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Thomas hatte Amelia just in dem Moment stehen lassen, als ihre Erstarrung der Entrüstung wich. Kaum war er weg, schwang sie herum und rauschte entschlossen durch den Ballsaal in Richtung Ausgang. Den Kopf leicht zur Seite geneigt und den Blick erhoben ließ sie weder Beschämung noch ein schlechtes Gewissen erkennen. Ganz die Amelia, wie man sie kannte.

»Wie ich sehe, ist Harrys Sprössling recht angetan von dir.«

Thomas drehte sich um. Alex Cartwright war es, der nun seinerseits den ganzen Ärger seines Freundes zu spüren bekam und mit einem unheilvollen Blick bedacht wurde. »Du hättest dir etwas Besseres einfallen lassen sollen, als mich heute Abend hierherzuschleppen. Soweit ich weiß, hast du die ganze Sache mit dieser kleinen …«

»Na, na, na, ein Gentleman sollte niemals ein böses Wort über eine Lady verlieren«, spottete Cartwright.

Thomas warf ihm einen vernichtenden Blick zu, doch Cartwright zuckte nicht einmal mit den Brauen, fuhr sich nur gelangweilt mit der Hand durch sein dichtes schwarzes Haar.

»Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als selbst die Lorbeeren für diese Sache einzuheimsen, aber die Ehre, dir die Abfuhr des Jahrzehnts verpasst zu haben, gebührt einzig und allein Lady Amelia.«

Thomas sagte nichts. Natürlich hätte die Schadenfreude seines Freundes nicht größer sein können, es sei denn, er wäre mit nacktem Hintern bei einer Frau von zweifelhaftem Ruf erwischt worden, die gerade versuchte, seiner schlaffen Männlichkeit ein wenig Leben einzuhauchen. Sein Blick kehrte zu Amelia zurück, die soeben mit ihrer Anstandsdame den Ballsaal verließ. Sich sozusagen davonstahl. Also genau das tat, was sie tun sollte.

»Nun, dann wirst du mir bestimmt verraten, wieso sich die Lady in dieser Weise über deine Liebeskünste auslassen beziehungsweise diese dermaßen verunglimpfen konnte. Hast du sie ihr schon einmal angeboten? In diesem Zusammenhang fällt mir gerade ein, dass Missy kurz vor deinem ersten Zusammenstoß mit der Lady gesagt hat, du hättest sie mit den Augen verschlungen wie ein Hungerleider das Buffet bei einem Empfang.«

Langsam drehte Thomas den Kopf und schaute Cartwright an. Einen Moment lang verspürte er die Versuchung, ihm das süffisante, selbstzufriedene Lächeln mit den Fäusten aus dem Gesicht zu prügeln. »Zu jener Zeit war meine Schwester nichts als ein liebeskrankes, liebestolles Frauenzimmer. Und das ist sie immer noch. Jeden Blick zwischen einem Mann und einer Frau kommentiert sie mit ihren dummen, angeblich romantischen Bemerkungen. Offenbar kann ich es nicht einmal mehr wagen, eine Frau anzuschauen, ohne dass alles Mögliche hineingedeutet wird.«

»Trotzdem meine ich mich daran zu erinnern, dass deine letztjährige Geliebte mehr als nur flüchtige Ähnlichkeit mit Lady Amelia besaß. Ich glaube, ich habe es bereits ein- oder zweimal erwähnt.« Cartwright hob die Brauen und zog ein Gesicht wie ein Falschspieler, der den höchsten Trumpf in der Hand hält.

Thomas gab einen verärgerten Laut von sich. Ein- oder zweimal, das war ja lachhaft. Cartwright hatte ihn mit diesem Vergleich so unter Beschuss genommen, dass Thomas sich gezwungen sah, die Affäre zu beenden, nur damit endlich Ruhe herrschte. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Und dass du dich in solchen Andeutungen ergehst, ist selbst für einen Mann von deiner beschränkten Intelligenz ein Armutszeugnis.«

»Ich mag ja weniger schlau sein als du«, sagte Cartwright schadenfroh, »aber was mich betrifft, so würde ich es nicht dulden, dass irgendeine Frau meine Männlichkeit zum Gespött der Salons macht.«

