25

Thomas spürte die Kälte kaum und auch nicht den beißenden Wind, der sein Haar zerzauste. Die Abkühlung tat ihm gut, denn noch immer war sein Blut in Wallung nach dem elenden Disput mit Cartwright. Ziellos marschierte er durch die Gegend, wusste nur, dass er die unbändige Wut in seinem Innern loswerden musste, den primitiven Impuls, auf seinen Jugendfreund loszugehen.

Er hätte es nicht zulassen dürfen, dass Cartwright ihn reizte. Aber wenn es um Amelia ging, benahm er sich wie ein bissiger Hund im Zwinger. Und es war ihm zutiefst verhasst, dass ausgerechnet Alex ihn mit der Wahrheit konfrontierte.

Je weiter er sich vom Haus entfernte, desto mehr packten ihn die eisigen Böen. Dass er bei diesem Wetter überhaupt ohne Mantel nach draußen gegangen war, bewies einmal mehr seine Kopflosigkeit. Ein Mensch, der seine Sinne beisammen hatte, würde spätestens jetzt umkehren. Aber er war nicht vernünftig. Und zudem fror er lieber, als Missy, Cartwright und Rutherford unter die Augen treten zu müssen… und, lieber Himmel, Amelia. Er hätte ihr ebenso gut ein »Hände-weg-von- meinem- Eigentum«-Mal auf die Stirn brennen können, so wie er sich benommen hatte.

Hinter ihm waren Schritte zu hören. Thomas warf einen Blick über die Schulter.

Rutherford. Verflucht.

Gesellschaft war wirklich das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte – und mochte sie noch so gut gemeint sein. Er musste erst wieder zu sich kommen. Den Mantel allerdings, den der Freund über dem Arm trug, den würde er gerne annehmen.

Ohne ein Wort zu sagen, trat Rutherford an seine Seite und reichte ihm stumm den Mantel. Thomas blieb kurz stehen, um ihn anzuziehen, und setzte dann seinen ziellosen Weg fort.

Rutherford hielt sich neben ihm. »Willst du mir nicht erzählen, was es mit alldem auf sich hat?«, fragte er leise.

Gut eine halbe Minute marschierten sie schweigend nebeneinander. Ihr Atem hauchte frostige Kringel in die Luft.

»Es ist nichts«, entgegnete Thomas schließlich. Selbst wenn er das Bedürfnis danach verspürt hätte, wie sollte er dem Freund die vertrackte Situation erklären?

»Hat es mit Lady Amelia zu tun?« Rutherford musterte ihn von der Seite.

Thomas ignorierte es, wirbelte mit ungestümen Schritten den frisch gefallenen Schnee auf. »Das geht nur Cartwright und mich etwas an. Kümmere dich nicht darum«, stieß er schließlich knapp hervor.

Rutherford stopfte die Hände in die Taschen und starrte zu Boden. »Ich kann verstehen, warum du Harry den Wunsch abschlagen wolltest. Die junge Dame scheint wirklich ausgesprochen kapriziös und eigenwillig zu sein. Ich gehe jede Wette ein, dass sie noch störrischer und aufsässiger ist, als du erwartet hast.«

Thomas warf seinem Freund einen missbilligenden Blick zu. Es war, als ob irgendetwas in seinem Innern sich instinktiv gegen jede Kritik an Amelia auflehnte. »Störrisch und aufsässig würde ich sie nicht nennen.«

»Hast du aber. Als du das letzte Mal hier warst. Ich glaube, auch Worte wie unverschämt sind gefallen.« Rutherford schaute den Freund betont harmlos an.

Ja, das hatte er tatsächlich gesagt. Trotzdem gestand er niemandem das Recht zu, ihren Charakter schlechtzumachen. Verdammt noch mal, der Mann kannte sie doch gar nicht.

»So schlimm ist sie auch wieder nicht«, brummte er und ärgerte sich zugleich, dass er sie verteidigte.

In Rutherfords Mundwinkeln zuckte ein Lächeln. »Mag sein. Zumindest ist sie wirklich eine echte Schönheit«, meinte er.

