14
An der Tür zur Bibliothek verabschiedete Thomas die Besucherin und nickte dem Lakaien, der sie hinausbegleitete, kurz zu. Anschließend kehrte er an seinen Schreibtisch zurück und ließ sich in den Ledersessel sinken. Müde fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und dachte sorgfältig nach, welche Möglichkeiten sich ihm jetzt noch boten.
Nach zwei Wochen und zehn liebenswerten Bewerberinnen war die passende Anstandsdame für Amelia immer noch nicht gefunden. Und er hatte den Verdacht, dass es nicht ganz unabsichtlich geschah.
»Ich nehme an, dass auch sie nicht geeignet war?«
Die Stimme seiner Mutter. Seide und Satin raschelten, als die Viscountess ins Zimmer trat.
»Hättest du unseren Gast überhaupt früher beachtet? Ich meine, bevor sie sich mehr oder weniger bei uns häuslich eingerichtet hat«, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.
»Du bist zu streng mit ihr. Lady Amelia ist eine zauberhafte junge Frau. Außerdem habe ich in den vergangenen vier Wochen bemerkenswerte Veränderungen an ihr festgestellt. Und mit den Mädchen geht sie ganz wunderbar um. Ich will also kein Wort mehr gegen sie hören.«
Ja, vier Wochen waren bereits seit Amelias Ankunft verstrichen, und sie gewann alle Herzen. Nur seines natürlich nicht. Seit dem Disput nach ihrem Ausritt herrschte eine verkrampfte Befangenheit zwischen ihnen, die unüberbrückbar schien. Und ganz offen gesagt, er war froh darüber. Denn er wollte so wenig wie möglich mit ihr zu tun haben. Aber da seine Mutter zu ihren beharrlichsten Verteidigerinnen gehörte, behielt Thomas diese Meinung wohlweislich für sich.
»Hast du einmal über Miss Foxworth nachgedacht?«, fuhr seine Mutter fort. »Sie ist im richtigen Alter und stammt aus einem respektablen Haus. Ich bin mir sicher, dass du sie nur zu fragen brauchst, und sie wird einwilligen. Denk dran, es sind nur noch drei Tage bis zu unserer Abreise. Dir bleibt also nicht mehr viel Zeit. Und ich weigere mich, euch beide ohne ordentliche Anstandsdame gemeinsam zurückzulassen.«
Camille! Zwar überschritten ihre Bescheidenheit und Demut bisweilen die Grenzen des Erträglichen, doch im Umgang mit Amelia war sie vielleicht genau die Richtige.
»Ja, du könntest recht haben. Vielleicht wäre sie passend. Ich schicke ihr noch heute einen Brief«, sagte er und versank noch tiefer in seinem Sessel.
»Dann begleitest du vielleicht mich und deine Schwestern nach London und nimmst Camille auf dem Rückweg mit. Das wäre doch ein netter Ausflug.«
»Und was um alles in der Welt soll ich in dieser Zeit mit Amelia anstellen?« Sie konnte schließlich nicht mutterseelenallein auf Stoneridge Hall bleiben. Der Himmel wusste, was ihn in diesem Fall bei seiner Rückkehr erwartete.
»Was glaubst du, aus welchem Grund ich dir den Ausflug vorschlage? Lady Amelia kommt natürlich mit. Ehrlich, Thomas, du hältst das Mädchen den ganzen Tag über in deinem Arbeitszimmer gefangen. Und erzähl mir nicht diesen Unsinn, dass sie es nicht anders will. Ein junges Mädchen braucht seine Vergnügungen. Ich bin überzeugt, dass sie eine Abwechslung sehr zu schätzen wüsste.«
Ja, viel zu sehr. Das genau war nämlich das Problem, darin lag die Schwierigkeit. Er dachte nach. Vielleicht lag seine Mutter trotzdem gar nicht so falsch. Ein Ausflug nach London würde ihm die Gelegenheit zu einem Besuch bei Grace verschaffen. Vier Wochen ohne Sex zerrten an seinen Nerven und an seiner Stimmung.