»Soweit ich es beurteilen kann, haben nur die Männer gelacht. Diese gehässigen Dreckskerle. Frauen sind scharfsinnig genug, Bosheiten zu erkennen. Und aufmerksam genug zu merken, wann die Schraube überdreht ist. Liebe Güte, ihr Ruf ist doch allgemein bekannt. Ich bin mir sicher, dass Cromwell und Clayborough immer noch an Frostbeulen leiden, weil sie sie zu sich ins Bett genommen haben. Und überhaupt, wer ist sie eigentlich, dass sie sich anmaßt, über einen Mann zu urteilen, im Bett oder außerhalb?«

Cartwright zuckte zusammen, und Thomas wechselte das Thema.

»Gestern hat Harry mich gebeten, sie während seiner Reise nach Amerika zu mir nach Devon zu nehmen. Ich habe natürlich abgelehnt. Allerdings …« Nachdenklich ließ Thomas den Blick durch den Raum schweifen.

»Aber?«, drängte Cartwright nach kurzem Schweigen.

»Jetzt sehe ich, dass ich mich geirrt habe. Ich schulde Harry diesen Gefallen.«

In Cartwrights silbergrauen Augen glitzerte es amüsiert. »Und seiner Tochter?«

»Oh, ihr bin ich noch viel mehr schuldig.«

»Nun, was ist das für ein Spiel, das du da planst? Beabsichtigst du, sie zu verführen? Der Himmel möge dir beistehen, wenn Harry davon Wind bekommt. Er wird dich ohne Zögern mit einem kräftigen Händedruck in der Familie willkommen heißen.«

Thomas schauderte. Schon der bloße Gedanke, mit Lady Amelia verheiratet zu sein, war ein einziger Albtraum. Er hatte anderes im Sinn. Ihr eine Abfuhr zu erteilen, indem er sie hernahm, bis sie wimmernd und stöhnend auf dem Boden lag, das empfand er als vulgär. Mochte sie es noch so sehr verdient haben.

»Ich soll mir dieses kleine Luder ins Bett holen? Mein Gott, nein. Ich habe vor, sie zu strafen und sie nicht noch zu belohnen. Ich versichere dir, für sie wird es nicht besonders vergnüglich werden. Oder barmherzig.«

Cartwright warf den Kopf zurück und lachte laut. »Ich bitte inständig darum, dass du mir einen Platz in der ersten Reihe reservierst, wenn das Spektakel losgeht.«

Sein Freund schwieg kurz, und seine Miene wurde wieder sachlich. »Es könnte dich übrigens interessieren, dass man Lady Lou in der Stadt gesehen hat. Oh, Verzeihung, ich meine natürlich, Ihre Hoheit. Sie ist aus Frankreich zurück, für immer, wie es diesmal aussieht. Mir wurde zugeflüstert, dass sie sich diskret danach erkundigt hat, was du so treibst.«

Thomas erstarrte. Was zum Teufel wollte diese Frau von ihm? Nach allem, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, konnte sie ihm unmöglich etwas zu sagen haben. Jedenfalls nichts, was er hören wollte.

»Soll sie sich doch erkundigen«, stieß er hervor.

»Ich rechne damit, dass sie heute Abend hier auftauchen wird. Und man sagt, dass sie neuerdings gesteigerten Wert darauf legt, elegant auszusehen. Es wird also einen großen Auftritt geben.«

Mehr brauchte Thomas nicht zu hören. »Dann werde ich ganz unelegant früh verschwinden.« Er eilte zur Tür.

»Du rennst doch nicht etwa vor ihr davon?« Cartwright klang einerseits amüsiert, andererseits ungläubig.

Thomas blieb stehen und warf seinem Freund einen Blick über die Schulter zu. »Ein kluger Mann rennt nicht, denn das beschwört nur eine Jagd herauf. Ein kluger Mann geht aus dem Weg. Und genau das habe ich vor. Ihr aus dem Weg zu gehen.«

Cartwrights Gelächter klang ihm noch in den Ohren, als er den Ballsaal schon längst verlassen hatte.

