13

Noch am selben Abend schrieb Amelia in ihrem Schlafzimmer beim Licht einer Kerze einen Brief an Lord Clayborough. An mehreren Stellen durchbohrte die Feder das Papier, als seien Worte nicht genug, um zu demonstrieren, dass die Sache immer dringlicher wurde. Und um ihrer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen.

Amelia überlegte bereits, ebenfalls mit ihrer Freundin Elizabeth Kontakt aufzunehmen. Aber sie brachte es nicht über sich, die Countess of Creswell, die in vier Monaten ihr erstes Kind erwartete, mit ihren Problemen zu belasten.

Nachdem sie den Brief versiegelt und auf dem Nachttisch abgelegt hatte, damit der Lakai ihn in die Post geben konnte, dachte Amelia über die vertrackte Situation nach, in der sie sich befand. Vor allem war es ihr völlig unbegreiflich, in welcher Weise sie auf Thomas Armstrong reagierte, wie sie schwach wurde in seiner Gegenwart. Das ängstigte und ärgerte sie gleichermaßen.

Das Schlimmste war, dass sie sich selbst nicht mehr trauen konnte. Sobald er in ihrer Nähe auftauchte, war alles zu spät, wie sie erst heute Morgen wieder erleben musste. Ihr Kleid mit dem Kaffeefleck erinnerte sie nur zu deutlich daran. Sie war nicht besser als all die anderen Frauen, die er in seinem Bett gehabt hatte. Genau genommen sogar schlimmer, denn er machte ihr nicht den Hof, schickte ihr keine Blumen und flüsterte ihr keine süßen Worte zu. Nein, er überrumpelte sie, nachdem sie ihn nur zwei Minuten zuvor am liebsten am Galgen gesehen hätte. Beschämung war noch eine harmlose Beschreibung ihrer Gefühle.

Wenn sie den Brief an Lord Clayborough doch nur mit dem Boten schicken könnte wie in London, denn die Post auf dem Land galt nicht als besonders zuverlässig. Erst vor Kurzem hatte ein Farmer in seiner Scheune zwei Taschen voller Briefe gefunden, auf die die Empfänger vergeblich warteten.

Trotzdem musste sie darauf bauen, dass es klappte. Schließlich konnte sie kaum einen von Armstrongs Bediensteten als persönlichen Kurier nutzen, schon gar nicht mit einer Nachricht an Clayborough. Das würde sogar sie nicht fertigbringen, und selbst wenn sie es versuchte, würde der Viscount es zu verhindern wissen.

Am nächsten Morgen saß Amelia bereits eine Viertelstunde an ihrem Tisch, bevor er eintraf. Den Kuss des vergangenen Tages immer noch in allzu lebhafter Erinnerung zog sie es vor, den Blick stur auf die Papiere zu richten und so zu tun, als arbeite sie angestrengt und konzentriert. Aber in dem Moment, als er den Fuß in das Arbeitszimmer setzte, war es schon wieder um sie geschehen.

»Guten Morgen, Amelia.«

Wie erfrischender Tau schienen seine freundlichen Worte über ihre strapazierten Nerven zu perlen. Ein überraschend vertraulicher Ton lag in seiner Stimme. Amelia warf ihm einen raschen Blick zu und nickte knapp. Besser, sie schaute ihn nicht zu genau an, denn auch in seiner Reitkleidung sah er umwerfend attraktiv aus. Allerdings deutete das darauf hin, dass er den Tag nicht im Haus zu verbringen gedachte, was zweifellos für ihre aufgewühlten Sinne besser war und somit eine tröstliche Aussicht darstellte.

»Legen Sie die Papiere beiseite«, sagte er und kam zu ihrem Tisch. »Heute Vormittag unternehmen wir einen Ausritt.«

Amelia starrte ihn verwundert an. Seine Lippen umspielte ein weiches Lächeln.

»Das möchte ich lieber nicht«, erwiderte sie reserviert, nachdem sie sich vom ersten Schrecken erholt hatte.

