11
Lady Amelia, wie schön, dass Sie sich zu uns gesellen«, grüßte Lady Armstrong, als Amelia genau um zwei Minuten vor acht Uhr das Speisezimmer betrat.
Die Viscountess, die in ihrem doppellagigen Rock mit braunen Samtapplikationen zauberhaft aussah, stand neben zwei anderen Frauen. Gut, die jüngere der beiden konnte man eigentlich noch nicht als Frau bezeichnen.
»Guten Abend, Lady Armstrong«, erwiderte Amelia.
»Bitte gestatten Sie, dass ich Sie meiner lieben Mrs. Eleanor Roland vorstelle. Und ihrer Tochter Dorothy. Eleanor, Dorothy, darf ich euch Lady Amelia Bertram vorstellen? Sie ist bei uns zu Gast, solange ihr Vater sich außer Landes aufhält.«
Mrs. Roland war eine große, untersetzte Frau mit dunklem, schon angegrautem Haar, das sie reichlich mit Pomade zu behandeln schien, während in ihrem Gesicht eine dicke Puderschicht auffiel, vermutlich zum Verdecken der Pockennarben auf Wangen, Stirn und Kinn. Man musste ihr jedoch zugestehen, dass sie sich ausgesprochen vorteilhaft kleidete. Das dunkelblaue Kleid ließ sie schlanker erscheinen, als sie war, gerade weil es ihrer fülligen Figur Rechnung trug. Mrs. Roland achtete offenbar im Gegensatz zu anderen Matronen darauf, sich nicht in Kleider zu quetschen, die für schlanke Damen gedacht waren und bei anderen geradezu ruinös aussahen.
Die Tochter war das genaue Gegenteil der Mutter. Ihr rotes Haar war lockig und so dicht, dass es bei ihrer zierlichen Figur fast zu üppig wirkte; sie war klein und schmal, sprach nur wenig und wenn, dann mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Wispern.
»Lady Amelia, es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Mrs. Roland höflich, aber ihrer Stimme fehlte es an Wärme, um die Worte wirklich wie eine freundliche Begrüßung klingen zu lassen. Andererseits war sie es seit Langem gewöhnt, dass andere Frauen sie nur selten mit offenen Armen willkommen hießen.
»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Mrs. Roland. Miss Roland.« Amelia nickte den Frauen zu.
Die Aufmerksamkeit der Älteren hingegen schien ganz woanders zu sein. Amelia folgte ihrem Blick, der zweifellos ausschließlich dem Viscount galt, der seinerseits nach unten starrte.
Seit Amelia eingetreten war, hatte sie sich die größte Mühe gegeben, ihn zu ignorieren, obwohl er nur ein paar Schritte von ihr entfernt stand und sie heimlich beobachtete. Er gab ihr das Gefühl, seine Augen würden ihr Kleid aus Seifenchiffon mühelos durchdringen und die Batistwäsche dazu und direkt ihre nackte Haut mustern. Amelia schaute rasch weg.
»Ich glaube, meinen Töchtern sind Sie schon begegnet.« Lady Armstrong deutete in die Richtung ihres Sohnes, in dessen Nähe die Mädchen mit ihren hübschen, mit Spitzen besetzten Kleidern standen.
»Ja, Mylady, früher am Abend.«
Sie sollte besser nicht ausplaudern, unter welchen Umständen sie mit der jüngeren Tochter Bekanntschaft geschlossen hatte. Emily, drei Jahre älter als die fünfzehnjährige Sarah, war Amelia auf dem Weg zu ihrem Schlafzimmer begegnet. Obwohl etwas weniger impulsiv als ihre Schwester begrüßte auch sie den Gast mit warmherziger Freundlichkeit. Wie ihre Geschwister glich Emily mit den grünen Augen und blonden Haaren ganz der attraktiven Mutter.
Zu Amelias Leidwesen wurde ihr der Platz links von Thomas Armstrong zugewiesen, der am Kopfende des Tisches saß mit seiner Mutter zur Rechten. Das entgegengesetzte Ende wäre Amelia weitaus lieber gewesen.
Ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als die Lakaien mit Silbertabletts eintraten, die üppig mit allerlei delikaten Gerichten beladen waren, sodass sie allen Ärger und Unmut vergaß.
»Und wie hat Ihnen die Saison gefallen?«, wollte Lord Armstrong von Miss Roland wissen, nachdem die Lakaien die Suppe eingefüllt und sich ein Stück vom Tisch zurückgezogen hatten.
