17
Thomas brachte keinen Ton über die Lippen, tat nicht mehr, als Amelias Arm mit festem Griff zu umklammern und sie in Richtung Ausgang zu bugsieren. Bedauerlicherweise gab es nichts, was sie unternehmen konnte, um ihn daran zu hindern, sie aus dem Ballsaal zu schieben wie eine ungehorsame Bedienstete.
Irgendwann während ihres unrühmlichen Abgangs tauchte Alex an der Seite seines Freundes auf. Ein einziger Blick reichte, die Lage zu erfassen und in die Rolle des Vermittlers zu schlüpfen.
»Armstrong, pass auf, dass du nicht …«
Thomas blieb weder stehen, noch schaute er Cartwright an. »Das geht dich nichts an«, wies er den Versuch seines Freundes ab, Frieden zu stiften. »Ich werde mit dem Problem so umgehen, wie ich es für richtig halte.« Er senkte den Mund an ihr Ohr. »Wo steckt Miss Foxworth?«
Amelia achtete nicht auf ihre zitternden Beine und auch nicht auf ihren Magen, der sich schmerzhaft zusammenkrampfte. Sie schluckte schwer, bevor sie kleinlaut zur Antwort gab: »Tanzen.«
»Machen Sie sich eigentlich irgendwelche Vorstellungen, welchen Preis Sie für Ihre Eskapade zu zahlen haben? Gibt es überhaupt irgendetwas, wovor Sie sich wirklich fürchten?«
Thomas machte keinen Aufstand, den alle hätten bemerken können, wurde nicht laut, sondern stieß seine Drohung in jenem gefährlich sanften Tonfall aus, der inständig hoffen ließ, dass die Strafe schnell und ohne große Umstände vollzogen würde.
Amelia war klug genug, sich nicht im Ballsaal zu wehren, und auch in der Halle verkniff sie es sich, weil dort neben der Dienerschaft jede Menge Gäste herumstanden.
»Um Himmels willen, lassen Sie mich endlich los. Sie tun mir am Arm weh, und wenn Sie nicht endlich aufhören damit, werde ich Ihnen eine Szene machen«, zischte sie ihm zu.
Das einzige Zeichen, dass er sie verstanden hatte, bestand darin, den Griff so weit zu lockern, dass seine Finger sich nicht mehr in ihre Arme gruben.
»Cartwright, bitte sag Camille Foxworth Bescheid, dass Lady Amelia sich krank fühlt und dass ich sie nach Hause begleite. Sobald sie gehen möchte, bring du sie bitte zum Haus meiner Mutter.« Aus seiner Stimme klang mühsam unterdrückter Zorn, und seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.
Alex gestikulierte besänftigend. »Armstrong …«
»Verdammt noch mal, tu einfach das, worum ich dich gebeten habe, und misch dich nicht ein.«
Der Freund schien ernsthaft besorgt, und Amelia schaute ebenfalls Thomas an. Hoffentlich rastete er nicht ganz aus.
»Vergiss bloß nicht, dass sie Harrys Tochter ist«, sagte Cartwright, bevor er sich umdrehte und in den Ballsaal zurückging.
Thomas setzte den Weg zum Ausgang fort und zwang Amelia, schneller zu gehen. Wie ein Pferd, dachte sie, das man zu einer rascheren Gangart zwingt.
Nur wenige Minuten später bekamen sie ihre Garderobe: Amelia einen dicken wollenen Umhang und Thomas einen schwarzen Mantel.
Es war eine mondhelle Nacht, und kalte Luft schlug ihr ins Gesicht. Wenn sie ausatmete, bildeten sich vor ihrem Mund kleine Wölkchen. Thomas winkte seine Kutsche herbei, ohne ihren Arm loszulassen. Sie schaute ihn über die Schulter an, den Körper gestrafft.
Als sie zurück zum Eingang blickte, entdeckte sie eine Gestalt neben einer Säule. Es war Lord Clayborough, der sie beobachtete. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Zumindest hatte sie nicht mit ihm gerechnet.
Thomas drehte sich um und folgte ihrem Blick, während Clayborough ganz hinter der Säule verschwand. Willenlos ließ Amelia sich in die Kutsche drängen.
Sie fühlte sich irgendwie gedemütigt. Clayborough hatte nicht einmal den kleinen Finger gerührt, um ihr zu helfen, sondern nur hilflos zugeschaut. Selbst wenn nichts wurde aus ihrer gemeinsamen Flucht, etwas mehr Einsatz wäre doch wohl das Mindeste gewesen, was sie erwarten durfte. Lohnte sie den Aufwand etwa nicht? So viel zu ihrem edlen Ritter, der sie erretten sollte. Eher schien er froh, sie los zu sein.