»Meine Mutter und meine Schwestern sind ganz vernarrt in sie. Außerdem ist sie ausgesprochen intelligent.«

Aus der Kehle des Freundes drang ein ersticktes Lachen. Hastig räusperte er sich. »Wirklich? Das klingt ja, als sei sie eine Göttin.« Rutherfords Schultern zuckten vor unterdrücktem Gelächter.

Grundgütiger, der verdammte Kerl lachte ihn aus. »Verflucht, du auch noch. Vielleicht sollte ich auf der Stelle nach Devon zurückkehren.« Thomas drehte sich auf dem Absatz um und wollte zum Haus.

»Armstrong, du bist in sie verliebt. Warum gibst du es nicht einfach zu?«

Langsam drehte Thomas sich um, schaute den anderen an. Er fühlte sich, als hätte man ihm einen Schlag über den Kopf gegeben, so benommen hatte James’ Feststellung ihn gemacht. Liebe.

»Vier Jahre lang bin ich vor Missy davongelaufen. Und wohin hat es mich am Ende geführt? In ein Leben, das ihr gewidmet ist – und glücklicher, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Eines muss man diesen schönen, eigenwilligen und willensstarken, manchmal auch ärgerlichen Weibern lassen. Sie können einfach umwerfend sein. Und unwiderstehlich.« Wie immer bei der Erwähnung seiner Frau flammte ein Leuchten in seinem Blick auf, und seine Züge wurden weich.

Thomas begriff, worauf sein Freund hinauswollte. »Bitte, du solltest deine Beziehung zu meiner Schwester nicht mit meiner zu Amelia vergleichen. Das, was die Lady und mich verbindet, würde ich nicht einmal eine Beziehung nennen. Es sei denn, unablässige Streitereien zählen dazu.«

Und eine Leidenschaft, die heiß genug lodert, um tausend Wälder in Brand zu setzen.

Inzwischen waren sie auf der Rückseite des Hauses angekommen, nahe den Hecken, hinter denen sich eine sanft hügelige Landschaft erstreckte. Thomas’ Blick heftete sich an ein paar Wölkchen, die am sonst kristallklaren Himmel hingen.

»Was auch immer sich zwischen euch beiden abspielt, es muss sehr stark sein, wenn es dich so sehr berührt.« Beide Männer wussten, was damit gemeint war: dass er sich wie ein Dummkopf benahm, wenn es um diese Frau ging.

»Das liegt nur an Cartwright«, brummte Thomas und stopfte die Hände in die Manteltaschen.

Rutherford lachte trocken. »Nun, er treibt eben gerne seine Späße.«

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass das auf meine Kosten geht? Warum zum Teufel hast du ihn überhaupt zu Weihnachten eingeladen?« Thomas warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Du weißt doch ganz genau, dass ich in diesen Angelegenheiten nichts zu sagen habe. Mehr noch, deine Schwester vergöttert ihn.«

Ja, es stimmte, Cartwright kam ein ganz besonderer Platz in Missys Herz zu, seit ihrer Kinderzeit schon, als der Freund sie auf seinen Knien schaukelte.

»Willst du jetzt endlich zugeben, dass du in Lady Amelia verliebt bist?«

Thomas heftete den Blick wieder auf Rutherford und öffnete bereits den Mund, um energisch zu leugnen, doch er hielt inne. Der andere klopfte ihm tröstend auf die Schulter. »Falls es dir überhaupt ein Trost sein kann, dann lass dir gesagt sein, dass das Schlimmste vorbei ist, sobald du es dir eingestehst. Danach geht es im Grunde genommen nur noch darum, einen Hochzeitstermin festzulegen und vor den Altar zu treten.«

Amelia heiraten? Ein dumpfer Schmerz pochte in Thomas’ Brust. Er schluckte schwer. »Ich müsste vollkommen den Verstand verloren haben, daran auch nur zu denken. Sie als Ehefrau?«

Rutherfords Lippen zuckten. »Vielleicht nicht vollkommen.«

In Thomas’ Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Genau genommen hatte er sich praktisch bereits mit dieser Vorstellung abgefunden. Was sonst sollte ein halbwegs ehrenwerter Mann tun nach dem, was geschehen war. Im Grunde gehörte sie bereits ihm, und die Heirat wäre nur eine Legalisierung. Plötzlich fiel ihm eine tonnenschwere Last von den Schultern. Für ihn war es leichter, die Sache so zu sehen, statt von Liebe zu reden. Aber immerhin schienen seine Empfindungen für sie stark genug, um das Fundament einer Ehe zu bilden.