Er lachte kurz. »Fassen Sie es einfach als Teil Ihrer Pflichten auf, obwohl ich eigentlich dachte, dass Sie die frische Luft genießen würden. Ihr Vater hat mir oft erzählt, wie geschickt Sie im Sattel sitzen. Ich dachte wirklich, dass Sie es kaum erwarten können, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen.«

Es schien ihr absurd, dass ihr Vater irgendetwas Positives über sie geäußert haben sollte. »Ich kann mich nicht erinnern, dass Ausritte auf der Liste meiner Pflichten standen, die Sie mir kurz nach meiner Ankunft präsentiert haben.«

Wieder lachte er, und die Grübchen auf seiner Wange vertieften sich. »Ich glaube, ich hatte erwähnt, dass es zusätzliche Aufgaben geben würde. Fassen Sie das hier einfach so auf.«

Amelia betrachtete die Arbeit auf ihrem Tisch und verfluchte die Ablage, die sie noch erledigen musste. Ausritt oder Ablage, das war wie die Wahl zwischen gezuckerten Erdbeeren mit Schlagsahne oder gekochtem Hammel mit Stampfkartoffeln. Keine Frage, was ihr besser schmeckte. »Für einen Ausritt bin ich nicht angezogen.« Mit halbherzigem Protest zeigte sie auf ihr geblümtes Kleid.

Der klar und vernünftig denkende Teil in Thomas wünschte, die zögerlich aufkeimende Sehnsucht in ihren Augen zu ignorieren, die ihr eine gewisse Verletzlichkeit verlieh.

»Würde es Ihnen leichter fallen, wenn ich Ihnen verrate, dass es sich nicht um eine Bitte handelt, sondern um einen Befehl der Viscountess höchstpersönlich?«

Thomas, mein Lieber, warum nimmt du Lady Amelia nicht zu einem Ausritt mit? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das arme Mädchen die Absicht hat, den größten Teil des Tages im Arbeitszimmer eingesperrt zu sein.

Amelia erhob sich. Ihre Bewegungen waren so elegant wie die einer Ballerina. Wenn der Vorschlag von seiner Mutter ausging! Plötzlich fand sie die Aussicht auf frische Luft und Tapetenwechsel unwiderstehlich.

»Nun, da die Viscountess den Ausritt angeordnet hat, sollte ich mir etwas Passenderes anziehen.«

Während sie an ihm vorbeiging, beobachtete er fasziniert ihren vollendet weiblichen Hüftschwung, der erregend und zugleich voller Unschuld war. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle auf sie gestürzt … Und das nicht nur einmal.

Du liebe Güte, er steckte wirklich in Schwierigkeiten.

Nichts entwickelte sich so wie geplant. Zweifellos reagierte sie stärker auf ihn, als er es je zu hoffen gewagt hatte, aber genauso verhielt es sich mit ihm. Und das war weder beabsichtigt noch von Vorteil, wenn er ihr eine Lektion erteilen wollte. Sein Verlangen nach ihr war mittlerweile so stark, dass es Berge zu versetzen vermochte.

Dabei war die Lösung für sein Dilemma recht einfach. Er musste nur aufhören, sie zu küssen. Denn jeder Kuss kehrte sein Innerstes nach außen, verdrehte ihm den Kopf, beschäftigte seine Gedanken, quälte ihn endlos.

Hör auf, die Frau zu küssen. Laut hallte der Befehl in seinem Kopf wider. Es kam nur darauf an, sein Ziel ohne weitere körperliche Vertraulichkeiten zu erreichen. Ein ganz neuer Gedanke, dem er jedoch nähertreten sollte.

Eine Viertelstunde später zweifelte Thomas indes bereits ernsthaft daran, ob er genügend Disziplin besaß, um seinen jüngsten Vorsatz zu beherzigen. Die Schwellung unter seiner braunen Reithose jedenfalls, die ihn zwang, hinter seinem Schreibtisch sitzen zu bleiben, gab Anlass zu berechtigten Zweifeln.