Am nächsten Tag litt Amelia immer noch unter den Eindrücken des vergangenen Abends. Lustlos saß sie beim Frühstück, als ihr Vater sie zu sich ins Herrenzimmer bitten ließ. Bang fragte sie sich, ob wohl Miss Crawford trotz der frühen Stunde bereits gepetzt hatte. Ihr Herz pochte wie verrückt, als Amelia sich mit der Serviette den Mund abtupfte und sich mit gerafften Röcken vom Tisch erhob.

Angesichts der heiklen Lage, in die sie sich mit ihrem Fluchtversuch vor ein paar Tagen gebracht hatte, und des unglückseligen Fauxpas von gestern, bei dem praktisch ganz London Zeuge wurde, hielt sie es für unklug, ihren Vater warten zu lassen.

Ihre Schritte glitten leicht über den polierten Holzfußboden, als sie noch einmal die schrecklichen Ereignisse Revue passieren ließ. Zumindest war ihr gemeinsam mit Miss Crawford ein trotz aller Hast würdevoller Abgang gelungen. Amelia hatte jeden Blickkontakt mit den Gästen vermieden, deren Mienen zwischen milder Zurechtweisung und höchster Belustigung schwankten. Nach einer schweigsamen Kutschfahrt war sie nach Mitternacht ins Bett getaumelt, ohne einen ruhigen Schlaf zu finden, denn immer wieder schrak sie aus verstörenden Träumen auf, in denen er sie küsste.

Zur Strafe.

Mit fahrigen Händen strich Amelia ihr Haar glatt, das zu einem schlichten Knoten geschlungen war, und atmete tief durch, bevor sie zweimal an die schwere Eichentür klopfte. Diesmal wartete sie die Aufforderung zum Eintreten ab und öffnete langsam die Tür, nicht dass sie wieder jemanden umstieß.

Lord Bradford saß in seinem ledernen Armsessel, die Lesebrille auf seiner Nase und in irgendwelche Akten vertieft. Anders als am Tag zuvor war seine Kleidung tadellos und das Halstuch frisch gestärkt. Er schien wieder ganz der Alte.

»Ah, Amelia, ich hatte schon befürchtet, ich muss dich holen lassen. Setz dich, wir haben etwas zu besprechen.« Er deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. Nicht unbedingt in der Art eines erbosten Vaters, der soeben skandalöse Neuigkeiten über seine Tochter erfahren hatte. Nein, er schien eher zu lächeln. So sah er aus, wenn ein vielversprechendes Geschäft kurz vor dem Abschluss stand.

Trotzdem empfand sie Unbehagen, als sie näher an den Tisch trat. Er schien ihr ein wenig zu glücklich, zu leutselig, zeigte nicht die Spur von Ungeduld, die er sonst ihr gegenüber an den Tag legte. Ihre Begegnungen erschöpften sich gewöhnlich in einem kurzen Wortwechsel. Außerdem schenkte er ihr nicht seine volle Aufmerksamkeit, sondern schaute weiter in seine Unterlagen. Auch das ein Indiz, dass kein neuer Ärger ins Haus stand.

Amelia presste die Kiefer zusammen, schob die Schultern zurück und nahm auf dem Stuhl Platz, der der Tür am nächsten stand, beschäftigte sich angelegentlich damit, ihre Röcke so zu arrangieren, dass die spitzenbesetzten Volants symmetrisch übereinanderlagen. Falls ihr Vater sie gerufen hatte, um ihr zu eröffnen, dass er sie zu verheiraten gedachte, dann konnte er sich auf den Kampf seines Lebens gefasst machen.

Harold Bertram richtete den Blick in den hinteren Teil des Zimmers. »Thomas, setz dich bitte zu uns.«

Erschrocken rutschte Amelia auf ihrem Stuhl hin und her und entdeckte ihren personifizierten Albtraum vor dem Bücherregal, wo er die Rückenschilder der Lederbände studierte.

Ihr Herz startete einen wilden Galopp, und sie hatte das Gefühl, die dunkle Decke würde sich auf sie herabsenken und ihr die Luft zum Atmen nehmen, die gesamte Luft aus dem Raum saugen. Thomas Armstrong hingegen schaute sie mit harmlos distanziertem Blick an. Wie war es nur möglich, dass sie seine Anwesenheit nicht gespürt hatte, als sie die Schwelle überschritt? Wo seine Präsenz doch jeden Winkel des Zimmers zu beherrschen schien.