»Nun, vielleicht sollten wir zunächst einmal sehen, ob die Lady überhaupt will.« Thomas drehte sich um und eilte zum Haus.

»Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass sie dich längst am Haken hat«, hörte er Rutherford hinter sich murmeln.

Nachdem der Earl of Windmere das Haus verlassen hatte, warf Amelia einen Blick auf Alex, der aussah wie die Unschuld in Person. Aber das täuschte, wie sie inzwischen wusste, denn auch wenn er es äußerst charmant verpackte, zählte die Freude an Sticheleien und kleinen Boshaftigkeiten zu den hervorstechenden Eigenschaften dieses jungen Mannes aus den höchsten Adelskreisen des Königreichs.

Missy schaute ihn stirnrunzelnd an. »Und jetzt erklär mir bitte, was hier gespielt wird. Was geht vor zwischen meinem Bruder und dir?« Sie bekräftigte die Frage, indem sie ihm heftig einen Finger in die Schulter stieß. Alex zuckte übertrieben dramatisch zusammen, weil er ahnte, dass seine Jugendfreundin ihn unter Druck zu setzen versuchte.

»Ich habe doch gar nichts gemacht«, protestierte er mit gespielter Harmlosigkeit. »Dein Bruder sollte wirklich langsam lernen, sein Temperament zu zügeln.«

»Er könnte sich da draußen zu Tode frieren.« Missy piekste ihn jetzt mit der Fingerspitze in die Brust.

»Du hast doch gesehen, dass dein Mann ihm einen Mantel bringt«, sagte Alex und lächelte unverändert.

Missy verdrehte die Augen. »Du bist unmöglich«, entgegnete sie und klang aufrichtig verzweifelt. »Bei mir brauchst du dich nicht zu beklagen, wenn Thomas dich grün und blau prügelt.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihn stehen, wie sie das früher mit ihren lästigen kleinen Schwestern gemacht hatte. »Kommen Sie, Amelia, wir wollen frühstücken. Dann kann Alex sich unterdessen überlegen, wie er später seine Blessuren pflegen will.«

Auf das Objekt ihres Zornes schienen ihre Worte jedoch keinen Eindruck zu machen, denn Cartwright lächelte nur amüsiert und zelebrierte eine Verbeugung, die ihm bei Hof zur Ehre gereicht hätte, während die beiden Damen untergehakt wie Freundinnen durch die Halle davongingen. Er hörte noch, wie Missy sich beklagte, dass er ein unleidlicher Schuft geworden sei.

Kurz darauf betraten sie das Frühstückszimmer. »Bitte bedienen Sie sich selbst. Nur beim Abendessen achten wir auf Förmlichkeit«, lud Missy sie ein und deutete mit dem Kinn auf die Anrichte, auf der silberne Tabletts verschiedener Größe standen. Amelia, völlig ausgehungert, ließ sich das nicht zweimal sagen, zumal ihr köstliche Düfte in die Nase stiegen.

Missy lachte. »Gestern Abend habe ich meinen Bruder gebeten, jemanden nach Ihnen zu schicken, aber er bestand darauf, dass Sie noch Ruhe brauchen.«

Amelia wusste nicht, was sie antworten sollte. Obwohl in der Bemerkung von Lady Windmere keine Anspielung versteckt zu sein schien, erweckte Thomas’ Entscheidung beinahe den Eindruck, als habe er sie … schützen wollen. »Ich war ziemlich erschöpft«, sagte sie und häufte sich Teekuchen, pochierte Eier, Schinken und warmes Brot auf einen großen Teller, bevor sie zum Tisch hinüberging, wo ein großer, junger Lakai mit üppigem rotem Haar ihr den Stuhl zurechtrückte. Als er nach der Teekanne greifen wollte, winkte die Hausherrin ab. »Wir kommen zurecht, Stevens. Bitte sorgen Sie übrigens dafür, dass Lord Alex Cartwright kein allzu warmes Wasser für sein Bad gebracht wird.« Sie lächelte verschwörerisch. »Ein bisschen Kälte wird ihm guttun.«