Amelia kam ins Zimmer, und er sah nichts als dichtes, dunkles, seidiges Haar, lange Gliedmaßen und einen verlockenden Busen. Ihre Kleidung konnte man nur als skandalös bezeichnen. Das, was sie trug, ähnelte einem Rock, wenn man von den zwei Schlitzen absah, die vorn und hinten von der Hüfte bis zum Saum reichten. Und unter dem schweren dunkelblauen Stoff sah man enge Reithosen, die schlanke Beine modellierten. Beine, die schöner waren als alles, was er jemals gesehen hatte. Wie verführerisch ein eigentlich männliches Kleidungsstück doch an einer perfekten Frau aussehen konnte.

Jetzt begriff er auch, warum es Frauen nicht erlaubt war, bei offiziellen Anlässen wie großen Jagdgesellschaften etwa Hosen zu tragen. Thomas schluckte schwer und bemühte sich um eine ausdruckslose Miene, während rohe und primitive Lust sich seiner bemächtigte.

»Ich bin bereit.« Dicht hinter der Tür war sie stehen geblieben.

»Ja, das sind Sie ganz gewiss«, stieß er atemlos und kaum verständlich aus, während er sich lüstern ausmalte, wie er sie gleich hier auf dem Schreibtisch nehmen, in ihren Körper eintauchen und sie zum Höhepunkt treiben würde. Er stellte sich vor, wie sie sich unter seiner Hand, seinem Mund wand, sich um ihn verkrampfte und nichts war als eine Masse zitternder Muskeln und seidiger Gliedmaßen … Und anschließend würde er selbst in der engen, feuchten Öffnung ihres Körpers den beseligenden Gipfel der Lust erreichen.

Thomas tauchte aus seinen Tagträumen auf und bemerkte, dass sie ihn erwartungsvoll anstarrte. Rasch erhob er sich. Verstohlen blickte er an sich hinunter und stellte fest, dass kein verräterischer Wulst die glatte Linie seines Jacketts störte, obwohl die Erregung ihn immer noch im Griff hielt, als warte sie auf Erlösung.

»Brauchen Sie einen Damensattel?« Mit ein paar Schritten war er an ihrer Seite.

»Nein, ich sitze rittlings.«

Ihre Bemerkung beschwor Bilder herauf, wie sie über ihm war und ihre langen Beine sich in übermütiger Hemmungslosigkeit an ihn pressten. Er wagte es nicht, den Blick tiefer als bis zu ihrem Nacken gleiten zu lassen. »Warum denn das?«

Amelia räusperte sich, bevor sie antwortete. »Meine Mutter glaubte, dass der Damensattel zu gefährlich sei.«

»Ach, sie war wohl eine Suffragette«, spottete er, denn sonst hätte er auf der Stelle über sie herfallen müssen. »Eine Frauenrechtlerin?«

»Nein«, rief sie und fuhr dann in ruhigem Ton fort, als hätte sie die Schärfe in ihrer Stimme bemerkt. »Keine Suffragette, nur eine kluge Frau.«

Thomas spürte irgendeinen unausgesprochenen Kummer in ihren schlichten Worten und dachte, dass vielleicht mehr dahintersteckte, als Amelia ihm jemals anvertrauen würde.

»Kommen Sie, lassen Sie uns zu den Ställen gehen. Sie liegen nicht weit vom Haus entfernt.« Und ein Spaziergang durch den frostigen Herbsttag würde Wunder wirken, um seine Lust zu kühlen. Hoffte er jedenfalls.

Den Weg dorthin legten sie vergleichsweise schweigend zurück. Wenn sie sprachen, dann über Belanglosigkeiten. Kein Wort über ihre heftigen erotischen Zusammenstöße und auch nicht über ihr gewagtes Reitdress, das der Viscount kommentarlos hinnahm.