»Wie du wünschst«, gab er nach.
Die Viscountess ließ den Blick ziellos durchs Zimmer schweifen. Mehrmals drehte sie sich zu ihm und öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn aber gleich wieder. Ihre Finger nestelten nervös an ihrem Rock herum.
Wieder schaute sie ihn an, ohne Lächeln diesmal. »Thomas, ich habe nachgedacht …«
Für die meisten Frauen galt, dass diese geheimnisvollen Worte an sich schon nichts Gutes bedeuteten. In Anbetracht des ernsten Tonfalls aber verhießen sie Schreckliches. Thomas schaute seine Mutter an wie ein überführter Täter, der vor seinem Richter steht.
»Als ich mich gestern mit Amelia unterhalten habe …« Wieder ein Satz von der Liste der gefährlichsten Ausdrücke. »Also, da hat sie mich gefragt, was ich eigentlich machen will, wenn die Mädchen aus dem Haus sind. Ich muss gestehen, dass ich darauf keine Antwort wusste.«
Thomas seufzte schwer. »Mutter …«
»Nein, mein Lieber, ich habe gründlich nachgedacht. Seit dem Tod deines Vaters sind elf Jahre vergangen. Und ich werde auch nicht jünger.«
»In Anbetracht deiner Schönheit und Eleganz würde jede Frau sich glücklich schätzen, die nur halb so alt ist wie du.« Und das war kein leeres Kompliment.
Die Röte stieg ihr in die Wangen. Die Viscountess ging zu dem Beistelltischchen hinüber und nahm das kunstvoll geschnitzte Elfenbeinpferd in die Hand, das sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Während sie weitersprach, betrachtete sie die Figur. »Nur noch drei Jahre, bis Sarah debütiert. Und kurz darauf werde ich alleine sein.«
Als sie ihn anschaute, bemerkte er etwas in ihrem Blick, das er noch nie zuvor gesehen hatte: die Furcht vor der Einsamkeit. Nach dem Tod seines Vaters war er Zeuge ihrer Trauer geworden, ihres Schmerzes und auch ihrer Angst. Das Gefühl von Einsamkeit hingegen hatte er nie bei ihr entdeckt. Nun ja, damals trug sie noch Verantwortung auf Jahre hinaus. Nicht nur für den Haushalt, sondern auch für drei heranwachsende beziehungsweise kleine Töchter. Und auch der Sohn war fast noch ein Junge gewesen.
Thomas sprang aus dem Stuhl auf, war in wenigen Sekunden bei ihr, legte ihr den Arm fest um die Schulter. »Du wirst niemals einsam sein. Nicht mit all den Enkelkindern, die Missy dir zusätzlich zu den Zwillingen noch schenken wird. Damit du die lieben Kleinen verderben kannst«, spottete er und hauchte einen Kuss auf ihre Schläfe. Langsam ließ er sie los und trat einen Schritt zurück.
Die Viscountess lächelte zögerlich. »Ja, aber das ist nicht dasselbe. Nein, mein Lieber, es ist höchste Zeit, dass ich mir ein eigenes Leben aufbaue.«
Thomas zog die Brauen zusammen. Was genau hatte das zu bedeuten – ein eigenes Leben? Etwa ständig Besuch einladen und sich in endlosen Stunden mit Kribbage und Whist verlieren? Irgendwie war er begriffsstutzig und brauchte ein paar Sekunden, um die Bedeutung der Worte zu verstehen.
»Oh, Thomas, schau nicht so erschrocken drein. Man könnte auf die Idee kommen, ich hätte dir gerade eröffnet, dass ich zum Theater gehen will.«
»Nein, nein, das ist es nicht«, beeilte er sich zu versichern. Es war nur … Nun, sie war immerhin seine Mutter. Auf der ganzen weiten Welt gab es keinen einzigen Mann, den er gut genug für sie fand.