Das junge Mädchen erstarrte und hielt mit dem Löffel kurz inne, bevor sie die Schildkrötensuppe zum Mund führte.
»Bitte erzähl Seiner Lordschaft, wie dir die Saison gefallen hat«, drängte Mrs. Roland ungeduldig, als ihre Tochter nicht sofort antwortete.
»Wenn ich hübscher wäre, hätten sich bestimmt mehr Bewerber um mich bemüht … Nun, zumindest einen gab es.« Dorothy Roland seufzte schwer. »Ich fürchte, dass ich Mama am Ende enttäusche.«
Amelia verschluckte sich beinahe an ihrem Wein. In der Aristokratie war Ehrlichkeit gewöhnlich schwerer zu finden als Ladys mit Wespentaille selbst ohne Mieder, und man beäugte sie mit ebensolchem Zweifel, mit Neid oder lüsternem Vergnügen. Aber das junge Mädchen meinte genau das, was es sagte. Nein, gut standen ihre Chancen sicher nicht, dachte Amelia mitleidig, als sie die hängenden schmalen Schultern und den verlorenen Ausdruck in den braunen Augen sah.
Ein rascher Blick in die Tischrunde bestätigte den Befund. Obwohl Eleanor Roland wie versteinert wirkte, schaute jedes Mitglied der Familie Armstrong sie an, als hätten sie gerade zuschauen müssen, wie ein junger Welpe getreten wurde.
Und natürlich war es niemand anders als Lord Armstrong, der auf weißem Streitross in schimmernder Ritterrüstung zur Rettung herbeigaloppierte.
»Sie sind viel mehr als hübsch. Und wenn die Gentlemen der Salons nicht in der Lage sind, die wundervollen Eigenschaften zu entdecken, die Sie sonst noch auszeichnen, dann haben sie es gar nicht verdient, Sie zu heiraten.«
Miss Roland hob den Blick von ihrem Teller und schaute ihn an. Falls er ihr hatte weismachen wollen, dass sie in seinen Augen die göttliche Aphrodite verkörperte, dann hätte ihr Misstrauen nicht größer sein können. »Ich kann mir nichts Besseres als Attraktivität vorstellen, um die Aufmerksamkeit eines Gentleman auf mich zu ziehen.«
Als Antwort legte Thomas das Besteck auf den Tisch, betupfte sich die Mundwinkel mit der Serviette und musterte das Mädchen aufmerksam. Ein Mann, der so sehr von seiner eigenen Wichtigkeit überzeugt war, erwartete offenbar, dass jedes einzelne seiner Worte als Tatsache hingenommen wurde.
»Ich muss Ihnen wirklich widersprechen. Ich bin genügend Schönheiten begegnet, die eine militärische Übung durch ihr Erscheinen zum Picknick hätten werden lassen können. Ohne den Namen einer gewissen Lady preiszugeben, möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die von meiner ersten Begegnung mit ihr handelt.«
Erwartungsvolle Stille trat ringsum ein. Alle Augen richteten sich auf den Viscount, dem eigentlich nur noch eine Krone auf dem Kopf fehlte, um seine herausgehobene Stellung zu demonstrieren. Amelias Nackenhaare richteten sich auf, denn eine böse Ahnung überfiel sie, mit was Thomas Armstrong jetzt aufwarten würde.
»Sie war recht hübsch. Ich möchte sagen, beinahe so attraktiv wie …«, er hielt inne, als suche er nach dem passenden Vergleich, bis sein Blick auf ihren traf, »… Lady Amelia. Jede Wette. Ganz sicher eine überaus erstaunliche Schönheit.«
Als sie merkte, wie alle sie anzustarren begannen, widmete sie sich wieder angelegentlich ihrer Suppe, um die aufsteigende Nervosität zu verbergen. Sie fühlte, wie Hitze in ihre Wangen stieg.
Amelia war nicht so naiv zu glauben, dass er die Absicht hatte, ihr ein Kompliment zu machen. Nein, sie war überzeugt, dass er nur deshalb eine große Show vor dem verzückten Publikum veranstaltete, um sie abzukanzeln, ihr eine Standpauke zu halten wie einem kleinen Mädchen, das nicht weiß, was gutes Benehmen bedeutet.