Amelia schob ihre Enttäuschung beiseite und gab sich ganz ihrem Zorn hin, der wie ein Wirbelsturm in ihr wütete und bereit war, alles niederzureißen, was sich ihm in den Weg stellte. Zum Beispiel Thomas Armstrong.
Sie setzte sich und befreite sich aus seinem Griff. »Sie elender, scheinheiliger Dreckskerl.« In diese vier Worte legte sie alle mühsam gezügelten Gefühle. »Wagen Sie es nicht, jemals wieder Hand an mich zu legen.«
Der Viscount ließ die Kutsche anrollen, betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen und nahm in aller Ruhe auf dem Sitz neben ihr Platz, sodass ein Teil ihrer Röcke unter seinem Schenkel eingeklemmt war.
Amelia wollte sofort aufstehen, um sich auf den Platz ihm gegenüber zu setzen – den er als Gentleman eigentlich hätte wählen sollen –, aber mit der Schnelligkeit einer Schlange schoss seine Hand nach vorne und zerrte sie zurück.
»Ich bin kurz davor, Sie übers Knie zu legen«, stieß er leise aus, »noch eine einzige Bewegung, und Sie werden meine Hand richtig zu spüren bekommen.«
Jämmerlicher Grobian. Flammend heiß stieg ihr die Zornesröte ins Gesicht, während sie mehrmals heftig an ihren Röcken riss, um sich zu befreien und anschließend in die Nähe der kalten Tür zu rücken.
Thomas musterte sie eindringlich. »Ich habe keine Ahnung, wie Ihnen das gelingen konnte mit Camille. Es hat nicht mehr als einen verfluchten Tag gedauert, bis Sie sie verdorben haben. Und dafür werden Sie zahlen.«
»Zahlen! Wofür? Ich wollte nur einen einzigen Abend in der Begleitung des Mannes verbringen, den ich nun einmal schätze. Ich glaube kaum, dass das ein Verbrechen ist.«
Armstrong lachte zynisch. »Wer ist dieser Mann? Etwa Clayborough? Wenn ich daran denke, wie er gerade versucht hat, eins zu werden mit der Säule … Das sah eher danach aus, als zöge er es vor, ihnen aus dem Weg zu gehen.«
Amelia riss den Kopf hoch. Dann hatte er ihn also entdeckt? Wieder eine Peinlichkeit, die er ihr vorhalten konnte.
»Haben Sie wirklich geglaubt, dass ich diesen feigen Nichtsnutz nicht entdecke? Wenn er wirklich Ihren Vorstellungen vom Charakter eines echten Mannes entspricht, dann haben Sie offensichtlich keine hohen Ansprüche.«
Amelia verachtete seine Selbstherrlichkeit und noch mehr seine herablassende, geringschätzige Art. Aber am meisten störte sie, dass er sie bei einer falschen Reaktion ertappt hatte, was jede Verteidigung Clayboroughs völlig sinnlos erscheinen ließ. Trotzdem weigerte sie sich, Zugeständnisse zu machen. »Und was hätte er Ihrer Meinung nach tun sollen? Eine Szene provozieren und sich mit Ihnen einen Ringkampf liefern?«
Thomas fing ihren eisigen Blick auf. »Für die Frau, die ich heiraten will? Ja, natürlich. Ich hätte es jedenfalls getan.«
Seine Antwort nahm ihr den Wind aus den Segeln und ließ sie in verwirrtem Schweigen zurück. Denn sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass er für die Frau, die er liebte, Himmel und Hölle in Bewegung setzte. Falls es diese Frau überhaupt jemals geben würde. Unbewusste Sehnsucht stieg in ihr auf, wenn sie daran dachte, wie es wohl wäre, von einem Mann wie ihm geliebt zu werden. Sie verdrängte das Gefühl so schnell, wie es gekommen war.
»Ihr Vater wird Ihnen niemals erlauben, diesen Lumpen zu heiraten«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Ich werde es nicht erlauben. Nicht solange Sie sich in meiner Obhut befinden.«
»Ich befinde mich nicht in Ihrer Obhut. Ich bin Ihre Gefangene.«
»Offenbar muss ich Ihnen noch mehr Pflichten zuweisen. Damit Sie beschäftigt sind. Morgen werden Sie sich bei der Köchin melden. Ich glaube, die Spülküche könnte ein wenig Unterstützung gebrauchen.«
»Sie sind wohl verrückt geworden.«
»Ich versichere Ihnen, dass ich bei bester Gesundheit bin.«
»Ich … werde … es … nicht … tun.« Sie sprach jedes Wort einzeln und mit deutlicher Betonung aus. »Wenn ich das meinem Vater erzähle …«
»Ihr Vater unternimmt nichts, sofern ich ihm die Umstände erläutere. Er würde es ohnehin nicht gutheißen, dass Sie sich so kurz nach dem Skandal auf Lady Stantons Ball schon wieder in der Öffentlichkeit zeigen.«
Ohne nachzudenken, stürzte Amelia sich auf ihn, um ihn mit ihren Fäusten zu bearbeiten.
