6
Amelia sprang so abrupt auf, dass die Seide ihres Kleides raschelte und die sperrige Krinoline beinahe den Stuhl umgeworfen hätte.
»Ich … ich kann unmöglich mit ihm auf seinem Anwesen leben«, sagte sie, dabei mühsam ihren Atem kontrollierend. Panik stieg in ihr hoch und drohte außer Kontrolle zu geraten. »Vater, das wäre nicht akzeptabel und würde meinen Ruf ruinieren.«
»Ich glaube kaum, dass es dazu kommt.« Die Grübchen auf den Wangen des Viscount vertieften sich wie immer, wenn er sich amüsierte.
Amelia hätte niemals geglaubt, einen Menschen so sehr verachten zu können wie ihn in diesem Moment. Sein Lächeln – nein, es war mehr ein spöttisches Grinsen – bekräftigte ihre Empfindung nur noch mehr.
Der Marquess setzte sich in Positur. »Natürlich würde ich nichts gestatten, was die Gesellschaft als unanständig empfinden würde. Du wirst ordentlich beaufsichtigt werden, solange du dich auf Thomas’ Anwesen aufhältst. Miss Crawford und Hélène werden dich begleiten. Außerdem sind Lady Armstrong und ihre beiden jüngeren Töchter anwesend, zumindest für eine gewisse Zeit.«
Seine Worte drangen gar nicht zu ihr durch. Es gab nur eines, was sie zweifelsfrei wusste: Keinesfalls war sie in der Lage, bei diesem Mann zu leben. Niemals.
»Vater, es muss doch jemand anderen geben, bei dem ich diese lächerliche Strafe abarbeiten kann. Irgendjemanden.« Noch nie hatte sie um mildernde Umstände gebeten – aber diese Situation verlangte eindeutig eine Abweichung von der Regel.
Ihr Vater schüttelte entschieden den Kopf, signalisierte, dass er nicht bereit war, sich umstimmen zu lassen. Amelia atmete tief durch und sank in ihrem Stuhl zusammen, bemerkte nicht einmal, dass der Mann neben ihr höchst zufrieden dreinschaute. Sie hätte am liebsten irgendetwas genommen und gegen die Wand geworfen, wenn sie diesem Kerl schon nicht mit dem marmornen Briefbeschwerer den Schädel einschlagen durfte. Sie bezwang sich, verschränkte die Hände im Schoß und presste die Zähne so fest aufeinander, als wolle sie sie zu Staub zermahlen.
»Schon auf Lady Stantons Ball wussten Sie es die ganze Zeit über«, wisperte sie hitzig. Während sie seine Berührung und Nähe widerwillig ertragen musste, hatte er in der Aussicht geschwelgt, sie schon bald unter Kontrolle zu haben.
Der Blick ihres Vaters wanderte zwischen ihnen hin und her. Seine Stirn bewölkte sich, während Armstrong keine Miene verzog. »Sie trauen mir viel zu viel zu. Ich kann mich nicht erinnern, je als Wahrsager gegolten zu haben. Nein, ich weiß es erst seit heute Morgen, als Ihr Vater mir praktisch die Zügel in die Hand gab.«
»Zügel? Zügel! Wollen Sie mich mit einem Tier vergleichen? Etwa mit einem Pferd?« Amelia klammerte sich so fest an den Stuhl, dass die Knöchel an ihren Fingern weiß hervortraten.
»Um Gottes willen, nein«, erwiderte er bestürzt, »ich habe Sie nicht kränken wollen. Bitte verzeihen Sie den dummen, unbedachten Vergleich. Es war keine Absicht. Man gewöhnt sich solche Reden einfach an, wenn man ein Gestüt betreibt.« Er warf dem Marquess ein bedauerndes Lächeln zu, das dieser strahlend erwiderte. Warum auch nicht? Ihm musste der junge Viscount wie der Retter in der Not erscheinen, den er vom Himmel erfleht hatte. Er würde die Ordnung wiederherstellen.