Dann erreichten sie den Stall, und Amelia sah die schönsten Pferde, die sie je zu Gesicht bekommen hatte. Eine kastanienbraune Stute und ein schwarzes Vollblut waren bereits für den Ausritt vorbereitet worden. Bald würden sie gemeinsam über die Felder und Wiesen jagen, als ob es nie diese Küsse gegeben hätte und als ob Frauen in ledernen Reithosen, die rittlings im Sattel saßen, ein normaler Anblick wären.

Während Armstrong voller Zuneigung das Fell des Vollbluts streichelte, stupste die Stute mit dem Maul an die Taschen seiner Reitjacke, als ob sie hoffte, irgendwelche Süßigkeiten zu finden. »Das ist Lightning. Ihr Pferd für heute.«

Amelia rieb die seidige braune Mähne der Stute, die ihr fast bis aufs Maul hing. »Das Tier ist wunderschön«, sagte sie mit ruhiger, bedächtiger Stimme. Das Pferd schnaubte leise und scharrte erwartungsvoll mit dem vorderen Huf.

Thomas band den Schwarzen an einem Holzpfosten an und griff nach den Zügeln der Stute. »Lightning misst fast einen Meter achtzig. Sie brauchen Hilfe, um in den Sattel zu steigen.«

»Das schaffe ich schon alleine«, sagte sie, doch dann fiel ihr Blick auf den Steigbügel, der viel höher hing, als sie es gewohnt war.

»Seien Sie nicht so stur. Ich habe sogar schon erwachsene Männer erlebt, die beim Aufsteigen Hilfe brauchten.«

»Nun, ich nicht«, stieß sie mit entschlossen zusammengebissenen Zähnen hervor, riss ihm die Zügel aus der Hand, hob ein Bein und schob den Fuß ordentlich in den Steigbügel, musste aber feststellen, dass ihr die nötige Kraft fehlte, um sich abzustoßen. Unbeeindruckt versuchte sie es ein zweites Mal, drückte sich fester ab, doch es reichte noch immer nicht. Und obwohl Lightning reglos stehen blieb, scheiterte auch Amelias dritter Versuch. Flüchtig blickte sie in Armstrongs Richtung, dessen Miene, abgesehen von einem wissenden Glitzern in den Augen, undurchdringlich blieb.

Er räusperte sich, als sie den Fuß aus dem Steigbügel nahm. Ihr Atem ging schwer, so sehr hatte sie sich angestrengt. »Gestatten Sie mir nun, Ihnen zu helfen, oder wollen Sie den ganzen Vormittag damit verschwenden, mir zu beweisen, dass Sie das besser können als die meisten Männer?«

Amelia warf ihm einen missmutigen Blick zu, bevor sie verärgert nickte. »Mein eigenes Pferd ist nicht ganz so groß«, murmelte sie.

»Soll ich Ihnen vielleicht eine Stute in angemessener Größe besorgen?« Er sah aus, als würde er sich ein Lächeln verkneifen.

Warum zum Teufel hatte er das nicht gleich von Anfang an getan? Amelia gab einen verächtlichen Laut von sich. »Wohl kaum.«

»Dann lassen Sie uns endlich weitermachen.«

Seine Unterstützung bestand darin, dass seine Hände auf die eine oder andere Weise die gesamte Länge ihres Beines berührten. Als sie schließlich im Sattel saß, prickelte es überall heiß auf ihrer Haut, und ihre Selbstbeherrschung war mehr oder weniger zum Teufel. Mal wieder.

»Wie ist es da oben?« Er behielt sie genau im Blick, während er sich Zeit ließ, die Hand von ihrem lederbekleideten Bein zurückzuziehen. Und sie stieß sie nicht weg. Weil sie es nicht wollte oder nicht konnte? Fahrig nestelte sie stattdessen an ihrem Rock, um ihn sittsam über das Bein zu ziehen. Dabei drückte sie der Stute offenbar versehentlich die Ferse in die Flanke, sodass sie davongaloppierte, ehe Amelia die Zügel fest in den Händen hielt.

