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Mademoiselle, der Baron ist eingetroffen«, rief Hélène panisch und riss Amelia aus ihren Grübeleien, kurz nachdem sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, um sich bis zum Abendessen auszuruhen.

»Wer?«

»Lord Clayborough. Er ist hier. Draußen.« Die Zofe gestikulierte wild zum Fenster.

»Aber …« Amelia brach ab. Clayborough auf Stoneridge Hall? Du lieber Himmel, warum denn das? Dann erinnerte sie sich daran, was sie ihm bei ihrer letzten Begegnung in der Stadt mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben hatte. Dass er sie auch ohne ausdrückliche Einladung aufsuchen dürfe. Großartig, er hätte sich keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können.

All das lag doch schon eine Ewigkeit zurück, fand sie. Gehörte zu einer anderen Frau und einem anderen Leben. Einem ziemlich unglücklichen. Aber die Frau von früher existierte nicht mehr. Außerdem hatte sie an den Baron gar nicht mehr gedacht. Verdammt, sie hätte ihm schreiben sollen, schoss es ihr durch den Kopf. Jetzt war er hier, auf Thomas’ Besitz. Eine Welle des Entsetzens durchflutete sie. Wenn Thomas es bemerkte … Sie musste nachdenken. Einen Ausweg aus der elenden Situation finden.

»Und wo genau ist er?«

»Ich … Äh, Johns hat mir das Gelände gezeigt. Er war beim Haus des Verwalters. Da ist er jetzt noch.« Hélènes Wangen waren knallrot, und sie schlug verlegen die Augen nieder.

Bei anderer Gelegenheit hätte Amelia es amüsant gefunden, dass ihre Zofe offenbar ein Stelldichein mit einem der Lakaien hatte, aber jetzt plagten sie andere Sorgen.

Denk nach, Amelia, denk nach. Sollte sie es riskieren, sich mit ihm zu treffen? Sie dachte an Thomas und wusste, dass ihr zukünftiges Glück womöglich davon abhing, dass sie keinen Fehler beging.

Zunächst musste sie auf jeden Fall zum Abendessen erscheinen, wenn sie kein Aufsehen erregen wollte. Danach würde sie mit ihm reden, ihm rasch erklären, dass es vorbei sei mit ihnen und er wieder heimfahren solle. Bestimmt war er enttäuscht, doch das ging sicher bald vorüber, denn schließlich verband sie keine große Liebe. Mehr als eine Viertelstunde dauerte die Überredung bestimmt nicht. Sie schickte ihre Zofe los, ihn noch eine Weile zu vertrösten.

In dem Bewusstsein, dass alles gut würde, begab sie sich zum Dinner nach unten.

Thomas konnte nicht schlafen. Nach Louisas Auftritt und dem leidenschaftlichen Kuss in der Bibliothek hatte er den Rest des Tages ausgesprochen unruhig und aufgewühlt verbracht und auch das Abendessen nicht wirklich genießen können.

Während er Amelia beobachtete, wie sie ihr Essen in den Mund schob, stellte er sich vor, dass sie mit ihren Lippen etwas ganz anderes machte. Der Anblick, wie sie in den Erdbeeren mit Schokoladensauce schwelgte, ließ ihn stocksteif werden.

Vor der Schlafzimmertür trennten sich ihre Wege, wenngleich er die selbst auferlegte Zurückhaltung kaum noch ertrug. Er traute sich nicht einmal, ihr einen züchtigen Kuss auf die Wange zu hauchen. Angesichts der hochherzigen Absicht, Rücksicht auf Mutter und Schwestern zu nehmen, wäre es Wahnsinn gewesen, sie auch nur zärtlich zu berühren.

Als er sich eine Stunde später jedoch in die Laken seines Bettes wühlte, kehrten seine Gedanken immer wieder zu den moralischen Prinzipien zurück, die ihn hinderten, zu ihr zu gehen. Schließlich würde er sie heiraten, und es handelte sich nicht bloß um eine heiße, unerlaubte Liebesaffäre, die sich zwischen ihnen abspielte. Außerdem: Wenn sie diskret vorgingen, würden weder seine Mutter noch seine Schwester es jemals erfahren, denn ihre Schlafzimmer lagen in einem anderen Flügel des Hauses. Nachdem Thomas seine Entscheidung gefällt und sein Gewissen ausreichend beschwichtigt hatte, sprang er aus dem Bett, schnappte sich seinen Hausmantel und verließ das Zimmer.