»Ich spreche deshalb mit dir darüber, weil ich in den nächsten zwei Monaten in Amerika vermutlich mit Mr. Wendel und Lord Bradford zusammentreffe.«
Thomas begann zu verstehen. Derrick Wendel, Vorsitzender und Hauptaktionär der Schifffahrtsgesellschaft, an der auch er beteiligt war. Jüngst war er mit Harry Bertram nach Amerika gereist, um über den Kauf einer Stahlfabrik zu verhandeln. Ein Deal, der ihnen im Erfolgsfall womöglich eine Senkung ihrer operativen Kosten um zwanzig Prozent bescheren konnte.
Lady Armstrong stellte das Elfenbeinpferd zurück auf den Schreibtisch. »Mr. Wendel hat gefragt, ob ich es ihm gestatten würde, mich ein- oder zweimal auszuführen.«
Thomas kannte seinen Geschäftspartner nur zu gut und wusste ganz genau, dass dieser seine Mutter über die Maßen schätzte und verehrte. Wendel würde sie ganz sicher so oft zu Ausflügen überreden, wie sein und ihr Kalender es nur erlaubten. Seit Thomas die beiden im vergangenen Jahr miteinander bekannt gemacht hatte, legte Wendel ein ungewöhnliches Interesse an der Viscountess an den Tag. Und wer konnte es dem Mann verdenken? Abgesehen von ihren äußerlichen Vorzügen war seine Mutter in der Lage, jeden Gentleman mit einem bloßen Lächeln zu entwaffnen. Du lieber Himmel, das hatte er schließlich oft genug miterlebt, sogar damals schon, als sein Vater noch am Leben war.
»Nun, sein Interesse an dir ist mir zwar seit einiger Zeit aufgefallen, aber ehrlich gesagt dachte ich nicht, dass es auf Gegenseitigkeit beruht.«
Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. Sie wandte kurz den Blick ab, bevor sie fortfuhr. »Ich möchte mich nicht dazu bekennen, ebenfalls interessiert zu sein. Doch falls es so wäre, wie stündest du dazu?«
»Warum eigentlich nicht? Weil Wendel nicht aus unseren Kreisen stammt?«
Die Viscountess schüttelte den Kopf. »Nein, weil er dein Freund und Geschäftspartner ist. Und natürlich ist da noch die Sache mit deinem Vater.«
»Mutter, so sehr ich meinen Vater geliebt habe und ihn vermisse, so wenig erwarte ich von dir, dass du lebst wie eine Nonne im Kloster.« Obwohl er sich eingestehen musste, dass er insgeheim genau das tat. »Und Derrick Wendel ist ein guter Mann. Es gibt nur wenige, die ich mehr bewundere.«
Sie lächelte erleichtert, was sie mit ihren fast achtundvierzig Jahren um zehn Jahre jünger aussehen ließ. Auf Zehenspitzen stehend drückte sie ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange, und ein schwacher Duft von Gardenien stieg ihm in die Nase. »Außerdem sieht er gut aus.«
Thomas stieß ein trockenes Lachen aus und drückte ihre schmalen Hände.
Die Viscountess entzog sie ihm und glättete die Falten ihres üppigen Rockes. Sekunden später war sie wieder jeder Zoll die Dame des Hauses. »Da wir nun alles besprochen haben, kann ich mich ja weiter um meine Pflichten kümmern. Und ich bitte dich, nicht länger mit dem Brief an Miss Foxworth zu warten. Lady Amelia braucht eine Anstandsdame, bevor ich abreise.«
Nachdem seine Mutter fort war, kehrte Thomas an den Schreibtisch zurück – und seine Gedanken zu Amelia, was in letzter Zeit immer häufiger geschah.
Er wollte sich nicht eingestehen, dass ihm die zwischen ihnen entstandene Kluft ganz und gar nicht behagte. Vielleicht hatte sie ihm an jenem Tag nicht unbedingt ihre dunkelsten Geheimnisse oder ihre verborgensten Gedanken anvertraut, aber immerhin: Sie waren auf eine ganz neue, freundschaftlich-vertraute Weise miteinander umgegangen, was sie leider abrupt wieder zunichtemachte. Weil sie in ihm offenbar den Menschen erblickte, der ihr die Zuneigung ihres Vaters gestohlen hatte. Zumindest kannte er jetzt den Grund für ihre Abneigung, auch wenn es sein Vorstellungsvermögen überstieg, wie sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen war.