»Du sollst wissen, dass Thomas meine Bitte anfänglich abgelehnt hat. Umso glücklicher bin ich, dass er anderen Sinnes wurde«, erklärte Lord Bradford, als käme dieser Tatsache eine besondere Bedeutung bei. Oder erwartete er etwa, dass sie seine Glücksgefühle teilte?
Amelia wandte den Blick ab, weigerte sich, dieses süffisante Grinsen auch nur eine Sekunde länger anzuschauen. Seine Wortwahl war keineswegs ein zufälliger Ausrutscher gewesen. Und es scherte ihn auch nicht, ob sie arbeitete. Nein, bei ihm ging es einzig und allein darum, ihren Willen zu brechen, und genauso machte er es mit widerspenstigen Pferden.
Niemals.
»Wie schrecklich nett von ihm«, stieß sie sarkastisch hervor.
»In drei Tagen kehren wir nach Hause zurück, und nächsten Monat gehst du dann nach Devon.«
Sie überschlug schnell die Zeit. Insgesamt vier Monate würde sie also mit diesem widerlich arroganten Kerl verbringen müssen. Obwohl ihr Magen sich vor Aufregung verkrampfte, richtete Amelia sich auf ihrem Stuhl kerzengerade auf und blickte kampfeslustig in die Runde.
»Amelia, wenn du nichts mehr zu sagen hast, darfst du dich verabschieden.« Mit diesen Worten pflegte ihr Vater sie stets fortzuschicken, und sobald sie aufgestanden war, widmete er sich anderen Dingen. So auch diesmal.
Nur fort, dachte Amelia, weg aus diesem Zimmer und von diesem Mann. Doch sie bremste ihre Schritte, um nicht kopflos davonzustürzen wie ein kleines gekränktes Mädchen. Niemand sollte merken, wie sehr sie das alles kränkte. Sie fühlte sich wie ein geprügelter Hund. Just in dem Moment, als sie nach dem Türknauf griff, hörte sie seine Stimme, leise und wohlwollend, doch sie verstand es als Kriegserklärung. »Lady Amelia, ich freue mich sehr auf Ihre Ankunft im nächsten Monat.«
Sie blieb stehen. Und musste sich mit aller Macht zwingen, sich nicht umzudrehen und ihm ihre Empörung ins Gesicht zu schreien. Es wäre ohnehin sinnlos. Zudem sagte ihr der Instinkt, dass es besser sei, die Kräfte für jene Schlachten aufzusparen, die mit Sicherheit noch vor ihr lagen. Amelia glitt durch die Tür, ohne sich noch einmal umzuschauen.
»Sie ist nicht glücklich.« Lord Bradford verkündete nicht mehr als das, was ohnehin auf der Hand lag.
»Deshalb empfindet sie die Maßnahme auch als Strafe. Sie geht davon aus, dass ihr Unangemessenes zugemutet wird«, erwiderte Thomas trocken und zuckte lässig die Schultern.
»Ja, aber wenn Amelia nicht glücklich ist, schafft sie es spielend, die anderen um sich herum ebenfalls unglücklich zu machen.«
Thomas zog einen Mundwinkel hoch. »Im Umgang mit anderen mag das der Fall sein. Ich kann dir allerdings versichern, dass ihr Elend, was auch immer es sein mag, mein Wohlbefinden keinesfalls beeinträchtigen wird.«
So etwas würde ihm kein zweites Mal passieren. Das hatte er sich geschworen nach dem ersten gescheiterten Liebesabenteuer, als er noch ein ganz junger Mann gewesen war, gerade dem Jünglingsalter entwachsen. Er würde sich von niemandem mehr den Schlaf rauben lassen, schon gar nicht von einer aufsässigen und verzogenen jungen Dame mit einem losen Mundwerk.
»Aus diesem Grund habe ich mich ja an dich gewandt. Wenn ich überhaupt jemanden kenne, der sie unter Kontrolle bringen kann, dann bist du das. Seit dem Tod ihrer Mutter habe ich unglücklicherweise genau dort die Zügel schleifen lassen, wo eine feste Hand vonnöten gewesen wäre.«
Bei Thomas schrillten sämtliche Alarmglocken. »Harry, ich hoffe sehr, dass du meinen Sinneswandel nicht als Indiz missverstehst, dass mein Interesse an deiner Tochter sich grundsätzlich verändert hätte.« Jedenfalls nicht in einer ehrenhaften Richtung, wie der Marquess das vielleicht hoffte.