»Guten Morgen, Lady Amelia.« Die Begrüßung kam ihm geschmeidig über die Lippen.

»Lord Armstrong.« Sie brachte die Zähne kaum auseinander und nickte nur andeutungsweise in seine Richtung, bevor sie sich wieder umdrehte.

Eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass er es tun würde. Und doch stand er hier, war zu ihrem Vater gerannt und hatte ihm den Vorfall des letzten Abends brühwarm aufgetischt, kaum dass die Morgensonne den Tau auf dem Gras verdunsten ließ. Der Kerl war ja noch schlimmer als die klatschsüchtigen Matronen in den Salons, dachte sie und verfluchte ihn stumm mit einer Reihe erlesener Schimpfwörter.

Weil sie weder ihn noch ihren Vater anzuschauen vermochte, richtete sie den Blick in eine unbestimmte Ferne. Doch gleichgültig, wie sehr sie sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren versuchte – sie spürte genau den Moment, in dem Armstrong nur wenige Schritte vor ihr stehen blieb. Mit der Lautlosigkeit einer Raubkatze im Dschungel schlich er sich an, obwohl der Duft seine Nähe so eindeutig ankündigte wie ein Fanfarenstoß den König. Er ließ sich auf dem Armsessel neben ihr nieder und streckte die Beine, die in waldgrünen Hosen steckten, lässig vor sich aus.

»Du weißt, dass ich mich um eine Verbleibmöglichkeit für dich kümmern wollte, wo du während meines Aufenthalts in Amerika angemessen untergebracht bist«, fing ihr Vater an. Seine Worte weckten auf der Stelle ihre Aufmerksamkeit, schärften alle ihre Sinne.

Ungläubigkeit und Entsetzen überfielen sie, stürzten sie in ein Wechselbad der Gefühle.

»Also, Lord Armstrong hat sich freundlicherweise bereit erklärt, dich in seine Obhut zu nehmen.«

Amelia stöhnte wütend auf, schob die Hände zitternd in ihren Schoß und krampfte die Finger in den himmelblauen Seidenbatist.

Mich in seine Obhut nehmen! Als ob sie irgendein Gegenstand wäre, den es zu verwalten galt. Sie unterdrückte einen Gefühlsausbruch und starrte ihren Vater an, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Was sollte das alles? Sie verstand den Sinn dahinter nicht.

Hatte er wirklich vor, sie in London in der Reederei arbeiten zu lassen? Was für eine lächerliche Vorstellung. Nein, nicht nur lächerlich, sondern weit mehr als das. Einfach idiotisch.

»Aber Vater, du meinst, ich soll bei Wendel’s Shipping …?«

Der Marquess lachte aus vollem Herzen, sodass seine Schultern bebten. »Um Himmels willen, glaubst du wirklich, ich würde dich irgendwo in die Nähe der Piers schicken?«

Amelia sah ihn forschend an, denn sie fand die Sache nicht besonders lustig. »Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Lord Armstrong betreibt schließlich ansonsten keine anderen Geschäfte, nicht wahr?«, fragte sie ihren Vater, als würde der Viscount nicht knapp von ihr entfernt sitzen und selbst antworten können.

»Um aufrichtig zu sein, ich leite eine sehr einträgliche Pferdezucht.«

Hm. Sieht so aus, als hätte es mit Zuchtangelegenheiten zu tun. Ihre scharfsinnige Beobachtung wurde von einem Seitenblick in Lord Armstrongs Richtung begleitet, wo sie in seine sanften grünen Augen schaute.

»In Westbury?« Die tödliche Ruhe in ihrer Stimme konnte über das Gefühlschaos in ihrem Innern nicht hinwegtäuschen, das vor allem von einem dominiert wurde: Entsetzen.

Harold Bertram trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Vielleicht schätzt du die Lage falsch ein.«

Amelia richtete den Blick jetzt auf ihn. »Was schätze ich falsch ein, Vater?« Mit jedem Wort wurde ihr Tonfall schärfer.

Der Viscount räusperte sich. »Lady Amelia, Ihr Vater versucht Ihnen zu erklären, dass mein Gestüt sich in Devon befindet. Sie werden dort auf dem Land bei mir wohnen.«