Stevens nickte ohne Zögern, als ob solche Befehle an der Tagesordnung wären, und eilte mit einer Verbeugung davon, während Missy ihrem Gast den Sachverhalt erklärte. »So passend die Strafe auch sein mag, Stevens kennt mich lange genug, um zu wissen, dass ich es nicht wirklich ernst meine. Aber ich kann auch bei verrückten Dingen auf ihn zählen. Früher habe ich das zumindest getan, denn er war immer verschwiegen.«

Schönheit und Sinn für Humor. Amelia fand, dass die Countess of Windmere diese seltene Mischung perfekt verkörperte. Gewöhnlich begünstigte erst ein Mangel an Schönheit einen Sinn für Humor.

Nachdem sie eine Weile schweigend gegessen hatten, ergriff Missy das Wort. »Würden Sie mich vielleicht darüber aufklären, was diesen Streit in der Halle ausgelöst hat? Liegt zwischen Ihnen und Alex irgendetwas in der Luft?«

»N-nein!«

»Dann vielleicht zwischen Ihnen und meinem Bruder?«, fragte sie freundlich und nippte an ihrem Tee.

In Anbetracht der ersten Frage hätte Amelia sich über die zweite eigentlich nicht wundern sollen, doch sie fühlte sich unbehaglich und schaffte es nicht einmal, die Vermutung der Countess zu leugnen. »Äh …«

»Sie finden mich schrecklich aufdringlich, nicht wahr? Mein Mann behauptet immer, dass ich diesen entsetzlichen Charakterfehler wohl nie loswerde.« Allerdings klang dieses Geständnis in keiner Hinsicht beschämt oder entschuldigend.

Blitzschnell versuchte Amelia, ihre Gedanken zu sortieren. War es möglich, die Schwester des Mannes, um den es ging, in die problematische Beziehung einzuweihen?

Er ist mit mir ins Bett gegangen, und wir hatten atemberaubend leidenschaftlichen Sex. Aber trotzdem kommen wir nicht miteinander zurecht.

Sie verwarf die Idee. Irgendwie schien es nicht klug, das zu sagen. Jedenfalls nicht am Frühstückstisch.

»Lord Alex war nur freundlich zu mir. Jedenfalls glaube ich, dass er mich als Freundin betrachtet.« Es war viel einfacher, mit der ersten Frage anzufangen, denn ihr Verhältnis zu Cartwright war nicht kompliziert. Welches Spiel auch immer er treiben mochte: Er interessierte sich nicht wirklich für sie. Nicht als mögliche Ehefrau und vermutlich desgleichen nicht als Eroberung auf Zeit. Nur schien Thomas das nicht begreifen zu wollen.

»Und was ist mit meinem Bruder? Warum hätten die beiden sich in der Halle beinahe eine Prügelei geliefert?«

»Ich glaube, dass Lord Alex einfach nur seinen Spaß daran hat, ihn zu provozieren.« Obwohl es nur die halbe Wahrheit war, ließ sich das nicht von der Hand weisen.

Missy schaute sie nachdenklich an, während sie noch einen Schluck Tee trank. »Alex kann sehr provozierend auftreten. Allerdings wissen das nur diejenigen, die ihn gut genug kennen. Trotzdem gelingt es ihm lediglich äußerst selten, Thomas zur Weißglut zu treiben. Das muss seinen Grund haben, und da frage ich mich, wie lange Sie der Frage nach Ihnen und meinem Bruder weiter ausweichen werden.« Sie warf Amelia ein unschuldiges Lächeln zu, bevor sie sich eine Gabel mit Schinken in den Mund schob.

Diese Lady Windmere war wirklich unerbittlich, offenbar ein Charakterzug der Armstrongs. »Zwischen mir und Thom…, ich meine Lord Armstrong ist nichts.«

Missy zog fragend die Brauen hoch.