So wie er das sah, verbrachte der Marquess of Bradford einen großen Teil seiner Zeit damit, sich wegen seiner Tochter den Kopf zu zerbrechen. In all den Jahren, die sie sich nun kannten, hatte Thomas ihm ungezählte Male zugehört, wenn er Rat brauchte, wie er mit seinem schwierigen Kind umgehen sollte.
Lieber Himmel, was erwartete sie eigentlich von ihrem Vater? Sollte er etwa alle anderen Menschen aus seinem Leben verbannen, nur damit sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit genoss? Soweit Thomas es beurteilen konnte, gab es nichts, was Harry seiner Tochter versagte. Nicht das Pferd, für das er eine Summe hingeblättert hatte, von der andere drei Jahre lang bequem leben könnten. Nicht die Kutsche, die so aufwändig und kostbar ausgestattet war, dass selbst das Königshaus beeindruckt wäre. Und ganz gewiss nicht ihre Garderobe, die allein ein Vermögen kostete.
Während er sich in Gedanken wie so oft mit dieser widerspenstigen jungen Frau befasste, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging, griff er nach der morgendlichen Post und erspähte ein ihm vertrautes Grün. Seine Aufregung stieg. Rasch zog er den Umschlag aus dem Stapel und betrachtete das goldene herzogliche Siegel, das im Licht der Schreibtischlampe glitzerte. Wut kroch in ihm hoch.
Verdammte Louisa. Warum konnte dieses Weibsbild die Dinge nicht auf sich beruhen lassen? Sich mit mehr als einer schönen, selbstsüchtigen und berechnenden Frau herumzuschlagen, das brachte er nicht fertig. Er verspürte nicht einmal Lust, ihr eine Abfuhr zu erteilen – schon das bedeutete mehr Kontakt, als er wünschte.
Thomas machte sich nicht einmal die Mühe, den Brief zu lesen, denn er wollte nicht an alte Geschichten rühren. Genau wie der vorangegangene fand auch dieser Brief ein schnelles Ende in den lodernden Flammen des Kamins.
Amelia hörte, wie sich die vertrauten Schritte dem Arbeitszimmer näherten. Mit einem tiefen Atemzug bereitete sie sich auf die Begegnung vor.
Ihr Magen krampfte sich leicht zusammen, als sie ihn erblickte. Ganz in Blau gekleidet sah er wieder einmal außerordentlich attraktiv aus. Trotzdem verstand sie nicht, weshalb sie immer so heftig auf ihn reagierte. Schließlich besaß er nicht das einzige schöne Gesicht, das sie zu sehen bekam. Warum also um alles in der Welt?
Schweigend näherte sich Thomas ihrem Arbeitstisch, suchte nur ihren Blick und hielt ihn fest. Wenige Schritte neben ihr blieb er stehen. Unerklärliche Panik überfiel Amelia, die sie nur mühsam unter Kontrolle brachte.
»Wollen Sie etwa, dass ich noch mehr mache? Ich habe immerhin noch Unterlagen von gestern zu bearbeiten«, sagte sie mit einer hochmütigen Miene, die ihr zur zweiten Natur geworden zu sein schien.
»Freitagmorgen reisen wir mit meiner Mutter und meinen Schwestern nach London.« Die Stirnfalten und der strenge Zug um seinen Mund deuteten an, dass er über die Situation nicht allzu glücklich war.
»Wir? Ich soll Sie also begleiten?«
»Nun, ich kann Sie hier schließlich nicht sich selbst überlassen«, murmelte er mit einer Stimme, die so dumpf war wie seine Stimmung.
»Warum müssen wir beide fahren, wenn doch die Aussicht weder Ihnen noch mir behagt? Was genau glauben Sie, was ich tun werde, sobald Sie fort sind? Mit Ihrem Tafelsilber durchbrennen?« So viele Sätze wie jetzt hatten sie schon lange nicht mehr gewechselt.
