelten Conrad, der seine Fänge wutentbrannt fletschte. Winkte er da etwa seinen Gegnern, näher zu kommen?
Als ein Blitz aufleuchtete, erkannte sie die schwarzen Symbole auf ihren Rücken. Kapsliga.
Sie griffen ihn abwechselnd mit erhobenen Schwertern an. Jedes Mal schloss sich der Kreis enger um ihn, sodass Conrad immer weniger Raum zum Manövrieren blieb. Warum translozierte er sich nicht fort?
Als einer der Dämonen sein Schwert tief in Conrads Arm versenkte, brüllte er vor Wut auf und ließ seine Faust vorschnellen. Mit einem brutalen Hieb streckte er den Dämon bewusstlos zu Boden und schnappte sich im Fallen die Waffe seines Gegners.
Sein unverletzter Arm schwang das Schwert in weitem Bogen abwärts und köpfte den Feind. Jetzt hat er eine Waffe. Sie starrte gebannt auf die harschen Linien, den wilden Ausdruck seines Gesichts. Als der Damm brach und seine Augen sich ganz und gar rot färbten, wusste sie, dass er sie alle töten würde. Sie würde ihn nur behindern. Obwohl es all ihren Instinkten zuwiderlief, die sie drängten, ihm beizustehen, begann sie sich zurückzuziehen …
Da erblickte Conrad sie. In ebendiesem Augenblick hörte sie Atemgeräusche hinter sich. Ein Arm schloss sich um ihren Hals.
Tarut hatte Néomi.
Conrad machte sich bereit, sich zu ihr zu translozieren, doch der Dämon verstärkte augenblicklich seinen Griff.
„Nur wenn du deine schwache Menschenfrau tot sehen willst.“
Kann nicht zu ihr kommen, kann sie nicht erreichen. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie im Regen, außer sich vor Angst. Dafür bin ich verantwortlich. Das alles ist meine Schuld!
Sie sah so winzig aus, im Vergleich zu dem riesigen Dämon. Wenn Tarut nur einen Muskel anspannte, würde er ihr das Genick brechen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen wäre sie tot.
„Lockere deinen Griff, Dämon, sonst erwürgst du sie noch!“
„Pech für dich, eine Sterbliche als Braut zu haben. Sie vergehen so leicht.“
In Conrad brandete eine entsetzliche Panik auf, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte.
„Halte durch, Néomi.“ An Tarut gewandt sagte er: „Lass sie gehen, wenn dir an deinem Leben auch nur das kleinste bisschen liegt.“
„Ich denke nicht, Vampir.“ Zwei von Taruts Schergen packten Conrads Arme, und er war gezwungen, es zuzulassen. „Du weißt, was ich will. Ich werde sie nicht gehen lassen, ehe ich es bekomme.“
Tarut würde sie nicht gehen lassen, ehe Conrad tot war. Er suchte die Gegend durch den sintflutartigen Regen hindurch ab, auf der Suche nach einer anderen Lösung, nach einer Möglichkeit zu töten. Es gab keine.
Er wusste keinen Weg, wie er Tarut seine Geisel abnehmen könnte.
Néomi schüttelte den Kopf und versuchte zu sprechen.
„Verschwinde …“, brachte sie mit erstickter Stimme heraus.
So verletzlich.
„Ich gelobe, sie von dem Fluch zu befreien“, sagte Tarut, „und noch heute Nacht freizulassen. Alles, was du mir dafür geben musst, ist dein Kopf.“
Belohnungen und Hindernisse. Belohnung: Néomis Leben retten. Tarut wäre durch seinen Eid gezwungen, sie gehen zu lassen.
Das Hindernis? Es gab keines. Alles, was ich je wollte, ist zu leben, hatte sie gesagt. Und nur wegen Conrads Vergangenheit lief sie Gefahr, ihr Leben zu verlieren.
Wenn er ihr Leben retten konnte, indem er seines opferte, dann würde er es voller Stolz tun.
„Conrad … nein!“, rief sie. Sie blinzelte heftig, um durch den prasselnden Regen sehen zu können. „Warte … ich ste…“ Der verdammte Bastard verstärkte seinen Griff und schnürte ihr die Luft ab.
„Stopp!“ Als sie ihre winzigen Finger in den Arm des Dämons grub, nach Luft rang, verzweifelt um ihr Leben kämpfte, schrie Conrad: „Tu es, Dämon. Schwing dein Schwert. Vorausgesetzt du schwörst, dass weder du noch deine Männer ihr je etwas antun werden.“
Tarut nickte feierlich. „Ich schwöre es beim Mythos.“
Néomi weinte, kämpfte … sie rang panisch nach Luft, um ihm die Wahrheit zu sagen.
Inmitten des tosenden Sturms stand Conrad hoch aufgerichtet da, bereit, für sie in den Tod zu gehen. Sie las in seiner Miene, dass ihre verzweifelte Gegenwehr seinen Schmerz nur noch erhöhte und ihn den Todesstreich ungeduldig erwarten ließ.
Aber er würde umsonst sterben.
Néomi hatte geglaubt zu wissen, welch ungeheure Stärke in diesem Mann steckte. Jetzt wurde ihr jedoch klar, dass seine heftigste Emotion … Liebe war. Sie loderte in seinen Augen. Und sie wusste, dass er sie sehen lassen wollte, was er fühlte.
Doch dann ließ ihre Sehkraft nach, und ihr wurde zunehmend schwindlig. Sie sah auf einmal alles wie durch einen Nebelschleier, alles war verschwommen.
Tarut hielt Néomi nach wie vor mit festem Griff und ging auf Conrad zu.
„Nein!“, würgte sie hervor. Als der Dämon sein Schwert auf Conrads Hals richtete, gelang es ihr, noch einmal Luft zu holen. „Ich … sterbe sowieso! Verschwinde von hier!“
Conrad zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.
Tarut schwang sein Schwert.