Instinktiv schützte Thomas sein Gesicht mit den Händen. Zwei Frauen, die ihn angriffen – und das an nur einem einzigen Tag? Grundgütiger, war denn plötzlich die ganze Welt verrückt geworden? Rasch schnappte er ihre Hände.
»Um Himmels willen, reißen Sie sich zusammen, verfluchte Wildkatze«, murmelte er und zog ihr mit sanfter Gewalt die Arme auf den Rücken.
Zwischen ihren Oberkörpern war gerade noch Platz für ein Blatt Papier, und wie zum Beweis, dass seine Begierden sich einen Dreck um ihre Aufsässigkeit und um seine Strafandrohungen scherten, erwachte seine Männlichkeit zu neuem Leben. Unwillkürlich drückte er sie noch tiefer in den Sitz.
»Lassen Sie mich los.« Keuchend strich ihr Atem über seine Wangen, während sie sich unter ihm drehte und wand und seine Erregung nur noch verstärkte.
»Hören Sie endlich auf, sich zu bewegen«, stieß er barsch hervor. Seine Selbstbeherrschung schwand immer mehr.
Amelia erstarrte. Schaute auf zu ihm, die blauen Augen weit aufgerissen in Anbetracht der Erkenntnis, wie eng ihre Körper von der Schulter bis zur Hüfte aneinandergepresst waren.
»Am liebsten würde ich just in diesem Moment einfach Ihre Röcke heben und Sie nehmen. Nennen Sie mir einen einzigen guten Grund, warum ich darauf verzichten sollte.« Sein Blick fiel auf ihre üppigen rosafarbenen Lippen, und der quälende Hunger, der ihn seit Wochen plagte, drohte ihn mit Haut und Haar zu verzehren. Er konnte nicht anders, als sie zu küssen.
»Nicht«, drang es gepresst aus ihrer Kehle.
»Nicht gut genug«, murmelte er, bevor er den Kopf senkte und ihren gehauchten Protest mit seinem Mund erstickte.
Das Blut schoss ihm heiß durch die Adern, pulsierte zwischen seinen Schenkeln und brachte ihn fast zum Bersten. Ungeduldig und hungrig stieß er tief in ihren Mund, erschauerte am ganzen Körper, als seine Zunge die ihre fand. Er versuchte, sein Verlangen zu zügeln, doch es brauchte nur eine kurze Berührung, bis sie leidenschaftlich und beinahe hilflos in das sinnliche Spiel ihrer Zungen einstimmte.
Thomas ließ ihre Hände los, nestelte an den Knöpfen des Umhangs und streifte ihn von ihren Schultern, ohne dass sie ihn hinderte. Das Kleidungsstück breitete sich wie eine Altardecke unter ihr aus – mit ihr als Gabe.
Er fuhr an ihrer Hüfte entlang und die schmale Taille hinauf, bis er an der Unterseite der Brust ankam. Amelia stöhnte leise und schlang die Arme fest um seinen Nacken.
Die Lust hatte ihn fest im Griff und ließ seinen Geist willenlos und schwach werden. Nur noch seine körperlichen Bedürfnisse zählten. Während er noch tiefer in ihren Mund eindrang, fuhr er mit einer Hand nach oben und bedeckte ihre feste Brust, strich mit dem Daumen über ihre Knospe, bis sie sich unter dem blassgrünen Mieder ihres Kleides abzeichnete. Doch Thomas wollte sie nicht nur in den Händen spüren, sondern mit den Blicken verzehren und den Lippen schmecken.
Ein kehliges Geräusch entfuhr ihm, als er den Mund von ihrem löste, um ihr ins Gesicht zu schauen. Er sog den Anblick ihrer geschwollenen Lippen und geschlossenen Augen förmlich ein und fing an, die Perlenknöpfe am Vorderteil ihres Kleides eilig aufzuknöpfen, sah das weiße, seidige Korsett, das ihre Brüste kaum bedeckte … Feste, weiche, sahnige Haut. Er wurde steifer, als er es je für möglich gehalten hätte.