Als es ihr endlich gelang, das Tier zum Stehen zu bringen, war Armstrong bereits an ihrer Seite.

»Was zum Teufel tun Sie da?« Seine Augen blitzten vor unterdrücktem Ärger. »Wollen Sie sich etwa umbringen und mein Pferd zum Krüppel machen?«

Amelia wendete die Stute, um ihn direkt anzuschauen. »Es gibt keinen Grund, so zu schreien. Mein Bein ist abgerutscht, das ist alles.«

»Sie sind doch erfahren genug, um zu wissen, dass Sie nicht unkontrolliert die Beine bewegen dürfen, wenn Sie auf einem Pferd sitzen.«

»Nun, wenn Sie Ihre Hand zügiger von meinem Bein genommen hätten, dann wäre das vielleicht nicht passiert…« Kaum ausgesprochen wünschte Amelia sich schon, diese Bemerkung nie gemacht zu haben. Das war für ihn willkommene Munition, wie ihr sein träges Lächeln auch sogleich bewies. Würde er es ausnutzen?

»Das nächste Mal werde ich dran denken«, sagte er lässig.

»Es wird kein nächstes Mal geben«, brummte Amelia.

Sein Lächeln wurde breiter. »Vielleicht sollten wir jetzt mit unserem Ausritt beginnen«, erwiderte er und trieb sein Pferd an, ohne ein weiteres Wort über den Zwischenfall zu verlieren.

Amelia genoss die folgenden Stunden in vollen Zügen. Dieser Ausritt war zweifellos der Höhepunkt ihres bisherigen Aufenthalts auf Stoneridge Hall. Thomas Armstrong entführte sie auf eine wundervolle Tour über seinen ausgedehnten Besitz, durch bezaubernd pittoreske Landschaften, wie sie sie noch nie gesehen hatte.

Auch hinsichtlich ihres Verhaltens fanden sie an diesem Morgen einen anderen Umgangston. Sie schafften es, sich jenseits bloßer Höflichkeit vorsichtig in den unbekannten Bereich echter Herzlichkeit vorzutasten. Der Viscount führte ihr alles sichtlich stolz vor, zeigte ihr Weiden, Wälder und Fischteiche sowie einige Pachthöfe und wusste zu dem einen und anderen kleine Geschichten zu erzählen.

Als ihr Ritt nach zwei Stunden zu Ende ging, schien es ihr, als sei die Zeit verflogen. Als sie die Ställe erreichten, stieg Amelia, eingedenk ihrer misslungenen Bemühungen zu Beginn des Ausritts, schnell von ihrer Stute, bevor Armstrong ihr seine helfende Hand anbieten konnte. Sein verhaltenes Lächeln bewies ihr, dass er den Grund ihrer Hast sehr wohl begriff.

»Ich kümmere mich schon, Mylord«, sagte der junge Stallbursche, nahm die Zügel entgegen und führte die Pferde zu einer Tränke seitlich des Gebäudes.

»Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich ein wenig frisch machen und etwas essen wollen, bevor Sie heute Nachmittag mit Ihrer Arbeit beginnen.«

Amelia konnte sich nur ungefähr vorstellen, welchen Anblick sie bot. Trotz der kühlen Temperatur fühlte sie sich erhitzt, und ein paar Haarsträhnen klebten ihr nass auf der Stirn. Für sie gab es jetzt nichts Schöneres, als in ein entspannendes warmes Bad einzutauchen.

Er dagegen wirkte nicht besonders mitgenommen. Nur seine Haare waren vom Wind zerzaust, was seine Attraktivität jedoch nur erhöhte. Auch sah sein Gesicht keineswegs von der frischen Luft gerötet aus, sondern schimmerte lediglich goldfarben. Es war wirklich unfair, dass ihm ein paar Stunden im Sattel nichts anhaben konnten, während sie sich so attraktiv fühlte wie eine Kuhmagd beim Melken.