»Nun, diese Lady«, er betonte das letzte Wort, als fände er diese Bezeichnung für besagte junge Dame höchst unpassend, »also diese Lady und ich, wir waren uns vorher noch nicht begegnet. Ich möchte Ihre Ohren nicht mit der genauen Wiedergabe der Worte beleidigen, die sie an mich richtete, als wir einander vorgestellt wurden. Unnötig zu sagen, dass es Dinge sind, die Sie gewöhnlich in Klatschmagazinen finden. Haltlose, unbegründete Gerüchte, die meinen Charakter schlecht machen sollten.«
»Soll das heißen, dass es eine Frau auf dieser Welt gibt, die deinem Charme widerstehen kann?«, fragte die Viscountess, und ihre ernste Stimme stand ganz im Gegensatz zu ihrem amüsierten Blick.
Bisher hatten Sarah und Emily versucht, ihr Gelächter zu verbergen, indem sie sich Servietten vor den Mund hielten. Aber jetzt gaben sie alle Anstrengungen auf, unbeteiligt auszusehen, und ließen ihrem mädchenhaften Gekicher freien Lauf.
»Abscheuliches Benehmen«, rief Mrs. Roland mit missbilligendem Schnaufen und schob die fülligen Schultern zurück. »Mancher jungen Lady fehlt es heutzutage an züchtigem Benehmen.« Sie schenkte ihrer Tochter ein strahlendes Lächeln. »Aber unsere Dorothy hat das, was wohl jeder als beispielhafte Manieren bezeichnen würde. Nicht wahr, meine Liebe?«
»Und was hilft es mir? Manieren allein verschaffen mir keinen Ehemann. Gentlemen geben hübschen Frauen den Vorzug«, murmelte Miss Roland mit gesenktem Blick.
Es schien, als wollten ihre Mutter wie auch die Viscountess dazu einen Kommentar abgeben, doch Lord Armstrong kam ihnen zuvor. »Ein intelligenter Mann gibt einer Frau den Vorzug, die viel begehrenswertere Eigenschaften aufweist. Eigenschaften wie Freundlichkeit, Bescheidenheit, Wärme und einen guten Charakter. Eine schöne Frau, mit der niemand auskommt, ist kaum das, woran ein Mann für den Rest seines Lebens gekettet sein möchte.«
Thomas schaute Amelia direkt an, und zwar mit einer Unschuldsmiene, als versuche ein auf frischer Tat ertappter Straßenräuber dem Friedensrichter weiszumachen, dass er die Kutsche nur angehalten habe, um ein Stück mitgenommen zu werden. »Finden Sie nicht auch, Lady Amelia?«
Welches Spielchen trieb er nun schon wieder? Wollte er sie bloßstellen? Da musste er sich allerdings mehr Mühe geben. Außerdem hatte sie nichts geäußert, was nicht der reinen Wahrheit entsprach.
»Ganz sicher, falls es tatsächlich unmöglich ist, besagter Lady zuzustimmen. Bedauerlicherweise kann ich den Vorfall nicht bezeugen, sodass ich nicht weiß, unter welchen Umständen jene Lady Sie, äh, beleidigt hat, wie Sie behaupten. Und da Sie uns nicht darüber aufgeklärt haben, welche Worte genau gefallen sind, wäre es unangemessen, meine Meinung zu äußern.«
»Seien Sie versichert, dass die Lady tatsächlich beleidigende Worte von sich gab.« Sein Blick war so eindringlich, dass er beinahe ein Loch in ihre Haut gebrannt hätte.
»Nun, bevor ich die Lady verurteile, würde ich gerne hören, wie sie selbst den Vorfall einschätzt. Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille, wie Sie wissen«, bemerkte Amelia und löffelte ein wenig von ihrer Suppe.
Am Tisch herrschte Schweigen. Amelia tat, als würde sie die gespannten Blicke der anderen nicht bemerken, die zwischen ihr und dem Viscount hin und her flogen.
»Wie gut zu wissen, dass Sie, Thomas, ein Gentleman mit gutem Geschmack und von treffsicherem Urteil, die feineren, weniger offensichtlichen Eigenschaften einer Frau zu schätzen wissen«, schmeichelte Mrs. Roland ihm lächelnd, während sie wie ein Raubtier darauf wartete, zum finalen Sprung auf die Beute anzusetzen.
Alles fügte sich nahtlos – dass sie erst die ausgezeichneten Manieren ihrer Tochter betonte und dann ein Loblied auf Lord Armstrong anstimmte. Mrs. Roland wollte den Viscount für ihre Tochter. Rotkäppchen und der böse Wolf, dachte Amelia.