»Nein. Aber es würde mich nicht wundern, wenn Sie einen der Diener zur gemeinsamen Flucht anstiften«, gab er bissig zurück.
Amelia stieg die Röte in die Wangen, denn er spielte auf den nicht standesgemäßen Joseph Cromwell an, obwohl dessen Vater zwei große Textilfabriken besaß. Sie bemühte sich, ihre Gereiztheit zu unterdrücken. »Ich dachte, Sie hätten inzwischen begriffen, dass ich mich vorwiegend für Kaufleute und mittellose Aristokraten interessiere. Und Sie, Mylord, sollten sich mit Äußerungen über Angehörige der bürgerlichen Schicht tunlichst zurückhalten. Ganz besonders deshalb, weil mir zu Ohren gekommen ist, dass Sie sich mit Frauen vergnügen, die – wie soll ich sagen – gewisse Dienstleistungen anbieten.«
Der strenge Zug um seinen Mund wich einem amüsierten Lachen. »Warum plötzlich so zurückhaltend, Prinzessin? Sie haben mich doch schon beschuldigt, jede Hure in ganz London zu kennen. Es ist höchste Zeit, dass ich diesen Irrtum richtigstelle. Denn entgegen Ihrer Annahme habe ich die Dienste einer Hure noch nie in Anspruch genommen.«
Amelia konnte sich ein Lachen kaum verkneifen.
»Warum sollte ich für etwas bezahlen, was ich auch anders bekommen kann?«
»Sie haben also keine Geliebte? Zahlen Sie nicht für deren Unterhalt?«
Der Viscount kniff die Augen zusammen. »Ich will doch hoffen, dass Sie eine Geliebte nicht mit einer gewöhnlichen Hure vergleichen wollen.«
»Nein, keineswegs. Nicht mit einer gewöhnlichen. Ich nehme an, dass eine Geliebte größere Chancen hat, einen gewissen Reichtum zu erlangen. Außerdem muss sie während der Laufzeit des Vertrags nur einen einzigen Mann bedienen. Ich vermute allerdings ebenfalls, dass die Kosten für ihren Unterhalt sehr hoch sind, deutlich höher jedenfalls als die Aufwendungen für eine Hure.«
Armstrong schwieg für einige Sekunden verblüfft, starrte sie mit verschlossener Miene an. »Du liebe Güte, damit scheinen Sie sich ja wirklich auszukennen. Denken Sie darüber nach, selbst in das Gewerbe einzusteigen?«
Obwohl eindeutig als beleidigende Provokation gemeint weigerte Amelia sich, den Köder zu schlucken. »Mag sein, dass ich noch jung bin. Aber das ist nicht das Gleiche wie naiv. Und es mag ebenfalls sein, dass man sich in der Gesellschaft nur hinter vorgehaltener Hand über solche Dinge unterhält. Nur sind sie trotzdem kein Geheimnis.«
Mit betonter Lässigkeit schob der Viscount die Unterlagen beiseite und setzte sich auf den Tisch, auf ihren Tisch, dabei ein Bein nur eine Handbreite von ihrem Arm entfernt, während das andere fest auf dem Boden stand.
»Es gibt nur eines, das teurer ist als eine Geliebte. Eine Ehefrau. Sie jedoch hätte ich ohne jede vertragliche Abmachung haben können. Sie sind weder eine Verlobte noch eine berufsmäßige Geliebte, um das mal so auszudrücken, und natürlich auch kein Straßenmädchen. Was sind Sie eigentlich?«, stieß er so leise und anzüglich hervor, dass es vollends unverschämt klang.
Amelia stockte der Atem. Vor Empörung holte sie mit der Hand aus, um ihn zu verscheuchen, und streifte dabei versehentlich über seine Hose. Beinahe wäre sie wie elektrisiert aufgesprungen, aber sie zwang sich sitzen zu bleiben. Ja, seinen zwei Küssen und Umarmungen hatte sie sich hingegeben, doch das musste ihn nicht zu der Annahme verleiten, dass sie ihm deshalb die ganze Welt zu Füßen legte.