Langsam schlug sie die Augen auf, und er erkannte darin dunkel glühende Leidenschaft. Jedoch nur für einen Moment sah er diesen Blick einer Frau, die höchste Lust empfand, denn als er gerade die Knöpfe an ihrer Taille öffnete, riss sie alarmiert die Augen auf.
Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Amelia schlug ihm auf die Hände. »Hör auf! Rühr … mich nicht an.«
Thomas hielt inne und starrte mit dem benommenen Ausdruck ungestillten Hungers auf sie hinunter. Sie glaubte schon, er werde ihre Abwehr ignorieren, aber dann zog er langsam die Finger von ihr zurück und rückte von ihr weg.
Sofort schoss Amelia hoch, griff nach ihrem Umhang und hielt ihn schützend vor den Oberkörper, nahm sich nicht einmal die Zeit, die Knöpfe zu schließen. Zu heiß und leidenschaftlich brannte sein Blick unverändert auf ihr.
Thomas nahm auf dem Sitz ihr gegenüber Platz und beobachtete sie schweigend. In seinen Mundwinkeln zuckte ein verächtliches Lächeln. Sie musterte ihn.
Wenn sie ihn in der Vergangenheit gesehen hatte, war er gewöhnlich genauso gekleidet wie jetzt: in dunklen Farben, die seine blonden Haare vorteilhaft zur Geltung brachten. Wie gut ihm die Fassade des ehrenwerten Gentleman doch stand. Sie wünschte, all seine Verehrerinnen könnten ihn in diesem Moment sehen, wie er mit verschwommenem Blick, zerwühltem Haar und gespreizten Beinen dort saß. Der Inbegriff eines Wüstlings.
»Langweilt Sie das eigentlich nicht?«, fragte er spöttisch.
»Wie bitte?«
»Sie wollen mich ohne Zweifel, das ist schließlich nicht zu übersehen. Warum also spielen Sie immer die beleidigte Jungfrau, sobald ich Sie küsse? Ich kann mir vorstellen, dass das mit der Zeit ziemlich ermüdend ist. Mir jedenfalls geht es so.«
»Spielen! Glauben Sie etwa, dass ich es genieße, wenn Sie sich unerlaubte Freiheiten herausnehmen?« Mit jedem Wort klang ihre Stimme schriller.
Thomas lachte trocken. »Unerlaubte Freiheiten herausnehmen, Prinzessin?«, sagte er auf die Art, die sie am meisten verabscheute. Nicht dass er jemals irgendetwas auf eine Art gesagt hätte, die ihr gefiel. »Das muss wirklich ein überaus glücklicher Gentleman sein, der sie beglücken darf. Geben Sie eigentlich bei ihm genau solche keuchenden Geräusche von sich, wenn er sie küsst?« Sein Blick fiel auf ihre Brüste. »Wenn er Ihre Knospen berührt?«
»Nein, mache ich nicht«, krächzte sie, aber die Wahrheit seiner Worte beschämte sie.
»Möchten Sie, dass ich Ihnen beweise, wie einfach es ist, Sie bereit zu machen für mich?« Seine Stimme klang weich und herausfordernd zugleich.
Ohne das Zittern verbergen zu können, zog sie ihren Umhang noch fester um sich. »Rühren Sie mich niemals wieder an.« Der Befehl klang allerdings eher so, als käme er aus dem Mund einer Frau, die einen bereits verlorenen Kampf um ihre Selbstbeherrschung kämpft.
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis Thomas wieder das Wort ergriff. Lässig deutete er zum Fenster, dessen Vorhänge zugezogen waren. »Wir halten jetzt schon seit mehr als fünf Minuten. Das ist Ihnen offenbar entgangen, weil Sie … äh … anderweitig beschäftigt waren. Oh, machen Sie sich keine Sorgen, Johns wird die Tür erst öffnen, wenn die Vorhänge zurückgezogen werden.«
Ihr Blick flog zum Fenster, und sie riss den schweren Stoff zurück. Sie standen vor der Residenz der Armstrongs, die ein hoher eiserner Zaun umgab, dessen Spitzen aussahen wie Speere.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, öffnete Amelia die Tür und kletterte aus der Kutsche. In der Eile verfing sich der Saum ihres Kleides in den Stufen, und der zarte Stoff zerriss unter ihrem ungeduldigen Zerren. Es kümmerte sie nicht. Sie hätte ihre halbe Garderobe geopfert, nur um von Thomas Armstrong wegzukommen – und von den verfluchten Gefühlen, die er in ihr geweckt hatte.