Amelia fuhr fort. »Mein Vater und er stehen sich sehr nahe, doch wir kommen im Grunde schlecht miteinander aus, werden uns aber während unseres Besuchs bei Ihnen zusammenreißen.«

Falls Amelia geglaubt hatte, die Countess würde die Sache damit auf sich beruhen lassen, sah sie sich bitter getäuscht. Gar nicht ladylike brach sie in schallendes Gelächter aus und konnte gar nicht mehr aufhören. Amelias Stimmung sank. Du liebe Güte, so amüsant waren ihre Worte nun auch wieder nicht!

»Oh«, Missys Schultern zuckten immer noch, und sie wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Eine Sekunde lang war ich tatsächlich überzeugt, dass Sie beide nichts füreinander empfinden.« Sie lachte ein letztes Mal, wurde dann schlagartig ernst. »Sie erwarten doch nicht, dass ich Ihnen diesen Blödsinn glaube.«

Amelia wurde blass. Es gab Menschen, die sie für dreist und unverschämt hielten, aber im Moment schien Lady Windmere ihr in dieser Hinsicht den Rang abzulaufen. Plötzlich fühlte sie sich ertappt und in die Defensive gedrängt. So einfach allerdings wollte sie sich nicht die Maske vom Gesicht reißen lassen. Sie nahm die Serviette vom Schoß und tupfte sich die Mundwinkel ab, um ein paar Minuten Zeit zu schinden.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, dass ich Sie richtig verstanden habe. Was meinen Sie damit?« Situationen wie diese verlangten eigentlich nach einer raschen und eindeutigen Antwort, doch es wollte ihr keine einfallen.

Die schiefergrauen Augen ihrer Gastgeberin wurden weicher, ihre Miene wirkte mädchenhaft zerknirscht. »Meine Liebe, ich hatte nicht vor, Sie aus der Fassung zu bringen.«

Amelia schüttelte benommen den Kopf, während Missy ihr einen Blick zuwarf, der so viel besagte wie Du armes Mädchen, warum machst du dir selbst etwas vor? Eine Denkweise, die ihr bestens vertraut war, weil sie selbst oft genug andere so betrachtet hatte.

Die Countess lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Frühstück, aß das letzte Stückchen Marmeladenbrot und trank einen letzten Schluck Tee. Amelia tat es ihr nach. Ihr ausgehungerter Magen forderte sein Recht.

»Mein Bruder ist für sein überschießendes Temperament bekannt. Aber das gehört eigentlich der Vergangenheit an.« Missy legte das Besteck auf dem Teller ab und gab damit zu verstehen, dass sie fertig war. »Das letzte Mal habe ich ihn wegen James kurz vor einem Gewaltausbruch erlebt.« Ihr Blick lebte auf, als sie den Namen ihres Mannes erwähnte, und ein sanfter Seufzer glitt ihr über die Lippen. »Damit hätte man allerdings rechnen können, sobald Thomas davon erfuhr, dass James und ich … Nun ja, er hat mich kompromittiert, wie man das so schön zu nennen pflegt. Thomas war drauf und dran, ihn auf Pistolen zu fordern.«

Amelia unterdrückte ihre Überraschung über diese Eröffnung, und sie fragte sich, was Lady Windmere wohl damit bezweckte. Wollte sie sie schockieren? Doch ein Blick in das Gesicht der jungen Frau zeigte ihr, dass die Erinnerung daran sie zu amüsieren schien.

»Unglücklicherweise – oder vielleicht auch glücklicherweise – war es mir anzusehen, wie entschlossen ich war, James als Ehemann zu gewinnen. Ich war verliebt und zugleich schrecklich naiv. Aber wie Sie sehen, hat sich alles zum Besten gefügt. Denn mein Leben könnte nicht glücklicher sein.« Das Lächeln zeigte nicht nur strahlend weiße Zähne, sondern ließ auch erkennen, wie überaus zufrieden und dankbar Missy war.