Denn dessen erfreuter Gesichtsausdruck sprach Bände. Falls Harry wirklich auf eine Verbindung zwischen ihnen spekulierte, würde er am Ende schrecklich enttäuscht sein. Thomas war lediglich daran interessiert, ihr eine Lektion zu erteilen.
Oder sie zu bestrafen, ganz wie man es sehen mochte.
Harry Bertram lachte leise. »Ganz bestimmt nicht. Ich hoffe nur auf eine liebenswürdigere Tochter. Das ist alles.«
Diese Versicherung änderte nichts an der bösen Vorahnung, die sich in Thomas Armstrong breitmachte. Allerdings konnte Amelias Vater keinen Einfluss nehmen, denn er würde schließlich Tausende Meilen weit weg sein, auf der anderen Seite des Ozeans.
»Nun, dann hoffen wir mal, dass du sie bei deiner Rückkehr verändert vorfindest. Hoffentlich zum Besseren.«
»Das wünsche ich mir ernstlich. Eigentlich sollte man denken, dass sich bei ihrer Schönheit und ihrer Mitgift die Bewerber die Klinke in die Hand geben müssten. Stattdessen nichts. Nur fünf Heiratsanträge in der zweiten Saison, dazu von Gentlemen, die zu fade sind, um sie auch nur eine Stunde lang ertragen zu können. Kein Fünkchen Verstand in ihnen.«
»Ich tue, was ich kann.« Was er jedoch mit der kleinen Miss vorhatte, das verriet er nicht.
Zehn Minuten, nachdem er sich von Lord Bradford verabschiedet hatte, eilte Thomas die St. James Street hinunter in Richtung Süden zu seinem Londoner Stadthaus. Er musste seine Mutter benachrichtigen, dass sie in den nächsten Monaten Einquartierung bekamen. War nur die Frage, wo das Zimmer für Lady Amelia hergerichtet werden sollte – im Dienstbotenquartier oder im Gästeflügel? Thomas lächelte. Rache ist süß, besagte ein Sprichwort. Man musste sie nur richtig dosieren.
Sie werden auf dem Land bei mir wohnen.
Amelia war bereits in ihrem Schlafzimmer angekommen, als die Worte noch immer in ihrem Kopf widerhallten wie eine Unheil verkündende Melodie. Sie musste nachdenken. Geheime Pläne schmieden. Die Dringlichkeit der Lage ließ ihren Verstand auf Hochtouren arbeiten. Es kam ihr vor, als säße ihr Vater mit ihr in einer Kutsche, deren Achse gebrochen war, während sie gleichzeitig mit vier Zugpferden voranstürmten … So etwas konnte nur in einer Katastrophe enden. Folglich duldete die Angelegenheit keine weitere Verzögerung.
Rasch warf sie ein paar Zeilen aufs Papier, die unverzüglich an Lord Clayborough überbracht werden sollten. Der Mann hatte zwar nicht viel aufzuweisen, war lediglich der Erbe eines verarmten Barons in Derbyshire, aber was ihm an Vermögen fehlte, machte er mit seiner Cleverness wieder wett. Nur wenige Männer würden es wagen, ihrem Vater in die Quere zu kommen. Clayborough gehörte zu ihnen, wenngleich bislang ohne Erfolg. Doch allein der Versuch bezeugte eine gewisse Charakterstärke. In dieser Hinsicht war er Armstrong und seinesgleichen sicherlich weit voraus, egal wie die Gesellschaft das beurteilen mochte.
Um halb elf am nächsten Vormittag wartete Amelia in Begleitung von Hélène, ihrer französischen Zofe, und Charles, dem ersten Lakaien, im Hyde Park auf Lord Clayborough.
Schon eine Stunde nach ihrem Brief, in dem sie ihn um ein Treffen bat, war die Antwort eingetroffen. Bei der großen Ulme zwischen Rotten Row und Fluss lautete sein Vorschlag. Über eine Stunde wartete sie bereits auf ihn, ohne ihn selbst oder seinen Landauer zu erblicken.