»Sie sollten aufhören, sich selbst zu schmeicheln.«
Er lachte so heiser, dass es ihr ungewollt einen Schauder über den Rücken jagte. »Nun, Prinzessin, ich glaube eher, dass Sie mich anstacheln.« Er starrte sie an, als hätte er sämtliche Schwachstellen bei ihr entlarvt und wollte sie jetzt zu seinem Vorteil ausbeuten. Plötzlich verspürte Amelia Angst, panische Angst.
»Beweisen Sie es«, flüsterte er, und in seinen Augen glitzerte es herausfordernd.
»Pardon?« Amelia errötete, und ihre Lider flatterten.
»Beweisen Sie, dass ich es nicht schaffe, in Ihnen ein Verlangen nach mir zu wecken.«
»Ich … Nun, solche Dinge muss ich nicht beweisen.«
Er lachte kurz auf. »Oh, da bin ich mir aber gar nicht sicher.« Und dann schloss er die Hand um ihren Nacken und zog sie zu sich heran, während er gleichzeitig den Kopf senkte.
Amelia hätte sich mit Leichtigkeit aus seinem Griff befreien und dem Wahnsinn ein Ende bereiten können, damit nicht alles wieder in wechselseitige Schuldzuweisungen mündete. Doch nichts dergleichen geschah. Sie schaute nur zu, wie er immer näher rückte, den Blick verführerisch auf sie gerichtet. Noch nie im Leben hatte sie solche Hitze in sich gespürt, noch nie im Leben sich von einem Mann derart gefesselt gefühlt.
Abrupt zog er die Hand zurück und gab Amelia frei. Als er sich erhob, spielte um seine Lippen ein zufriedenes Lächeln, um das sie ihn beneidete. Sie hingegen fühlte sich verwirrt und wie gelähmt.
»Sehen Sie es, dass ich Sie, wie auch immer, haben kann?« Thomas stopfte die Hände tief in die Hosentaschen. Was eher beiläufig wirkte, diente in Wahrheit dazu, sein Zittern zu verbergen, denn das Verlangen, sie in die Arme zu reißen, sie auf den Boden zu legen und sie zu nehmen auf die erdenklichsten und unausdenklichsten Weisen, trieb ihn schier zur Verzweiflung. Dass er seit vier Wochen abstinent lebte, verstärkte sein Begehren zwar, aber sein Hunger galt nicht irgendwem, sondern eindeutig ihr.
Er wandte sich ab, um seine unübersehbare Reaktion zu verbergen. Diese verdammte Erregung.
»Warum haben Sie das getan?«, sagte sie heiser.
Thomas drehte sich wieder zu ihr, überrascht angesichts der Unverblümtheit ihrer Frage.
Er schwieg eine ganze Weile. »Um etwas zu beweisen«, erwiderte er schließlich.
Amelia erhob sich und kam auf ihn zu.
Thomas hätte nichts lieber getan, als die Augen vor dieser personifizierten Verlockung zu schließen. Doch er wusste zugleich, dass er sich keinerlei Schwäche anmerken lassen durfte, sonst würde sie es gnadenlos ausnutzen und ihn bei lebendigem Leibe verschlingen.
»Und das wäre?«, fragte sie. Ihre Stimme klang inzwischen kühler und gefasster.
Was zum Teufel sollte er antworten? Dass er beweisen wollte, sich selbst unter Kontrolle halten zu können? Diese Episode gehörte in das Theaterstück, das er ursprünglich in Szene setzen wollte, bis sich die Ereignisse verselbstständigten und ein neues Drehbuch erforderten.
Bevor er seine Gedanken sammeln und eine wohlüberlegte Antwort artikulieren konnte, presste sie sich an ihn, legte die schmalen Hände um seinen Nacken und zog seinen Kopf zu sich hinunter.