Bei ihrer Rückkehr ins Herrenhaus machte er mit ihr noch einen kleinen Umweg zu einer Ulme, die er als Kind gepflanzt hatte, wie er behauptete. »Ich möchte Ihnen zeigen, wo ich meine Initialen in den Baum geschnitzt habe.« Er ergriff Amelias Hand und führte sie zu dem Baum; die trockenen Blätter um den dicken, knorrigen Stamm raschelten unter ihren Stiefeln. Sie bemühte sich, die Hitze zu ignorieren, die unter seiner Berührung aufwallte.

Thomas ließ sie auch dann nicht los, als er mit dem Finger auf die Stelle tippte, wo deutlich lesbar die Buchstaben TPA eingeritzt waren.

»Wofür steht das P?«, fragte Amelia, ohne lange nachzudenken, und tadelte sich erneut dafür, überhaupt irgendein Interesse an ihm zu bekunden.

»Phillip. So heißen die Männer in unserer Familie«, erklärte er.

Amelia wusste, dass sein Vater verstarb, als er etwa achtzehn war. Er stand also gerade auf der Schwelle zum Erwachsenenalter, als ihm Titel und Verantwortung zufielen. Wie bravourös er diese schweren Aufgaben bewältigte, das hatte ihren eigenen Vater zutiefst beeindruckt. Immer er und nicht ich, dachte sie voller Bitterkeit.

»Wir haben beide ein Elternteil in jungen Jahren verloren«, fuhr er fort und hielt ihren Blick fest.

Amelia schluckte und konnte nur nicken, während sie unauffällig versuchte, ihren Arm aus seinem Griff zu befreien. Es war ihr erheblich lieber, wenn sie einander ignorierten oder kleine Giftpfeile gegeneinander schleuderten. Das war weit weniger gefährlich als diese Vertraulichkeiten. Oder diese Nähe, wenn er so wie jetzt ganz dicht an ihrer Seite stand. Ja, es gab in der Tat viel beängstigendere Dinge an Thomas Armstrong als seine charakterlichen Mängel.

Seine Hand noch immer fest auf ihrem Arm trat Amelia einen Schritt von dem Baum zurück, dessen Zweige sich tief auf sie senkten. Sie stutzte, als der Viscount ein kleines Messer aus der Innenseite eines seiner kniehohen Lederstiefel zog.

»Los, schnitzen Sie Ihre Initialen in den Stamm.« Er hielt ihr den Metallgriff des Messers entgegen.

»Warum um alles in der Welt sollte ich das tun?« Amelia starrte das Messer an.

Seine Zähne blitzten weiß in seinem sonnengebräunten Gesicht, und ihr wurde so flau im Magen, als hätte er sie geküsst.

»Tun Sie eigentlich niemals etwas, nur weil es Ihnen Vergnügen bereitet? Gefällt Ihnen der Gedanke nicht, dass es irgendetwas gibt, das eine bleibende Erinnerung darstellt?« Seine Augen verdunkelten sich, während sein Blick an ihren Lippen hing und eine neuerliche Hitzewelle bei ihr auslöste.

»Nur selten«, erwiderte sie, und es klang ein wenig atemlos.

»Dann mache ich es für Sie.« Er nahm das Messer wieder an sich und schnitzte mit großer Sorgfalt die Initialen ARB unter die seinen.

»Woher wissen Sie …«

»Ihr Vater. Er hat lang und breit von Ihnen erzählt.«

Plötzlich durchflutete sie ein unsäglicher Schmerz, ebenso bitter wie lähmend. Mit einer Klarheit, die ihr seit ihrer Ankunft auf Stoneridge Hall weitgehend abhanden gekommen zu sein schien, rief sich Amelia in diesem Augenblick all die Gründe ins Gedächtnis zurück, warum sie Thomas Armstrong verabscheuen sollte. Vergessen waren die Momente während des Ausritts, als sie einander so selten nah waren.