Mit der Hand schützte Amelia die Augen vor der strahlenden Augustsonne und suchte nochmals die Umgebung ab. Seine große, schlaksige Gestalt konnte sie unmöglich übersehen haben. Zu dieser Jahreszeit waren überdies nicht viele Menschen im Park, weil die meisten den Hochsommer über auf ihren Landsitzen weilten, und so entdeckte sie nur vereinzelt Spaziergänger oder Kutschen. Doch weit und breit keinen Clayborough.
Alle paar Minuten schaute sie sinnloserweise auf die Uhr. Grimmig presste sie die Lippen zusammen. Sie wollte bereits verärgert das Signal zum Aufbruch geben, als sie ein galoppierendes Gespann entdeckte, das näher kam. Lord Clayboroughs blaugraue Kutsche, die den Hügel hinauffuhr.
Kaum hielt der Landauer hinter ihrem an, sprang der Baron auch schon heraus. Ihr ganz persönlicher Ritter, nur dass er braunes Tuch statt glänzendem Stahl trug und dass seine Equipage dringend einen neuen Anstrich benötigte. Nun, lieber einen armen Ritter als einen wohlhabenden, liederlichen Schurken.
In wenigen Sekunden war er bei ihr, schwer atmend und mit gerötetem Gesicht, was Amelia eher auf seine Aufregung als auf irgendeine Anstrengung zurückführte. Schließlich war er ja nicht zu Fuß gegangen.
»Guten Morgen, Lady Amelia. Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung, aber mitten auf dem Piccadilly verlor ein Pferd sein Hufeisen. Was zu einigem Durcheinander geführt hat. Ich hoffe, Sie haben nicht allzu lange warten müssen?« Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, sodass sein kantiges Gesicht etwas weicher wirkte und jünger aussah als neunundzwanzig Jahre.
Amelia schob ihren Groll beiseite, als sie sein Lächeln sah. Schließlich konnte er nichts für solche Unwägbarkeiten. »Guten Tag, Lord Clayborough. Ist schon in Ordnung«, erwiderte sie gnädig, »kommen Sie, wir wollen zur Brücke gehen.« Sie wandte sich an Charles, der ihr an diesem Vormittag als Bursche zur Verfügung stand. »Wir sind bald zurück.«
Charles, der ihr treu ergeben war, saß auf dem Kutschbock und nickte. Mit dem blonden, rotgesichtigen Mann hatte sie bereits Freundschaft geschlossen, als er noch in den Stallungen arbeitete, und sich seine ewige Dankbarkeit gesichert, indem sie bei ihrem Vater ein gutes Wort für ihn einlegte und Charles in den Rang eines Lakaien aufstieg.
Hélène hielt sich außer Hörweite ein Stück hinter ihnen, als sie mit Lord Clayborough zum Fluss hinunterspazierte.
Sie schwiegen ein paar Sekunden, bevor sie den Kopf hob und ihn unter der flachen Krempe ihrer Haube hervor anschaute. »Mein Vater schickt mich nach Devon«, verkündete sie absichtlich abrupt und dramatisch, um ihn aus seinem anscheinend unerschütterlichen Gleichmut zu reißen.
Überrascht weiteten sich seine braunen Augen. »Nach Devon? Was um alles in der Welt haben Sie dort zu suchen?«
Nun, das war schon besser als ein beschwichtigendes Lächeln und ebenso beschwichtigende Worte.
»Gar nichts. Mein Vater will mich bestrafen, und diesmal stellt er sich vor, mich arbeiten zu lassen.«
Lord Clayborough riss die Augen noch weiter auf und verlangsamte den Schritt, um gleich wieder schneller zu werden, als er merkte, dass sie im gleichen Tempo weitermarschierte.
»Arbeit?« Er spie das Wort aus, als könne er es unmöglich über die Zunge bringen. »Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Ich versichere Ihnen, dass ich über solche Dinge keine Witze reiße. Für die Dauer seiner Reise soll ich dortbleiben. Ab nächsten Monat.« Als er den Schritt verlangsamte und schließlich stehen blieb, tat Amelia es ihm nach und drehte sich zu ihm.