Zehn Minuten später jedoch stand er am Fenster der Bibliothek und versuchte nicht die Nerven zu verlieren. Die Vorfreude hatte sich in tiefe Besorgnis verwandelt, denn Amelia war nicht in ihrem Zimmer gewesen. Wo steckte sie bloß? Er suchte das ganze Haus ab, ohne sie zu entdecken. Von Sekunde zu Sekunde wuchs sein Unbehagen, und er schaute sogar in Räumen nach, in denen sie sich niemals aufzuhalten pflegte, wie etwa dem Billardzimmer.

In der Hoffnung, dass sie irgendwann dort auftauchte, war er in die Bibliothek zurückgekehrt. Immerhin saß sie dort gerne am Fenster, las oder schaute einfach träumend hinaus in die Landschaft. Seine Gedanken überschlugen sich, als er draußen eine Bewegung wahrnahm. Einen Moment später tauchte nahe dem Haus des Verwalters eine Gestalt auf.

Im Licht des Vollmonds konnte Thomas sie erkennen. Amelia. Erleichtert atmete er aus. Doch nicht lange, denn plötzlich erschien eine weitere Gestalt, diesmal eindeutig männlich. Wie im vertraulichen Gespräch neigte der Mann ihr den Kopf zu. Die beiden Menschen tauschten garantiert mehr aus als nur Höflichkeiten.

Thomas sah es kommen: Gleich würden sie sich küssen. Es war wie ein böser Traum. Nichts von alldem, was er draußen sah, schien tatsächlich zu existieren. Der Mann näherte seinen Kopf dem ihren, und die Lippen berührten sich. Ein, zwei Sekunden verstrichen, bis sie den Kopf zurückriss und sich hastig umschaute. Dann schnappte sie ihn am Ärmel und zerrte ihn hinter die schützenden Sträucher.

»Sir.«

Thomas erschrak, als er die Stimme des Butlers hörte, und betrachtete den Mann durch einen Schleier aus glutroter Wut mit einem Stich grünlicher Eifersucht. Groß und mit geradem Rücken stand Alfred auf der Schwelle zur Bibliothek. Seine Miene sah ernster als üblich aus.

»Gibt es ein Problem, Alfred?« Thomas war überrascht, wie ruhig er klang, obwohl es in ihm brodelte.

»Sir, einer der Diener hat eine leere Kutsche auf dem Gelände entdeckt. Hinter den Bäumen am Teich. Wie wünschen Sie, dass ich vorgehen soll? Soll ich die Wache alarmieren?«

Thomas nahm die Worte des Butlers auf wie ein Ertrinkender, der ständig Wasser schluckt und dann erst feststellt, dass er gar nicht schwimmen kann. Es mochte ja sein, dass seine Augen ihn täuschten, aber in seinem Kopf breitete sich ein schrecklicher Verdacht aus: Konnte es sein, dass Amelia ihn betrog? Die Frage war nur: Wer war es dieses Mal?

Betrügerische, lügnerische Hexe.

»Pferde?«

»Ja, die Pferde sind noch da, Sir. Beide an einen Baum gebunden.«

Thomas nickte langsam. »Ich kümmere mich darum.«

Gewöhnlich verzog der Butler keine Miene. Aber diesmal schaute er seinen Herrn mit hochgezogenen Brauen an. Einen Moment später allerdings fand er zu seinem unbeteiligt korrekten Ton zurück. »Wie Sie wünschen, Sir.« Alfred machte auf dem Absatz kehrt, hielt dann inne und wandte sich wieder an Thomas. »Sir, wünschen Sie, dass die Lampen entzündet werden?«

Jetzt erst bemerkte Thomas, dass er völlig im Dunkeln stand. Sehr passend für seinen Gemütszustand, fand er. »Nein, ich bin schon auf dem Weg nach draußen«, sagte er, rührte sich aber nicht von der Stelle, sondern starrte weiter aus dem Fenster.

Alfred verschwand so geräuschlos, wie er eingetreten war. Sie hatte also vor, ihn zu verlassen. Heute Nacht. Es gab keine andere Erklärung für die Szene, deren Zeuge er soeben wurde, keine andere Erklärung für die Kutsche auf seinem Anwesen.

Die Zukunft, die er für sie beide ins Auge gefasst hatte, brach auf geradezu apokalyptische Weise in sich zusammen. Just in diesem Moment tauchte Amelia wieder auf und eilte den Weg entlang, der zum Dienstboteneingang führte.

In der festen Absicht, sie gebührend zu empfangen, verließ Thomas seinen Platz am Fenster.