Und fühlte sich plötzlich verpflichtet, solch hehrem Ziel zum Erfolg zu verhelfen. Wollen wir doch mal sehen, wie es ihm gefällt, wenn der Spieß umgedreht wird.
»Ja, in dieser Hinsicht ist Lord Armstrong wahrhaft bemerkenswert. Ich bin mir recht sicher, dass er nach einer Frau Ausschau hält, die genau wie Miss Roland ist. Und noch etwas: Ich wage die Vermutung, dass er nicht weit in die Ferne schauen muss.« Amelia blickte mit Unschuldsmiene in die Runde.
Im Kristallleuchter über ihnen brannten mindestens vier Dutzend Kerzen. An den Wänden spendeten Gaslampen Licht, und auf dem Tisch standen zwei Kerzenleuchter. Aber Mrs. Rolands Lächeln strahlte heller als alles Licht zusammen, bloß die anderen verharrten reglos.
»Ich muss sagen …«
»Wie nett, dass Sie Ihre Fähigkeiten als Heiratsvermittlerin unter Beweis stellen wollen, Lady Amelia«, mischte Lord Armstrong sich ein, bevor Mrs. Roland weitersprechen konnte. »Wie auch immer, ich kenne Dorothy seit ihrer Kindheit, ja sogar schon aus der Zeit, als sie noch ein Baby war. Für mich ist sie wie eine weitere Schwester, und ich bin überzeugt, dass sie genauso empfindet.«
Die Viscountess lächelte schwach, schien erleichtert, dass ihr Sohn die heikle Angelegenheit so taktvoll erledigt hatte. Seine Schwestern wechselten einen Blick, den Amelia nicht zu schlüsseln vermochte, während Dorothy scheinbar ergeben nickte. Ihre Mutter allerdings sah die Beute, die sie bereits sicher geglaubt hatte, urplötzlich entschwinden. Endgültig. Die freundlichen, dabei unmissverständlichen Worte von Thomas machten sämtliche Hoffnungen zunichte.
Amelia empfand mit einem Mal Reue und Scham. In ihrem Eifer, Armstrong zu blamieren, war sie eindeutig zu weit gegangen. Verdammt noch mal, er hatte schließlich mit dieser unsäglichen Die-Schönheit-die-sich-als-Schreckschraube-entpuppt-Geschichte angefangen! Und nur deshalb spiegelte sich jetzt eine Mischung aus zerbrochenen Hoffnungen und vergeblichen Träumen auf Mrs. Rolands Gesicht.
»Nun, wenn nicht der Viscount, dann wird sich ein anderer Gentleman über das Privileg freuen, Miss Roland heimzuführen«, sagte Amelia in einem schwachen Versuch, die Zurückweisung zu mildern und ihren Fauxpas auszubügeln.
Das Mädchen war doch höchstens siebzehn und hatte noch ein paar Jahre Zeit, ein wenig an Ausstrahlung und Rundungen zuzulegen, und dann fanden sich bestimmt Männer, die um sie warben, denn sie besaß einen klaren Teint und recht regelmäßige Gesichtszüge. Auch wenn sie nie eine Schönheit würde, war sie doch ganz und gar nicht abstoßend. Und eine ordentliche Mitgift tat sicherlich das Übrige, damit sie auf dem Heiratsmarkt bestehen konnte.
»Meinen Sie wirklich?«, fragte Dorothy Roland, in der Stimme einen schwachen Hoffnungsschimmer.
»Andernfalls würde ich es nicht sagen. Sie sind doch erst siebzehn, achtzehn?« Oder sechzehn?
»Siebzehn.«
»In Ihrem Alter war ich schrecklich anzusehen. Wie eine Vogelscheuche.« Eine glatte Lüge, aber das ließ sich kaum überprüfen. Selbst Thomas Armstrong schien diese barmherzige Schwindelei gutzuheißen. Zwar sagte er kein einziges Wort, schaute sie jedoch nachdenklich an.
»Das glaube ich keine Sekunde. Ich dachte vielmehr …« Sarah brach ab, als ihre Schwester ihr einen warnenden Blick zuwarf.
»Da können Sie jeden fragen.« Obwohl es außer ein paar Bediensteten niemanden zu fragen gab. Bis zum vergangenen Jahr lebte sie schließlich sehr isoliert auf dem Landsitz der Familie und hatte nur eine einzige Freundin, mit der sie sich unterhalten konnte.
