23

Amelias Blick schweifte über die Bronzeplastiken und Staffordshire-Figuren auf dem Rosenholzbord im Salon. Geschmackvoll arrangiert kam jede einzelne gut zur Geltung. Auch sie zog es vor, wenn ein Zimmer nicht überquoll von Tand und Zierrat, denn das war meist nur ein Zeichen für Geld, nicht aber von Geschmack. Ja, Lady Armstrong hatte aus Stoneridge Hall das gemacht, was jeder Mensch gerne stolz sein Heim nennen würde. Trotzdem: Ihres würde es nicht sein, und deshalb war es besser, wenn sie möglichst schnell abreiste.

Thomas und sie hatten eine Grenze überschritten, hinter die es kaum mehr ein Zurück gab. Wie sollte es auch angesichts der Hitze seiner Berührung, der Leidenschaft seiner Küsse, seiner ganzen besitzergreifenden Art, die ihre Gefühle auf Schwingen des Begehrens in schwindelnde Höhen trug. Doch nur allzu schnell würde sie in die dunkelsten Abgründe der Verzweiflung stürzen. Falls sie blieb, so Amelias Befürchtung, riskierte sie es, ihr Herz nicht mehr von ihm lösen zu können.

Seit Alex Cartwrights Abreise vor drei Tagen schlichen sie umeinander herum wie Fremde. Ihre Unterhaltung, wenn man es überhaupt so nennen durfte, beschränkte sich auf äußerst knappe Mitteilungen. Guten Morgen, ich bin heute in den Ställen. Und dann war er schon verschwunden, um frühestens gegen Abend wiederaufzutauchen. Ihre Arbeitsstunden verbrachte sie alleine. Beim Abendessen sprach er nur selten mit ihr, zog es stattdessen vor, sich nahezu ausschließlich mit Camille Foxworth zu unterhalten, die sich als dankbare Zuhörerin erwies. Sie hingegen wurde ziemlich ignoriert. Wie arrogant von ihm und wie typisch, dachte sie bitter.

»Lady Amelia?«

Sie erschrak, als sie ihren Namen hörte, und drehte sich rasch zu der blassen, dünnen Frau um, die im Eingang zum Salon stand. Wenn man vom Teufel redete oder, wie in diesem Fall, an ihn dachte …

Es war ihre Anstandsdame. Seit Neuestem beherzigte Camille Foxworth Amelias Rat und trug eine farbenfrohere Garderobe, die ihrem Teint mehr schmeichelte wie etwa das gelblich grüne Kleid mit dem wogenden Rock.

»Ist irgendetwas nicht in Ordnung? In letzter Zeit sind Sie so still.« Miss Foxworth näherte sich mit langsamen, zierlichen Schritten.

Amelia zwang sich zu einem schwachen Lächeln. »Es ist wirklich nichts. Ich war nur gerade tief in Gedanken versunken.«

»Vermissen Sie Ihr Zuhause?«

»Ja, vielleicht ein bisschen.« In diesem Fall war es einfacher zu lügen, als zwanzig Fragen zu beantworten oder die Wahrheit zu sagen.

»Können wir uns setzen? Ich würde gerne etwas mit Ihnen besprechen.« Miss Foxworth ging zu dem dunkelblauen Sofa an der linken Seite.

Du liebe Güte, das klang ja alles sehr geheimnisvoll. Amelia ließ sich auf einen Stuhl sinken, unterdrückte jeglichen Anflug von dunkler Vorahnung und ordnete zur Ablenkung eifrig ihre Röcke.

Ihre Anstandsdame nahm auf der Sofakante Platz, faltete die Hände im Schoß und setzte eine ernste Miene auf. »Ich möchte Ihnen sagen, dass Thomas keinerlei Absichten oder so auf mich hat.«

Amelia schaute sie konsterniert an. Mit allen möglichen Geständnissen hätte sie gerechnet, aber nicht mit solchen Offenbarungen. Im Leben nicht!