Es war ein Sturmangriff auf seine Sinne, unterstützt durch den Duft nach zarter Weiblichkeit. Seine Erregung schmerzte ihn inzwischen so sehr, dass er weder die Kraft noch den Wunsch verspürte, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Und am wenigsten gegen sich selbst. Er umschloss ihr Gesicht mit den Händen und suchte ihren Mund.
Hunger und Verlangen löschten den letzten Rest von Widerstand aus. Vier Wochen der Selbstverleugnung, vier Wochen des unerfüllten Begehrens flossen in den Kuss ein. Ihr Kopf lag in seiner Schulterbeuge, während die Hände über ihren schmalen Rücken strichen, nach vorne wanderten, die Knospe ihrer festen Brust fanden und sich um sie schlossen.
Unter dem seidigen Mieder spürte er ihre Reaktion, als er sie an dieser empfindsamen Stelle streichelte, bis sie erstickt aufstöhnte. Er sehnte sich danach, ihr Mieder herunterzureißen und ihre Brüste zu betrachten, zu liebkosen. Er stellte sich vor, wie es wäre, die rosigen Spitzen zwischen seine Lippen zu nehmen. Ein Gedanke, der auch ihn zum Stöhnen brachte. Du lieber Himmel, gab es eine Frau, die er jemals mehr gewollt hatte? Falls überhaupt, dann schien es eine Ewigkeit her zu sein.
Sie erwiderte seine Küsse mit unschuldigem Eifer, öffnete bereitwillig den Mund für ihn. Sie mochte ungeübt sein, doch sie lernte schnell, wie er zugeben musste. Und sie schaffte es, ihn vollständig in die Knie zu zwingen.
»Du liebe Güte, ich will dich.« Mit der freien Hand zog er ihre Hüften zu sich heran, aber es befanden sich immer noch zu viele Lagen Stoff zwischen ihnen. Unmöglich, sich so dicht an sie zu schmiegen, wie er es gerne wollte.
Genau in diesem Moment befreite sie sich erneut aus seiner leidenschaftlichen Umarmung, und obwohl er sie festzuhalten versuchte, trat sie hastig zurück. Thomas stöhnte leise und gequält.
Ihre Lippen waren immer noch leicht geschwollen, und die Frisur ein einziges Durcheinander, das wirr über die Schultern fiel. Amelia presste einen Finger auf die Lippen und starrte ihn mit glühendem, leidenschaftlichem Blick an.
»Was hat das zu bedeuten?« Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder.
Sie schwieg für ein paar Sekunden. Ihr Brustkorb hob und senkte sich heftig, und für eine Weile war sie außerstande zu sprechen. Doch was dann kam, war eine kalte Dusche. »Ich habe Sie geküsst, weil Sie ein arroganter, anmaßender Kerl sind, der glaubt, mich zum Narren halten zu können, weil er sein gesamtes Erwachsenenleben der Kunst gewidmet hat, wie man Frauen verführt und ihnen höchste Lust bereitet. Nun, ich müsste Sie als Versager betrachten, wenn Sie dieses Talent nicht inzwischen zur Perfektion gebracht hätten. Glückwunsch, Mylord, ein vollkommener Versager sind Sie nicht.«
Trotz der Beleidigung konnte Thomas im Augenblick nur daran denken, dass er sie wollte. Sein Körper schmerzte, so sehr verlangte es ihn nach ihr. Er sehnte sich danach, sie wieder in seine Arme zu reißen und genau dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten. Seine Erregung war so gewaltig, dass er keinen anderen Gedanken fassen konnte als den, die Tür abzuschließen und sie an der Wand, auf dem Fußboden, auf dem Tisch und auf dem Teppich vor dem Kamin zu nehmen. In ihre feuchte Hitze zu gleiten. So oft in sie einzudringen, bis sie ihren eigenen Namen nicht mehr wusste und er alle Regeln des Anstands vergaß.