Dorothy Roland schaute sie jetzt fast ehrfürchtig an. So als könne sie die angebliche Verwandlung vom hässlichen Entlein zum stolzen Schwan kaum fassen. Und dass diese Schönheit eine Vogelscheuche gewesen sein sollte, schien ihr vollends unbegreiflich. Trotzdem wollte sie es nur zu gerne glauben.
»Schauen Sie mich jetzt an, ich habe meine zweite Saison hinter mir und immer noch keine Heiratsaussichten.« Was rein technisch gesehen der Wahrheit entsprach, wenn man ihren Vater fragte. »Sie sind sehr jung und haben noch viele Jahre Zeit, einen Mann zu finden, der Ihre Zuneigung verdient.«
»Ja, meine Liebe, noch jede Menge Zeit«, wiederholte ihre Mutter, die sich endlich aus der Erstarrung gelöst hatte. »Ich bin überzeugt, dass Thomas sich glücklich schätzen wird, dich in der nächsten Saison einigen seiner Freunde vorzustellen. Ich glaube, Lord Alex ist noch nicht gebunden. Und so attraktiv.«
Der Viscount, der gerade sein Glas zum Mund führte, verschluckte sich auf der Stelle an seinem Wein und bekam einen Hustenanfall. Amelia lächelte und aß seelenruhig weiter.
Drei Gänge und anderthalb Stunden später erhoben sich die Damen, um im Salon einen Tee zu trinken. Die Einladung, sich ihnen anzuschließen, lehnte Amelia freundlich ab. Es war ein ungewohnt langer Tag für sie gewesen. Sie sehnte sich danach, allein und in ihrem Schlafzimmer zu sein.
»Lady Amelia, dürfte ich Sie kurz sprechen, bevor Sie sich zurückziehen?«, rief Lord Armstrong ihr nach, als sie das Esszimmer verlassen wollte.
Amelia hielt inne. Ihr wurde flau im Magen, als die anderen in der Halle verschwunden waren. Zögernd drehte sie sich um und stellte fest, dass er langsam zu ihr kam und erst stehen blieb, als er nahe bei ihr war – viel zu nahe. Sein provozierend männlicher Duft schwebte berauschend um ihre Nase. Ruhig stand sie da, während seine grünen Augen über ihren Körper glitten und ihr Herz wie verrückt klopfen ließen.
Seine Nähe versetzte sie in Unruhe, aber sie bemühte sich nach Kräften, das zu verbergen. Amelia zog eine Braue hoch und versteckte ihre Nervosität hinter einem betont gelassenen Gesichtsausdruck. »Kann das nicht bis morgen warten?«
»Nein. Lassen Sie uns ins Arbeitszimmer gehen.« Ohne weitere Erklärungen wandte er sich zur Tür. Als er registrierte, dass sie sich nicht rührte, blieb er stehen und warf ihr über die Schulter einen Blick zu. »Brauchen Sie eine schriftliche Einladung?«
Sein Sarkasmus half ihr, die aufgepeitschten Sinne zu besänftigen und den hämmernden Herzschlag zu beruhigen. Jenseits seiner vielgepriesenen Attraktivität war der Mann einfach nur unerträglich.
»Gut«, schnappte sie, »aber beeilen Sie sich. Ich möchte heute Nacht gerne tief und fest schlafen. Morgen muss ich nämlich schrecklich früh aufstehen. Der Hausherr ist furchtbar pingelig, wenn es um Pünktlichkeit geht.« Sie hob den Saum ihres Seidenrocks an und rauschte an ihm vorbei.
Mit langen, wütenden Schritten erreichte sie vor ihm das Arbeitszimmer. Er folgte ihr mit hochgezogenen Mundwinkeln, die ein Lächeln andeuten sollten. Lässig durchquerte er das Zimmer, blieb bei der Anrichte stehen und schenkte sich einen Drink ein.
Sie war fest entschlossen, Haltung zu bewahren, und wartete wortlos ab, während er einen Schluck aus seinem Glas nahm. Schließlich drehte er sich um und kam zu Amelia, die immer noch stocksteif dastand.
»Um Viertel vor sieben bin ich noch einmal ins Arbeitszimmer zurückgekehrt und habe Sie nicht mehr vorgefunden«, sagte er leise und emotionslos.