»Aber um auf den Punkt zurückzukommen, um den es mir geht. Im Grunde ist mir bereits im letzten Jahr bei unserer ersten Begegnung klar geworden, dass Sie vermutlich eine bedeutende Rolle in seinem Leben spielen werden.« Amelia öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch Missy gab ihr mit der Hand ein Zeichen, sie erst ausreden zu lassen. »Und als mir zu Ohren kam, was im August auf dem Ball von Lady Stanton geschehen ist, bestätigte das nur meine Vermutung. Sie reagieren einfach zu impulsiv auf ihn. Und Thomas? Anstatt Sie ohne viel Federlesen fortzuschicken, wie er es sonst mit Frauen macht, lässt er Sie so nahe an sich heran, dass es ihn berührt. Noch nie habe ich meinen Bruder so erlebt. Ganz im Gegenteil.«

Amelia saß stumm auf ihrem Stuhl und bemühte sich, die aufsteigende Angst in ihrem Innern zu unterdrücken. Sie fühlte sich entsetzlich durchschaut und irgendwie entblößt, als stünde sie nackt vor dieser Frau, die genau wie ihr Bruder offenbar in der Lage war, bis in die tiefsten Winkel ihrer Seele zu blicken. Jedes Leugnen und jede Verteidigung waren zwecklos. Sie würde ihre Worte mit einer lässigen Geste beiseitefegen.

»Sind Sie in meinen Bruder verliebt?«

Ein paar Monate zuvor hätte die Frage in ihren Ohren so absurd geklungen, dass sie in schallendes Gelächter ausgebrochen wäre. Oder vielleicht würde sie ihre kleine Nase arrogant in die Luft gereckt haben, als würde die Dreistigkeit dieser Unterstellung sie beleidigen. Aber seit August war einige Zeit verstrichen. Genug, um ihr Herz zu verlieren. Amelia lachte nicht, saß nur verwirrt auf ihrem Stuhl. Ihre Kehle war so zugeschnürt, dass sie kaum schlucken konnte. Die Erkenntnis traf sie wie ein Keulenschlag: Sie hatte ihr Herz verloren, nur wollte sie es sich bislang nicht eingestehen.

Nein. Nein. Nein. Ich bin nicht in ihn verliebt. Noch viel wichtiger, ich will ihn nicht lieben.

Vergeblich redete sie sich das alles ein, denn kein Wort des Protests kam über ihre Lippen. Ich kann ihn nicht lieben, jammerte ihre innere Stimme weiter, in seiner Nähe verliere ich ständig meine Selbstbeherrschung.

Ja warum nur?

Amelia blinzelte und schluckte schwer. Weil sie sich verliebt hatte.

»Ich sehe, ich habe Sie in Verlegenheit gebracht«, sagte Missy. »Ich möchte Sie nicht weiter bedrängen. Vielleicht sind Sie noch nicht so weit, dass Sie es sich eingestehen. Denken Sie in Ruhe über meine Worte nach.« Sie tätschelte Amelia aufmunternd die Hand. »Wir sind ja fertig mit dem Frühstück. Hätten Sie vielleicht Lust, mich nach oben ins Kinderzimmer zu begleiten und sich die Zwillinge anzuschauen?«

»Ja, ich würde die Kinder sehr gerne sehen«, erwiderte Amelia und sehnte sich danach, endlich ein anderes Thema anschneiden zu dürfen. Sie war nur zu bereit, sich auf etwas zu stürzen, was sie nicht zwang, Thomas zu sehen, zu fühlen, an ihn zu denken oder über ihn zu sprechen.

Die Countess erhob sich. »Dann kommen Sie mit.«

Den restlichen Tag verbrachte Amelia mit Missy – wie sie Thomas’ Schwester jetzt nennen sollte. Die Anrede mit dem Titel mache sie alt, fand die junge Frau und führte ihre Besucherin zu den vier Monate alten Zwillingen Jason und Jessica. Bislang hatte Amelia kaum Kontakt mit Kindern gehabt, am allerwenigsten mit Babys, und trotzdem war sie immer der Meinung gewesen, dass es ihr liegen würde. Deshalb fand sie die beiden Kleinen auch einfach anbetungswürdig: die rosigen Wangen, den pummeligen Körper, das niedliche Lächeln und die unschuldige Bedürftigkeit. Stundenlang hätte sie mit ihnen schmusen können, doch als Jason auf ihrem Arm einschlief, war das für Missy ein Zeichen, die Zwillinge wieder in ihre Wiegen zu legen.