»Pardon?«

Miss Foxworth musterte sie mit klugem Blick. »Am Anfang, als ich herkam, habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie sich fragen, in welcher Beziehung wir zueinander stehen mögen. Oh, bitte verstehen Sie mich nicht falsch«, fügte sie hastig hinzu, »ich verüble Ihnen Ihre Reaktion selbstverständlich nicht. Wenn er mir seine Zuneigung schenken würde, könnte ich versucht sein, mich ähnlich zu verhalten. Und das ist der Grund, weshalb ich das Bedürfnis verspüre, Ihnen zu versichern, dass ich ihm nichts bedeute … Jedenfalls nicht in romantischer Hinsicht.«

Amelia lachte auf, erholte sich langsam von dem Schock, den Camilles Worte in ihr ausgelöst hatten – und zugleich von der Erkenntnis, wie genau diese unscheinbare Frau zu beobachten vermochte. »Sie irren sich sehr. Nichts könnte der Wahrheit weniger entsprechen.« Mit angehaltenem Atem achtete sie darauf, dass sie die Beherrschung wahrte und sich keine Blöße gab. »Und es geht mich überdies nichts an, worin die wahre Natur Ihres Verhältnisses zu Lord Armstrong besteht.«

Jetzt machte Miss Foxworth einen verwirrten Eindruck. »Das heißt, Sie sind auf ihn böse, nicht auf mich?«

»Nein, ich wollte sagen … Ja, also, was ich sagen wollte: Ich bin auf niemanden böse. Warum auch? Er kann sich mit so vielen Frauen einlassen, wie es ihm gefällt. Es geht mich nichts an.« Amelia glaubte, das unangenehme Thema sei damit beendet, doch sie hatte Miss Foxworths Hartnäckigkeit unterschätzt.

»Sie müssen verstehen. Seit wir in London waren, sind wir doch gut miteinander ausgekommen. Ich möchte einfach nicht, dass …«

»Wirklich, Miss Foxworth, ich finde nicht, dass ich …«

»Missbilligen Sie ihn wegen der Dinge, die Sie auf dem Ball geäußert haben?«

Du liebe Güte, wusste diese Frau nicht, wann Schluss war?

»Wenn der Fall so liegt, muss ich Sie leider eines Besseren belehren. Es ist nicht so, dass Thomas in der Stadt umherzieht und unterschiedslos mit jeder Frau ins Bett geht, die seinen Weg kreuzt. Das nehmen Sie doch an, oder?« Miss Foxworth schien unerschütterlich überzeugt von der Wahrheit ihrer Worte. Gerade so, als sei Amelia das bedauernswerte, unwissende Mädchen, während sie selbst sich gut unterrichtet gab und erfahren hinsichtlich der inneren Zusammenhänge menschlichen Verhaltens. Amelia fand das irgendwie unpassend. Wenn überhaupt müsste es umgekehrt sein.

»Der Mann ist gewiss kein Heiliger. Falls Sie mich davon überzeugen wollen, sparen Sie sich bitte Ihren Atem.«

Camille Foxworth nickte. »Das ist richtig. Ein Heiliger ist er gewiss nicht, aber zeigen Sie mir einen Mann, der einer wäre. Thomas ist über die Maßen freundlich, ergeben und sehr großzügig. Wissen Sie eigentlich, dass er meinem Bruder das Geld für den Eintritt in die Armee geliehen hat? Außerdem zahlt er seit damals die Miete für unsere Wohnung in der Stadt.« Ihre Stimme wurde weich. »Marcus und mir gegenüber hat Thomas Armstrong sich wie ein Heiliger benommen. Wir verdanken ihm sehr viel.«

Sie lachte bescheiden. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, es wäre einfach, sich in ihn zu verlieben.« Miss Foxworth senkte den Kopf und starrte auf die verschränkten Finger in ihrem Schoß. »Aber das würde ich als dumm empfinden. Obwohl er mich gernhat, ist er nicht auf diese Weise an mir interessiert. Ich bin für ihn, auch wenn er das höflicherweise bestreiten würde, nichts anderes als Marcus’ bedauernswerte jungfräuliche Schwester, die Schutz braucht, solange ihr Bruder im Krieg ist. Und Sie sollten wissen, dass ich damit zufrieden bin.« Sie schaute zu Amelia auf. »Niemals würde ich etwas tun, was unsere Freundschaft beeinträchtigen könnte.«

Warum erzählte Camille ihr das alles? Amelia hatte ihr doch bereits zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht für sie und Thomas und die wahre Natur ihres Verhältnisses interessierte. Und doch flatterte und pochte ihr Herz auf geradezu unerhörte Weise.