Was stand hier eigentlich zur Diskussion? Dass sie sich bei seiner Rückkehr nicht im Zimmer aufgehalten hatte? Der Kerl war einfach unmöglich. »Und was wollen Sie damit andeuten?«
Er spannte die Kiefermuskeln an. »Darf ich es so verstehen, dass Sie Ihre Arbeit in derart kurzer Zeit erledigt haben?«
»Schauen Sie doch selbst nach, wenn Sie mir nicht glauben«, entgegnete sie und deutete mit dem Kopf auf den Schrank. »Dort werden Sie sehen, dass jede Akte ordentlich abgelegt ist. Außerdem können Sie den Karton überprüfen und sich davon überzeugen, dass er leer ist.«
Diesmal trank er einen großen Schluck, was, wie sie fand, auf Ärger hindeutete. Ein Gefühl süßen Triumphs durchflutete sie, als er das leere Glas von den Lippen nahm. Sie unterdrückte ein Lächeln.
»Sie hatten die Anweisung, noch anderthalb Stunden zu arbeiten«, stellte er fest und drehte das Glas zwischen den Fingern hin und her.
»Ihr Auftrag lautete, meine Arbeit zu beenden. Genau das habe ich getan. Was hätte ich Ihrer Meinung nach anschließend machen sollen? Am Tisch sitzen und Däumchen drehen?«
Er stieß ein kurzes, raues Lachen aus. »Nun, es scheint, als hätte ich Ihre Effizienz erheblich unterschätzt. Ich erkenne, dass ich Ihnen viel mehr Arbeit zuteilen muss, um Sie wirklich zu beschäftigen.«
Ihr Triumphgefühl schlug in Bitterkeit um.
Ohne den Blick von ihr zu wenden, stellte er das leere Glas auf den Tisch. Es schien, als würde er sie eine Ewigkeit anstarren, die Augen jetzt wie fein geschliffene Smaragde. »Sie müssen wirklich lernen, Ihre Worte zu zügeln. Ihr Mundwerk bringt Sie ständig in Schwierigkeiten. Hat Ihnen noch niemand beigebracht, sich Zurückhaltung aufzuerlegen, Prinzessin?«
Amelia schluckte, als sie seine heisere Stimme hörte und seinen sinnlichen Blick spürte. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, als er ihren Mund betrachtete, doch er folgte ihr, stand noch näher bei ihr als zuvor.
Thomas senkte den Kopf kaum merklich und flüsterte: »Es provoziert Männer auf eine Weise, die gefährlich ist.«
Seine Stimme war die pure Verführung, verpackt in samtige Hitze. Ihr Blick fiel auf seinen Mund – wieder musste Amelia schlucken und fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe.
Es passierte so schnell, dass ihr nicht einmal die Zeit blieb, mit der Wimper zu zucken. Thomas berührte sie nur kurz mit den Fingern, und schon lag sie in seinen Armen. Nichts konnte verhindern, dass pfirsichfarbene Seide auf graugrünes Tuch traf, dass ihre Brüste sich gegen seinen Oberkörper pressten. Amelia versteifte sich. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, als sein Kopf sich ganz ohne Hast zu senken begann.
Rühr dich. Schrei. Mach irgendwas, anstatt einfach nur dazustehen wie ein Trottel. Aber die Trägheit, die ihren Körper lähmte, machte sie willenlos, sodass sie sich nur wie von einer mächtigen Strömung mitgerissen fühlte. Dann fanden seine Lippen die ihren, und die Flut der Gefühle riss sie mit sich.
Anders als der ungeschickte Finley versuchte der Viscount nicht, ihre Lippen mit brutaler Gewalt auseinanderzupressen. Nein, das brauchte er gar nicht, denn er schaffte es mit verführerischer Raffinesse, knabberte erst an ihrer Unterlippe, sog dann an ihr, bis sie die Lippen mit leisem Seufzer teilte. Als sie sich unterwarf, fuhr er mit den Fingern in ihr dichtes Haar, umfasste ihren Kopf und suchte erneut ihre Lippen.
Ihr zitterten die Knie, und mit den Händen klammerte sie sich an die seidenen Aufschläge seines Jacketts. Für einen flüchtigen Moment lang tauchte sie aus dem Nebel der Leidenschaft auf und überlegte, ob sie abbrechen oder vielleicht wenigstens etwas Widerstand leisten sollte. Aber seine drängende Zunge überzeugte sie vom Gegenteil, betäubte ihre Sinne und schaltete ihren Verstand aus. Amelia ließ sich weiter auf ihn ein. Wollte mehr.