Als Nächstes lernte sie die sechzehn Jahre alten Zwillingsschwestern des Earl of Windmere kennen, die einer Liaison seines Vaters entstammten. Catherine und Charlotte waren ebenfalls zauberhaft. »Exotisch« schoss es Amelia durch den Kopf, als sie den dunklen Teint der Mädchen sah und als Kontrast dazu die blonden Haare. Die Augen schillerten im gleichen Blau wie die ihres Bruders. Amelia konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Gentlemen sich in zwei Jahren, bei ihrer Einführung in die Gesellschaft, auf die hübschen Rutherford-Zwillinge stürzen würden.

Anfänglich begrüßten die Schwestern den Gast zurückhaltend, jedoch mit Höflichkeit und Ehrerbietung, wie man es ihnen auf dem strengen Internat beigebracht hatte, auf dem sie Jahre verbrachten, ehe ihr Bruder sie in sein Haus holte. Als sie dann aber gemeinsam beim Nachmittagstee saßen, legten sie ihre Zurückhaltung ab und beteiligten sich lebhaft am Gespräch der Frauen.

Catherine gab sogar ganz unverblümt die Geschichte ihrer Herkunft zum Besten und bezeichnete sich und ihre Schwester als Ergebnis eines Fehltritts. Allerdings kam auch tiefe Dankbarkeit dem Bruder gegenüber zum Ausdruck, der erst vor einem Jahr, nach dem Tod des Vaters, von ihrer Existenz erfahren und sie umgehend aus dem tristen Internat geholt hatte. Seither sei in ihrem Leben nichts mehr wie vorher, schloss Catherine lächelnd. Um ihr den Spaß nicht zu verderben, tat Amelia überrascht, obwohl die Geschichte in den Londoner Salons natürlich das Gesprächsthema Nummer eins gewesen war.

Charlotte hingegen schien sich dafür zu interessieren, in welcher Beziehung Amelia zu Alex Cartwright stand, wenngleich sie nur vorsichtige Fragen stellte. Ob sie sich schon begegnet seien? Ob sie gewusst habe, dass er einen Tag früher aus London angereist sei? Nein, hatte sie nicht. Wie schön. Alex und Thomas seien ja so unendlich freundlich zu ihnen, schwärmte sie. Ob sie wisse, dass Alex sehr geschickt reparieren könne? Und erst seine Augen! Zauberhaft fand sie die, im metaphorischen Sinne, wie sie sagte. Das Mädchen verfügte über ein Vokabular, als hätte es Literatur studiert. Ihre Gefühlslage jedoch war äußerst einfach zu durchschauen, wobei Amelia sich für sie bei Alex Cartwright keine Chancen ausrechnete. Arme Charlotte. Sie war vermutlich eindeutig zu jung und unschuldig für diesen Schwerenöter.

Nach der Teestunde zog Amelia sich in ihr Zimmer zurück, um sich bis zum Abendessen auszuruhen. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Seit Thomas morgens aus dem Haus gestürmt war, hatte er sich den Tag über rar gemacht, während sie vergeblich auf einen Blick von ihm wartete. Jedes Mal, wenn sie Schritte in der Halle hörte, stockte ihr der Atem, und ihr Herz flatterte wie die Flügel eines Kolibris. Doch niemals war es Thomas gewesen, sondern nur ein Diener, der seinen alltäglichen Pflichten nachging.

Obwohl Missy ihre Unruhe, ihr ständiges Horchen bemerkte, gab sie keinen Kommentar dazu ab. Nur ein mitfühlendes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel und ließ erkennen, dass auch die Countess of Windmere Ähnliches durchmachen musste, bis sie ihr Glück fand.

Amelia lag bis auf Hemd und Strümpfe ausgezogen auf dem Bett und ließ den Blick träge über den durchsichtigen blauen Baldachin gleiten. Sie war in Thomas Armstrong verliebt. Und falls es sich nicht um echte Liebe handelte, dann eben um irgendeine andere herzzerreißende Empfindung, die dem sehr nahe kam.