Obwohl sie die Weihnachtstage in Berkshire zu verbringen gedachten, wurde das Haus genauso geschmückt, als blieben sie auf Stoneridge Hall. Im Frühstückszimmer stand ein wundervoller Weihnachtsbaum, dessen starke Äste eine beachtliche Menge Bronze- und Silberschmuck trugen. Vor dem Nachthimmel im Hintergrund strahlten die Kerzen wie ein festliches Leuchtfeuer.

Doch trotz der Weihnachtsatmosphäre ringsum wollte bei Thomas keine festliche Stimmung aufkommen. Noch nie hatte er so angespannte Wochen verbracht wie die letzten drei, und das lag nur an Amelia – sie war schuld an seiner Unruhe, seiner Rast- und Schlaflosigkeit. Dass er ihr die Unschuld geraubt hatte, bereitete ihm Gewissensbisse, vermochte jedoch nicht sein brennendes Verlangen nach ihr abzutöten. Deshalb hielt er Abstand zu ihr, soweit es ihm möglich war.

Wie oft hatte er zu ihr gehen und ihr die Sache mit den Briefen erklären wollen, doch zwei Gründe hielten ihn immer wieder zurück. Erstens wusste er keine ernsthafte Entschuldigung vorzubringen, denn schließlich hätte er dem Rat ihres Vaters keine Folge leisten müssen, und zweitens spürte er, dass sie ein Friedensangebot von seiner Seite ausschlagen würde. Sie behandelte ihn wie einen Unberührbaren, und ihm schien, dass sie es zutiefst bereute, ihm ihre Unschuld geopfert zu haben.

Er zwängte sich zwischen Tischchen und Sofa hindurch und ließ sich in den Armsessel sinken, der dem Weihnachtsbaum gegenüberstand. Schweigend schaute er hinüber und sah, wie der kostbare Schmuck im schwachen Schein des Halbmonds, der durchs Fenster lugte, golden und silbern funkelte. Er war noch zu wach, um ins Bett zu gehen, und kein Buch könnte ihn zudem von den Gedanken an das ablenken, was er am liebsten tun würde. Nicht einmal ein Drink vermochte seine Nerven zu besänftigen oder seine verkrampften Muskeln zu lösen. Nein, in der vergangenen Woche war einfach nichts so gelaufen, wie es sollte.

Thomas ließ den Kopf auf das Polster sinken und schloss die Augen, ohne jedoch Amelias hübsches Gesicht aus seinem Kopf vertreiben zu können.

Das Rascheln von Stoff riss ihn aus seinen Gedanken. Er schlug die Augen auf und schnellte hoch, der Blick flog zum Eingang. Niemand anders als die Gestalt, die nachts seine Träume und tags seine Fantasien heimsuchte, glitt ins Zimmer und stellte sich vor den Weihnachtsbaum. Thomas blickte zur Standuhr neben dem Kamin: viertel vor elf.

Warum war sie noch unterwegs? Du lieber Himmel, warum hatte sie nicht mehr an als diesen seidigen blauen Fetzen Stoff – diesen Hauch von Morgenrock, der von ihren schlanken Schultern bis zu den bestrumpften Zehenspitzen fiel? Er starrte sie an wie ein Mann, der allzu lange keine Frau mehr berührt hatte.

Thomas stützte die Unterarme auf die gespreizten Beine. Amelia erschrak und wirbelte herum. Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn in der dunklen Ecke entdeckte, und sie griff sich an den Hals.

»Mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung, dass noch jemand außer mir auf den Beinen ist«, sagte sie und atmete hörbar, wandte sich wieder in Richtung Tür. »Ich wollte … ein Buch aus der Bibliothek, aber als ich den Baum entdeckt habe …« Ihre Stimme verstummte, und sie schluckte schwer. Röte stieg ihr in die Wangen.

»Es fällt mir schwer, den Blick von Ihnen und Ihrem Aufzug abzuwenden.« In dieser Sekunde beschloss er, dass die Zeit gekommen sei, seiner verfahrenen Lage ein Ende zu setzen.