Er stöhnte leise und zog sie, die Hand auf ihrer Hüfte, so nah zu sich heran, dass sie seinen Unterleib berührte und seine erregte Männlichkeit sich steif und pochend gegen sie presste, während die intime Verbindung in ihr eine lodernde Hitze aufflammen ließ und das Gefühl, dass sich ihr Schoß in warme Feuchtigkeit auflöste.
Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie das Gekicher und Geflüster der Dienstmädchen belauscht hatte, sobald ihre Gouvernante sich nicht in Reichweite befand. Immer drehte es sich um die gleichen Themen, nämlich um Männer und Küsse, manchmal sogar um unanständigere Liebkosungen. Hatten sie? Würden sie? Wie fühlte es sich an? Amelia, jung und unerfahren, wie sie war, bedauerte damals die armen Mädchen, so widerwärtige Dinge über sich ergehen lassen zu müssen. So etwas würde ihr nie passieren, dachte sie. Und erst recht nicht gefallen, geschweige denn irgendwelche Sehnsüchte bei ihr auslösen.
Wie hatte sie sich nur so sehr irren können.
Schon glitten ihre Hände durch sein golden schimmerndes Haar, das sich dick und seidig anfühlte. Ansonsten überließ sie sich ganz seiner Führung und genoss die wilden Strudel der Lust in ihrem Innern, die sie durcheinanderwirbelten. Dann jedoch wollte sie daran teilhaben und fing zögernd an vorzustoßen, um seinen Mund ausschweifend zu erkunden. Ehe sie sich’s versahen, umschlangen ihre Zungen sich wechselseitig in heißem Verlangen, und der Kuss entfachte einen Hunger, dessen sie sich bisher nicht für fähig gehalten hatte.
Hitze drohte sie zu verzehren. Sie krampfte die Schenkel zusammen, um die Flammen dort zu löschen, wo sie am heißesten züngelten. Seine Hand glitt von ihrer Hüfte zur Unterseite ihrer Brust, umfasste sie.
Erschrocken kam Amelia auf den Boden der Tatsachen zurück und riss sich aus seiner Umarmung los, stolperte verwirrt rückwärts, bis so viel Abstand zwischen ihnen lag, dass sie die Herrschaft über ihre Sinne mühsam zurückerlangte.
»Nein«, wehrte sie mit schwacher Stimme ab und atmete keuchend aus. Ihr Haar war in Unordnung geraten und floss jetzt über Schulter und Rücken. Sie bildete sich ein, dass sie aussah wie die Lady aus Shakespeares Hamlet, von der es hieß, dass sie zu viel protestierte. Und sie wusste, spürte es.
Wenn man von der schwachen Röte auf seinen Wangen absah, schien den Viscount das leidenschaftliche Intermezzo im Unterschied zu ihr nicht berührt zu haben. Nun ja, das lag wohl daran, dass er sich normalerweise nicht mit Lappalien wie Küssen und Umarmungen begnügte. Das, was sie gerade getan hatten, war für ihn bestimmt nicht viel mehr als eine freundschaftliche Liebkosung.
»Wer hätte gedacht, dass unter dem Eis solch heiße Flammen lodern?« Er zupfte sich das Jackett zurecht, während er sprach.
»Rühren Sie mich niemals, wirklich niemals wieder an.« Sie spie die Worte förmlich aus.
Armstrong lachte nachsichtig. »Sind Sie sich da ganz sicher? Soweit ich es beurteilen kann, haben Sie sich eben prächtig amüsiert.«
Dreckskerl!
»Und was ist mit Ihnen? Heute Morgen noch haben Sie behauptet, gegen meinen Charme gefeit zu sein.« Sie wollte, nein, sie musste ihm das spöttische Grinsen aus dem Gesicht vertreiben.
»Oh, das bin ich durchaus«, erwiderte er sanft, »aber ich glaube, dass ich gerade eine sehr wirksame Art entdeckt habe, mit Ihnen umzugehen.«
»Für mich hat es sich allerdings nicht unbeteiligt angefühlt«, schnappte sie und erinnerte ihn an den nicht zu ignorierenden Gegenbeweis, den sie gespürt hatte. Wie konnte er es nur wagen, so zu tun, als sei er unbeteiligt geblieben … und sie die Einzige, die sich für ein paar heiße, leidenschaftliche Minuten völlig verloren hatte.