Aber war es nicht nur die Liebe, die ein solches Wechselbad der Gefühle bewirken konnte, wie sie es erlebte. Die einen Menschen von den höchsten Gipfeln in tiefste Abgründe stürzte. Die sie unsicher machte, ob sie überhaupt noch mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand, und dafür sorgte, dass sie mit jeder Faser ihres Daseins nach ihm verlangte und danach, dass ihre exzessiven Gefühle endlich ein Ende hatten. Sehnsucht, Zorn, Leidenschaft – auch sie trugen ihr Scherflein bei.

Du lieber Himmel, noch nie hatte sie ihre Gefühle mit solcher Eindringlichkeit erlebt. Jedenfalls nicht mehr seit dem Tod ihrer Mutter. Damals fing sie an, sie nicht mehr zuzulassen, sie zu verdrängen. Hüllte sich in einen schützenden Nebel der Benommenheit, die ihren Schmerz überlagerte, der sie bei jedem Gedanken an ihre Mutter ergriff und der ihr Herz wie mit tausend Dolchspitzen zu durchbohren drohte.

Amelia drehte sich auf die Seite, stopfte sich das Kissen unter die Wange und atmete zittrig aus. Es war berauschend, überhaupt wieder etwas empfinden zu können. Als ob neues Leben sie durchströmte. Aber dieser Zustand barg auch Gefahren, ganz besonders jetzt, wo sie ihr Herz an einen Mann verschenkt hatte, über dessen Gefühle sie sich nicht wirklich im Klaren war. In dem einen Augenblick konnte er sie leidenschaftlich lieben und sie im nächsten behandeln, als wäre er froh, wenn er sie nicht mehr sehen müsste. Er stellte sie nicht wie Lord Clayborough auf irgendein unsichtbares Podest und verehrte sie wie die Jungfrau Maria. Lust und Leidenschaft allerdings dürfte es bei ihm kaum gegeben haben, keine wilden Küsse, keine herrlichen Liebesnächte. Er hätte ihr nur Sicherheit und Schutz geboten, für ihr Geld allerdings. Aber wollte sie wirklich den Rest ihrer Tage so verbringen, so gefühl- und lieblos – jetzt, wo sie wieder den Herzschlag des Lebens in sich verspürte? Eine Frage, die sie bis in den unruhigen Schlaf verfolgte.

Den größten Teil des Tages sonderte Thomas sich ab, ging jeder Gesellschaft aus dem Weg. Allerdings zog es ihn einmal in Richtung der Kinderzimmer, aus denen fröhlicher Lärm klang. Das Jauchzen der Babys und die fröhlichen Stimmen junger Frauen, die er nur zu gut kannte. Durch die leicht geöffnete Tür betrachtete er die Szene. Amelia schmuste mit seinem Neffen, redete mit ihm und verteilte zärtliche Küsse über sein Gesicht. Sie sah glücklich aus und irgendwie mütterlich, wie er zu seiner Überraschung feststellte. In diesem Licht hatte er sie noch nie gesehen. Als Mutter. Auch nicht am Morgen draußen im Park, als er sich entschloss, sie zu heiraten. Da spielte neben der Verpflichtung als Ehrenmann eher die Aussicht mit, ihren Körper uneingeschränkt genießen zu können. Kinder? Natürlich, die würden eine unausweichliche Folge ihrer heftigen Leidenschaft sein, doch er hatte sie bisher nie direkt mit ihr in Verbindung gebracht.

Jetzt angesichts des Bildes, das sich ihm bot, merkte Thomas, dass seine Gefühle viel tiefer reichten als zuvor angenommen. Tiefer als ein Ozean. Und plötzlich erkannte er in ihr auch die Mutter seiner Kinder und die Frau, die er für immer in seinem Leben haben wollte. Noch etwas fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Er hatte sie ungerecht behandelt. Amelia verdiente mehr als nur eine heiße Liebesnacht, so großartig die auch sein mochte. Es gebührte ihr, dass man ihr nach allen Regeln der Kunst den Hof machte, ganz wie es sich für eine Lady ihres Standes schickte.

Und für seine zukünftige Viscountess.