19

Thomas fand Cartwright in der Bibliothek gebeugt im Armsessel sitzend und die Unterarme auf die Schenkel gestützt. Inzwischen hatte er die Reitkleidung abgelegt und ein Bad genommen, wie sein feuchtes Haar bewies.

Er sprang auf, als der Freund eintrat. »Wie geht es ihr? Was sagt der Arzt?«

Anstatt ihm sofort zu antworten, eilte Thomas zur Anrichte und schenkte sich ein Schlückchen Rum ein, obwohl es eigentlich eindeutig zu früh für einen Drink war. So unvernünftig seine Gefühle auch sein mochten: Amelia in Cartwrights Armen oder ihn in der Intimität ihres Schlafzimmers zu sehen, das ging ihm völlig gegen den Strich. Er hatte eine Vertraulichkeit zwischen den beiden verspürt, die nicht zu rechtfertigen war, denn schließlich kannten sie sich kaum.

Armstrong warf den Kopf zurück und stürzte den Inhalt seines Glases in einem einzigen Zug hinunter. Der Rum brannte ihm in der Kehle, während Cartwright schweigend auf Antwort wartete. Als diese ausblieb, warf er einen Blick zur Tür. »Ist es mir gestattet, sie persönlich zu sehen? Camille hat sich ebenfalls sehr besorgt über ihren Zustand geäußert. Ich habe ihr versprochen, sie auf dem Laufenden zu halten.«

Er will sie auf dem Laufenden halten? Was für ein frecher Kerl! Thomas knallte das Glas so heftig auf den Tisch, dass es zersprang. Er war gefährlich nahe dran, die Fassung zu verlieren, während Alex ihn mit verschränkten Armen neugierig beobachtete.

»Sie schläft«, sagte Thomas schließlich knapp. »Dr. Lawson sagt, es sei nichts als eine Magenverstimmung, die sich in ein paar Tagen wieder gelegt haben dürfte.«

»Verstehe«, meinte Cartwright. »Ich nehme an, dass du mir gleich erklären wirst, was zum Teufel eigentlich in dich gefahren ist? Du benimmst dich, als hätte ich vor, das Mädchen zu vernaschen. Vielleicht solltest du mir einen kleinen Vertrauensvorschuss gewähren. Immerhin verfüge ich durchaus über ein gewisses Taktgefühl. Falls ich wirklich das im Schilde führen sollte, was du mir unterstellst, würde ich dann nicht wenigstens abwarten, bis das Fieber sie nicht mehr innerlich verzehrt?«

»Es freut mich, dass du unverändert einen Scherz auf den Lippen hast.« Plötzlich fand Thomas den Humor seines Freundes nicht mehr so amüsant wie früher.

»Mache ich den Eindruck, als würde ich mich lustig machen? Ich versichere dir, dass es mir vollkommen ernst ist«, sagte Cartwright, und tatsächlich fehlte das trockene Lächeln in den Mundwinkeln, für das er bekannt war.

Irgendein schwelendes Gefühl in seinem Innern, das er sich nicht zu benennen traute, brodelte wie zähflüssige Lava an die Oberfläche. »Zum Teufel noch mal, du wirst sie in Ruhe lassen, verstehen wir uns da richtig? Wage es ja nicht, mit ihr herumzutändeln. Sie geht nur mich etwas an. Ich allein kümmere mich um sie.«

»Und ich dachte, du fändest sie unerträglich! Und seist vielleicht erleichtert, wenn ich sie dir ein wenig vom Hals halte.«

Schon wollten Thomas allerlei Beleidigungen über die Lippen kommen, doch er unterdrückte sie mit einem Fluch. »Fahr zur Hölle, verdammt noch mal.«

»Wieso, brauchst du Gesellschaft?«, erwiderte Cartwright schlagfertig. Seine Mundwinkel zuckten, und am liebsten hätte sich Thomas auf ihn gestürzt, um ihn zu verprügeln.

Sein Blick fiel auf die Kristallkaraffe mit dem Brandy. Schade, dass sie zu den Lieblingsstücken seiner Mutter zählte, sonst hätte er sie nach ihm geworfen. So aber musste er sich damit begnügen, stumm bis zehn zu zählen, während er um den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung kämpfte. »Ich freue mich, dass du deinen Humor endlich wiedergefunden hast.«

»Es amüsiert mich ganz und gar nicht, dass Lady Amelia krank im Bett liegt. Dich hingegen …« Cartwright brach ab, als sei damit alles gesagt. »Also wirklich, Armstrong, du benimmst dich wie ein Steinzeitmensch, und das wegen eines Mädchens, an dem dir angeblich nichts liegt.«

Der Freund präsentierte ihm die Behauptung hübsch verpackt wie ein Geschenk, garniert allerdings mit einem vergifteten Pfeil. Wenn er es recht bedachte, musste Thomas sich eingestehen, dass er sich in der Tat sehr widersprüchlich verhielt.

»Egal, was ich für sie empfinde: Sie ist Gast in meinem Hause und steht unter meiner Obhut.«

»Liebe Güte, du hast sie mir praktisch aus den Armen gerissen. Findest du nicht auch, dass du es mit deiner Rolle ein klein wenig übertreibst?«

Wenn Cartwright sich einmal an einer Sache festgebissen hatte, weigerte er sich, von seinem Standpunkt wieder abzurücken. Was umgekehrt bedeutete, dass Thomas besser das Feld räumte. »Ich gehe lieber ins Arbeitszimmer. Wir sehen uns beim Dinner.«

Da es erst neun Uhr morgens war und das Essen nicht vor acht am Abend serviert wurde, war die Botschaft eindeutig. Lass mich in Ruhe.