Thomas Armstrong lachte amüsiert und deutete ohne alle Verlegenheit auf seine Hose. »Meinen Sie das?«
Schockiert wandte Amelia ihren Blick ab, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Röte in die Wangen schoss.
»Das ist etwas, was kaum als Maßstab des guten Geschmacks gelten kann. Ist Ihnen nicht bekannt, dass solche Dinge sich der Kontrolle des Willens entziehen? Manchmal braucht es nur ein hübsches Gesicht und eine schlanke Gestalt. Da werden keine großen Unterschiede gemacht.«
Amelia wünschte sich in diesem Moment wieder einmal, als großer, kräftiger Mann geboren worden zu sein, um ihn besinnungslos prügeln zu können. Wobei sie natürlich als Mann gar nicht in diese Lage geraten wäre.
»Wenn Sie sich weigern, die Finger von mir zu lassen, sehe ich mich gezwungen, die Angelegenheit in meine eigenen Hände zu nehmen. Und ich garantiere Ihnen, Mylord, das Ergebnis wird Ihnen nicht gefallen.« Ihre Warnung klang so bedrohlich wie das Zwitschern eines Kolibris, doch das interessierte sie in diesem Moment nicht.
»Und was genau haben Sie vor? Wollen Sie sich an Ihren Vater wenden? Für den Fall, dass ich Sie verderbe, würde er uns verheiraten, noch bevor der Winter anbricht. Wohl kaum eine erfreuliche Aussicht, weder für Sie noch für mich.«
Der verfluchte Kerl hatte natürlich recht. Ihrem Vater dürfte nichts besser gefallen. »Endlich begreife ich, warum mein Vater Sie so sehr bewundert. Sie sind aus dem gleichen Holz geschnitzt wie er.«
Thomas versteifte sich. Ihr Tonfall machte klar, dass die Bemerkung nicht als Kompliment gemeint war. Langsam stieg Wut in ihm hoch, obwohl sich die Beleidigung gegen Harry und nicht gegen ihn richtete. Hatte der arme Mann ihretwegen nicht schon genug zu erdulden?
»Ich rate Ihnen dringend, Ihre Zunge besser zu hüten. Ihr Vater gehört zu den besten Menschen, die ich jemals kennenlernen durfte.«
Amelia riss die Augen auf, als überrasche sie die Eindringlichkeit seiner Antwort.
»Was vermutlich nicht viel zu bedeuten hat. Soweit ich das sehe, ergänzen Sie sich ganz ausgezeichnet. Sie interessieren sich beide nicht für andere Menschen, es sei denn, es dient Ihrem persönlichen oder finanziellen Vorteil. Es ist eine Schande, dass Sie nicht als Sohn meines Vaters geboren wurden. Um wie vieles einfacher hätte es das Leben aller Beteiligten gemacht.«
Thomas musste sich sehr im Zaum halten. Dieses verwöhnte Mädchen wagte es tatsächlich, ihn von oben herab zu behandeln! Was wusste sie anderes über Geld, als es in der Soll- oder Habenspalte einzutragen? Noch nie hatte sie ihrer Mutter oder drei Schwestern in die Augen blicken und erklären müssen, dass nicht nur zu wenig Geld da war, um den gewohnten Lebensstandard der Familie zu halten, sondern dass es kaum reichte fürs nackte Überleben. Sie hingegen hatte einen Vater, der sich um alles kümmerte und ihr ein bequemes Leben ermöglichte.
»Meine besten Wünsche gelten Ihrem Vater. Der Himmel möge mir beistehen, sollte ich jemals eine Tochter bekommen, die Ihnen ähnlich ist.« Aus jedem seiner Worte sprach Geringschätzung.
Amelia versteifte sich, während sie tief einatmete. Ein kaum wahrnehmbarer Schatten huschte über ihr Gesicht, als sie reglos und wie versteinert vor ihm stand.
»Sobald er zurück ist, werde ich ihm Ihr Mitgefühl ausrichten. Andererseits sehen Sie ihn doch viel öfter als ich. Vielleicht könnten Sie es selbst in die Hand nehmen?« Damit drehte sie sich um, hob den Saum ihrer Röcke an und verließ das Zimmer mit ruhigem Schritt.
Thomas machte keine Anstalten, Amelia aufzuhalten. Jedes weitere Wort würde in einen offenen Krieg münden. Unsicher fuhr er sich mit der Hand durch das Haar und stolperte zurück, um sich auf die Schreibtischkante zu setzen.
Ein dumpfer Schmerz erfüllte seine Brust.