Obwohl sie das dringende Bedürfnis verspürte, das Zimmer zu verlassen, blieb Amelia bei diesen Worten stehen. Konnte ihrerseits ebenfalls den Blick nicht abwenden. Thomas sah wie immer umwerfend aus, obwohl er sich sicher seit einem Tag nicht mehr rasiert hatte. Die Lider über seinen grünen Augen waren halb geschlossen, und er musterte sie von unten herauf. Wenn es überhaupt einen Mann auf der weiten Welt gab, der ihr gefährlich werden konnte, dann war es Thomas Armstrong.

»Ich … ich wollte mir nur noch einmal den Baum ansehen«, stammelte sie wie ein Kind, das vergessen hatte, was es sagen will.

Zwei tiefe Grübchen erschienen auf seinen stoppelbärtigen Wangen. In den Mundwinkeln zuckte ein Lächeln. Du lieber Himmel, er war wirklich attraktiver, als es einem erwachsenen Mann je erlaubt sein sollte. Amelias Blick schweifte zu den Weihnachtsgirlanden am Kaminsims. Diese Nervosität, die sie jedes Mal in seiner Nähe überfiel, war ihr zutiefst verhasst.

»Langsam erinnern Sie mich an Ihren Vater.« Er gab sich keine Mühe, seine Belustigung zu verbergen, und erhob sich geschmeidig.

Amelia kniff die Augen zusammen. Was um alles in der Welt wollte er damit sagen? Nein, sie war nicht wie ihr Vater. In keiner Hinsicht.

»Sie neigen zum Stammeln, wenn Sie unruhig sind. Genau wie er.«

Ihr Vater war niemals unruhig. Weshalb er auch nicht stammelte. Niemals. Genauso wenig wie sie! Jedenfalls war es so gewesen, bevor sie Viscount Thomas Armstrong begegnet war.

»Ich stammle nicht«, brachte sie hervor und war froh, zumindest nicht erneut ins Stottern zu geraten. »Hier unten ist es nur ziemlich kalt. Ich hätte daran denken sollen, dass das Feuer im Kamin schon gelöscht wurde.« Mehr fiel ihr nicht ein, um sich vor ihm nicht völlig lächerlich zu machen.

»Warum sind Sie so nervös?« Mit jedem Wort, das ihm über die sinnlichen Lippen kam, trat er einen Schritt näher. Wie um sich zu schützen, schloss sie die Augen.

»Ich …« Amelia unterbrach sich, als sie merkte, dass ihr schon wieder die Worte fehlten. Sie räusperte sich und drängte weiter in Richtung Tür. »Was Sie für Nervosität halten, ist nichts als Erschöpfung. Es ist spät, und ich bin müde.« Vergeblich versuchte sie, ihn selbstbewusst in seine Schranken zu weisen, doch ihr Auftritt blieb kläglich. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sodass ihre Stimme sich leise und atemlos anhörte.

»So müde können Sie eigentlich nicht sein, wenn Sie sich noch ein Buch holen wollten.«

Amelias Wangen brannten. Verfluchter Kerl.

»Sie laufen vor mir davon«, sagte er sanft.

Inzwischen stand er auf Armeslänge vor ihr, und als Amelia sich umdrehte, schlossen sich seine Finger um ihren Oberarm. Sein Griff war fest und fordernd … und warm. Heiße Flammen begannen in ihrem Innern zu lodern.

»Was machen Sie da?«, schnappte sie atemlos.

»Ich möchte herausfinden, warum Sie so nervös sind.« Unaufhörlich zog er sie näher. Amelia wandte sich ab, wollte weder seinen Oberkörper noch die Schultern oder die straffen Konturen seines Nackens sehen.

Sie schluckte. »Thomas, das dürfen Sie nicht tun.« Ihre schwache Stimme ließ sie selbst zusammenzucken. Schwacher Geist, schwacher Körper.

»Was darf ich nicht tun?«, murmelte er verführerisch.

Sein männlicher Duft wirbelte ihre Gedanken durcheinander, und seine Nähe ließ die unterschiedlichsten Empfindungen in ihrem Körper hochschießen.