Zuerst wusste Amelia nicht, was sie aufgeweckt hatte. Stille und Dunkelheit umgaben sie. Ihr war gleichzeitig heiß und kalt. Nach ein paar Sekunden spürte sie, dass jemand sich im Zimmer aufhielt, obwohl sie kein Geräusch hörte.

Abrupt drehte sie den Kopf, und ein erschrockener Schrei kam über ihre trockenen Lippen, als sie die Gestalt erblickte, die in einem Sessel neben ihrem Bett wachte.

Thomas.

Wachen stimmte nicht ganz, denn Lord Armstrong schlief, den Kopf gegen das burgunderrote Polster gelehnt, tief und fest.

Ihr fiebriger Geist versuchte zu ergründen, warum er bei ihr am Bett saß, aber sie fühlte sich zu benommen und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Erschöpft ließ sie den Kopf zurück auf das Kissen sinken und beschränkte sich darauf, ihn schweigend anzuschauen. In seiner Ruhe lag eine gewisse Verletzlichkeit, die ihn jünger erscheinen ließ.

Keine Minute verging, und er bewegte sich, wachte auf. Hatte er gespürt, dass sie ihn beobachtete? Jedenfalls richtete er sich plötzlich kerzengerade auf, wirkte irgendwie alarmiert und schlagartig hellwach. Die grünen Augen glitzerten hell in dem dunklen Raum, und sie spürte, dass er sie anschaute. »Ist irgendwas nicht in Ordnung? Soll ich den Arzt rufen?«, fragte er.

Amelia schüttelte schwach den Kopf. Erst jetzt merkte sie, wie trocken ihr Mund war. »Ich hätte gerne etwas Wasser«, flüsterte sie heiser.

Thomas sprang auf, um ihr das Gewünschte zu holen, kam kurz darauf mit dem Glas in der einen und einer Kerze in der anderen Hand zu ihrem Bett zurück. Jetzt im Dämmerlicht sah sie, dass er erschöpft wirkte, aber trotzdem unglaublich attraktiv. Verrückt, dachte Amelia, trotz ihrer Krankheit kamen ihr solche Gedanken in den Kopf, und sie spürte, wie sehr sie sich auch jetzt zu ihm hingezogen fühlte.

Anstatt ihr das Glas zu reichen, setzte Thomas sich zu ihr auf die Bettkante. Amelia erschrak, als er die Hand sanft unter ihren Kopf schob und ihn anhob. »Trinken Sie«, sagte er leise und führte das Glas an ihre Lippen.

Sein sanfter Befehl machte sie fügsam. Das Wasser, weder warm noch kalt, war köstlich und linderte den Schmerz in ihrer rauen Kehle. Sie trank das Glas vollkommen leer, bevor sie sich wieder in die Kissen zurücklegte. Trotzdem zog Thomas seine Hand nicht sofort zurück. Sie spürte den Druck seiner Handfläche und jeden Finger mit einer Deutlichkeit, die ihre Haut prickeln ließ – eine Empfindung, die weder vom Fieber noch von ihrem schmerzenden Körper kam.

»Soll ich noch etwas anderes holen?« Thomas blickte sie ruhig, dabei mit verstörender Eindringlichkeit an.

»Nein, mir geht es schon viel besser.«

»Haben Sie keine Magenschmerzen mehr?« Er zog die Hand unter ihrem Kopf fort, und sofort vermisste Amelia die Berührung wie eine Blume die wärmenden Sonnenstrahlen an einem winterlich kalten Tag. Doch nicht lange, und er legte seine Hand auf ihre Stirn. »Hm, Sie sind zwar nicht mehr so heiß wie vorher, aber immer noch ein bisschen warm. Jedenfalls bin ich froh, dass es Ihnen bereits etwas besser geht.«

Morgen würde sie sich vielleicht einreden, dass ihr geschwächter Zustand sie für seinen sanften Ton empfänglich gemacht hatte. Nur: Jetzt war nicht morgen früh, sondern mitten in der Nacht, und ihr Puls raste wie verrückt in Anbetracht seiner Nähe, seines typischen Duftes, der ihre Sinne jedes Mal betörte und den sie nun begierig einsog, als sei er ein Lebenselixier.

»Ja, auch mein Magen hat sich zum Glück beruhigt«, sagte sie flüsternd. Obwohl sich Mund und Hals nicht länger wie ausgedörrt anfühlten, schien ihr jetzt etwas anderes die Stimme zu rauben. Eine Krankheit, verheerend und gefährlich wie ein Scharlachfieber: Thomas Armstrong.

Er nahm die Hand von ihrer Stirn. »Sind Sie sich sicher? Sie sehen irgendwie verstört aus. Ist Ihnen nicht gut?« Sein Blick glitt über ihren Körper, der unter Decken und Laken verborgen war, doch Amelia hatte in diesem Moment das Gefühl, sie könnte genauso gut nackt vor ihm liegen.

»Es geht mir gut. Ich bin überzeugt, dass ich nur ein wenig Ruhe brauche.« Und überzeugt, dass du jetzt verschwinden solltest, damit ich wieder einen klaren Gedanken fassen, wieder zur Vernunft kommen kann.

»Dann gehe ich jetzt besser«, sagte Thomas fast liebevoll und erhob sich. Das hölzerne Bettgestell ächzte leise, als er sich erhob. Sein Gesicht lag wieder im Schatten.

»Wir sehen uns morgen früh.« Sein Blick schien noch einen Moment über ihr zu schweben, bevor er sich umdrehte, das Zimmer verließ und leise die Tür hinter sich schloss.

»Bitte bleib«, flüsterten Amelias Lippen immer noch, als er schon längst verschwunden war.