Rose lautete ihr zweiter Vorname. Sie hieß so nach ihrer Mutter. Ihr Vater hatte nicht das Recht, über solch persönliche Dinge mit Fremden zu sprechen. Ganz besonders nicht mit ihm.

Die Wut verlieh ihr Kraft. »Ja, er vergisst zwar meinen Geburtstag und hat nicht die geringste Ahnung, welche Dinge mir wichtig sind. Er schiebt mich ab zu einem Mann, den ich lieber niederknüppeln als heiraten würde. Aber ich muss offenbar außerordentlich dankbar sein, dass er sich wenigstens an meinen vollen Namen erinnert.«

Thomas Armstrong riss die Augen auf, als hätte man ihn aus dem Hinterhalt überfallen, und schaute Amelia wie versteinert an. »Sie heiraten?«

Jede andere Frau hätte den verächtlichen Unterton, den er in diese zwei Worte legte, als Beleidigung empfunden.

»Ich? Nein, es geht um etwas ganz anderes. Jeder mit einem Funken Verstand kann durchschauen, was mein Vater im Schilde führt. Sie sind der Sohn, den er niemals hatte. Und wenn er Sie schon nicht sein eigen Fleisch und Blut nennen kann, dann würde er Sie gerne durch eine Ehe mit mir dazu machen. Um jeden Preis. Und falls Sie das nicht erkennen, dann tun Sie mir leid.«

Das Blut pochte heftig in seinen Schläfen. Er hielt die Hände dicht am Körper.

»Warum bringen Sie es fertig, dass ich die Freundlichkeit bedaure, mit der ich Ihnen heute begegnet bin.«

»Ha! Was heißt hier Freundlichkeit? Sie haben doch nur den Wünschen Ihrer Mutter entsprochen.«

Aus seinen Augen schienen grüne Funken zu sprühen. »Ja, ich nehme Rücksicht auf die Wünsche meiner Eltern. Was Ihnen allerdings vollkommen fremd zu sein scheint. Sie sollten sich eigentlich glücklich schätzen und nicht so undankbar sein. Immerhin legt Ihr Vater Wert darauf, Sie mit einem Gentleman verheiratet zu sehen, der nicht jeden Schilling Ihrer Mitgift an Spieltischen verplempert. Wäre ich an seiner Stelle – und ich bin dem Himmel jeden Tag dankbar, dass es nicht so ist –, würde ich freudig Ihrer Ehe mit diesem Habenichts Clayborough zustimmen. Diese Verbindung wäre nämlich wie das Seil am Galgen, an dem Sie sich aufknüpfen können. Lassen Sie es sich gesagt sein: Selbst die Bank von England hat nicht genügend Geld im Tresor, um mich zu bestechen, mit Ihnen vor den Altar zu treten. Was das betrifft, dürfen Sie also ganz beruhigt sein.«

Amelia schluckte, erinnerte sich an das letzte Mal, als sie geweint hatte. Damals im Sommer, als sie dreizehn war, mit Fieber im Bett lag und auf die Rückkehr ihres Vaters wartete. Doch er kam nicht. Fünf Tage lang weinte sie, weil sie sich so verlassen fühlte, nachdem im Jahr zuvor ihre Mutter gestorben war. Dann beschloss sie, nie wieder eine Träne zu vergießen. Und sie hielt sich daran.

Was würde sie jetzt darum geben, wieder dieses dreizehnjährige Mädchen zu sein, das weinen konnte, ohne den Abgrund ihres Schmerzes und ihrer Verletzung enthüllen zu müssen. Aber das war ihr als erwachsener Frau verwehrt, zumindest hier und vor ihm. Vielleicht sogar für immer.

Amelia rang um ihre Fassung. »Sie haben recht. Jetzt habe ich eine Sorge weniger und werde bestimmt viel besser schlafen.« Damit drehte sie sich um und legte den Weg zum Haus alleine zurück.