Als sie einander das letzte Mal so nahe gewesen waren, lagen seine Hände auf ihren Brüsten, tanzte seine Zunge mit der ihren. Und dann war er es gewesen, der sich zurückzog, und nicht sie. Das wollte sie nicht noch einmal erleben, denn damit bestimmte er das Spiel.

Er senkte den Kopf. Sein verschleierter Blick ruhte hungrig auf ihren Lippen, die sie als Antwort darauf zu einem Strich zusammenpresste. Trotzdem wollten ihre Füße sich einfach nicht vom Fleck bewegen.

Rühr dich. Rühr dich. Rühr dich.

Plötzlich drang ein leises Schlurfen aus der Halle an ihre Ohren, und kurz darauf fiel ein Lichtstrahl ins Zimmer. Rasch trat Thomas zurück und richtete sich zu voller Größe auf, ein Bild vollkommener Selbstbeherrschung.

Amelia seufzte erleichtert und drehte sich weg. Ihren dünnen Morgenrock zog sie so fest um sich, als wolle sie sich damit vor seiner übermächtigen Ausstrahlung schützen.

»Gute Nacht.« Sie wagte es nicht, ihn anzuschauen, und eilte zur Tür.

»Am Samstag reisen wir nach Berkshire.«

Sie blieb stehen. »Muss ich mitfahren?«

»Glauben Sie wirklich, dass ich Sie hier über Weihnachten alleine lasse?« Er klang tatsächlich so, als sei schon der Gedanke mehr als absurd. Ihr Vater fiel ihr ein, der sich wegen solcher Bagatellen nie Gedanken gemacht hatte, denn mit dem Tod ihrer Mutter verlor das Weihnachtsfest für ihn jegliche Bedeutung. Und falls er zufällig einmal anwesend war, schloss er sich in seinem Arbeitszimmer ein und vergrub sich in seinen Geschäftsbüchern.

»Ich möchte das Fest aber lieber alleine verbringen.«

Thomas schaute sie entschlossen an. »Amelia, kein Wort mehr. Es bleibt dabei, dass Sie mit mir zu meiner Schwester fahren.«

Amelia nickte knapp, bevor sie hastig das Zimmer verließ. Insgeheim fragte sie sich, wie sie es schaffen sollte, die Feiertage mit Thomas Armstrong zu verbringen, ohne sich vollkommen aufzugeben.

Was zum Teufel war nur mit ihm los? Er hätte sie geküsst und weiß der Himmel was noch mit ihr getan, wäre er nicht von einem Diener unwissentlich vor sich selbst gerettet worden. Dieses verdammte Weib raubte ihm schier den Verstand.

Wie zerbrechlich sie ausgesehen hatte, als sie vor dem Weihnachtsbaum stand und hinaufschaute. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er an ihren Gesichtsausdruck dachte, an die zu Herzen gehende Traurigkeit in ihrem Blick. Und als sie sich abwandte, war in ihm irgendetwas aufgekeimt, vielleicht ein Jagdinstinkt, der die Menschheit vor der Auslöschung bewahrte. Als er sie Schritt für Schritt verfolgte, war ihm das Blut wild durch die Adern gerauscht, dazu das uralte Verlangen, zu besitzen und sich zu paaren …

Heftig schüttelte er den Kopf. Er musste sich wieder in den Griff bekommen. Zwei Wochen würden sie in den Mauern von Rutherford Manor verbringen, zusammen mit Missy, ihrer Familie und Cartwright. Sofort presste er die Lippen aufeinander. Zumindest dort musste er den Schein wahren und sein Verlangen nach Amelia zügeln. Gut, sie hatte ihn völlig in ihren Bann gezogen, aber das durfte nur vorübergehend sein.

Es sei schließlich nur eine heftige körperliche Reaktion, redete er sich ein, mehr empfinde er nicht für die renitente Lady. Vielleicht lag es ja auch daran, dass er keine Geliebte mehr hatte. Und außerdem: Welcher Mann blieb schon unempfänglich, wenn eine schöne und begehrenswerte junge Frau unter seinem Dach wohnte? Kein Wunder, dass er ein bisschen verrücktspielte. Er konnte nur darauf hoffen, dass sich das alles in Berkshire wieder einpegelte oder verschwand wie Fledermäuse beim Anbruch des Tages.