»Ich verstehe, dass meine Worte auf dem Ball Ihren Stolz verletzt haben«, fuhr sie scheinbar gleichmütig fort, »und meine Reaktion auf Sie beweist, wie sehr ich im Unrecht war. Ich muss zugeben, dass Ihre Liebeskunst beachtlich ist. Aber wenn Sie mich jetzt bitte gehen lassen würden?«
Thomas konnte kaum fassen, was er gerade gehört hatte. Dergleichen zu erwarten wäre ihm vermessen erschienen. Vielleicht in einem Moment höchster Leidenschaft und Lust, wenn sie um Erfüllung bettelte, ja, das schien möglich. Aber doch nicht so! Das war in seinem Drehbuch nicht vorgesehen, dass sie einfach ihren Irrtum eingestand und ihn dann in aller Ruhe bat, sie allein zu lassen.
»Sind Sie sich angesichts Ihres Eingeständnisses sicher, dass es Sie nach nichts anderem verlangt?«
Amelia wandte den Blick ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ja, natürlich.«
Später würde er sich einreden, dass er trotz allem weiter das Spiel bestimmte. Dass er selbst es gewesen sei, der es beendete, um wieder zu dem ursprünglichen Plan zurückzukehren, demzufolge er sich als ihr Dienstherr gebärden musste, dessen Aufsicht sie unterstellt war.
»Dann soll es so sein, wie Sie es wünschen«, verkündete er ernst.
Amelia musterte ihn eindringlich, als befürchte sie einen Hintergedanken.
»Ich werde Sie jetzt Ihren Aufgaben überlassen. Den morgigen Tag können Sie nutzen, um für die Abreise am Freitag zu packen.« Er verbeugte sich hastig und war verschwunden.
In dem Augenblick, in dem er durch die Tür verschwand, sank Amelia auf ihren Stuhl und atmete tief durch. Der Mann hatte seine Zunge in ihrem Mund gehabt, die Hände an ihren Brüsten, und manchem Teil seines Körpers war mancher Teil ihres Körpers beinahe so vertraut wie ihr selbst. Daher brachte sie es kaum noch fertig, die Form zu wahren, wenn sie über ihn nachdachte.
Du lieber Himmel, welcher Teufel hatte sie nur geritten, ihn so hemmungslos zu küssen? Sie wusste nur eines, dass es sie unverändert heftig nach ihm verlangte, auch nachdem er außer Sichtweite war. Und vermutlich ging es ihm nicht anders. Wie sehr hatte sie ihm beweisen wollen, dass nicht nur sie sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen fühlte, sondern dass es sich umgekehrt genauso verhielt. Aber das Wissen darum, dass es stimmte, machte die Sache nicht besser. Ganz im Gegenteil, es schien alles schlimmer geworden dadurch.
Zunehmend merkte sie außerdem, wie sehr Thomas sich von Lord Clayborough unterschied. Der Baron hatte ihr nicht einmal ein Bruchstück der körperlichen Reaktion entlocken können. Nun gut, aber war’s das nicht schon? Eine verständliche körperliche Reaktion auf einen attraktiven, geradezu umwerfend gut aussehenden Mann? Was sie mit Lord Clayborough verband, war wichtiger als das, redete sie sich ein und fragte sich gleichzeitig, warum auf keinen ihrer drei Briefe eine Antwort gekommen war. Was vor allem deshalb ungewöhnlich schien, weil er sich früher immer übermäßig besorgt gezeigt hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Und als ob das nicht genug wäre, sollte sie jetzt auch noch mit Thomas und seiner Familie nach London reisen.
Gerade als Amelia sich verzweifelt eingestehen wollte, dass es eigentlich nicht mehr schlimmer kommen konnte, fiel ihr ein, dass Clayborough sich in London aufhielt. Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Endlich würde sie wieder Boden unter die Füße bekommen. Allerdings konnte sie nicht behaupten, dass sie sich auf den Mann freute, den sie als ihren Verlobten betrachtete. Aber Gefühle spielten in dieser Beziehung schließlich keine Rolle. Hauptsache, sie konnten sich sehen und alles Weitere planen. Der Viscount ahnte nicht, welch unerwartetes Geschenk er ihr mit dieser Reise nach London machte. Jedenfalls eines, das sie nach besten Kräften ausnutzen würde.