»Verehrteste Lady Amelia, ich kann Sie nur ernstlich um Verzeihung bitten.«
»Es ist kaum Ihr Verschulden«, Amelia wischte seine Entschuldigung mit einer Handbewegung fort. »Wie gewöhnlich benimmt mein Vater sich reichlich unvernünftig. Und diese … Strafe ist einfach nur barbarisch. Im Lichte dieser Ereignisse ist es unausweichlich, dass wir unverzüglich heiraten.«
Mit der Fingerspitze, die in einem Handschuh steckte, schob Clayborough den braunen Hut hoch und zog die Brauen zusammen. »Was ist mit Ihrem Vater, Ihrer Anstandsdame …?«
Genau an der Stelle auf seiner Stirn, wo kurz zuvor der Hut gesessen hatte, standen winzige Schweißperlen. Er fragte sich, ob es klug sei, sich erneut mit ihrem Vater anzulegen. Dieser Gedanke beschäftigte ihn bereits seit Tagen. Andererseits: Was konnte Bradford ihm schon anhaben? Der Mann besaß schließlich nicht die Macht, Clayborough den Titel oder seinen Besitz wegzunehmen.
»Miss Crawford ist heute Morgen nach Yorkshire zurückgekehrt. Gestern Abend erreichte sie die Nachricht, dass ihre Mutter erkrankt sei.« Die Verabredung mit Lord Clayborough war dadurch natürlich viel einfacher geworden.
»Hoffentlich nichts Ernstes«, erwiderte er höflich.
Amelia ging weiter, und Clayborough blieb an ihrer Seite. »Ich glaube nicht. Sie wird für nächste Woche zurückerwartet. Und jetzt zu unserer Hochzeitsangelegenheit …«
»Nun …«
»Wegen des neuen Gesetzes in Schottland bleibt uns nur Zeit bis zum Jahresende.« Ein Windstoß wehte ihre Röcke hoch. Mit beiden Händen hielt Amelia den gestreiften Musselin fest, bis der Wind nachließ.
»Warum die Eile, wenn uns noch Zeit bleibt? Ich will sagen, ist das wirklich gescheit, wenn man die Katastrophe der vergangenen Woche bedenkt?«, fragte Clayborough verzagt.
»Übermorgen kehre ich aufs Land zurück. Den Luxus, lange zu warten, können wir uns nicht leisten.« Amelia fragte sich, ob er überhaupt zugehört hatte. Sie sollte arbeiten! Wenn das nicht zur Eile drängte, was dann?
Der Baron nahm den Hut ab, zog ein Taschentuch aus der Innentasche seines Jacketts und tupfte sich die Stirn ab. »Glauben Sie nicht, dass es von Vorteil wäre, wenn wir erst heiraten, nachdem Ihr Vater nach Amerika abgereist ist? Mir ist der Gedanke verhasst, der Vorfall vom letzten Mittwoch könnte sich wiederholen.«
Amelia fasste sein Zögern als nicht hinnehmbares Anzeichen von Schwäche auf, neigte den Kopf und betrachtete ihn mit vorwurfsvoller Miene. »Nun ja, Sie müssen eben dafür sorgen, dass er uns erst nach der Zeremonie entdeckt.«
Ein schwerer Seufzer kam ihm über die Lippen, als er das Taschentuch in die Innentasche zurücksteckte und den Hut wieder auf den Kopf drückte. »Wenn das nur so einfach wäre.«
In allen Dingen, die ihr am wichtigsten waren, schien Clayborough das genaue Gegenteil ihres Vaters. Er würde einen wunderbaren Ehemann abgeben, aufmerksam und nichts fordernd. Er legte es nicht darauf an, um jeden Preis ein Vermögen anzuhäufen, und er hatte eine Art an sich, die ihr verriet, dass er ein fürsorglicher Vater sein würde.
Amelia konnte nicht behaupten, dass sie sich oft über ihn geärgert hatte, seit sie ihn kannte. Deshalb behagte es ihr absolut nicht, dass er sich ausgerechnet jetzt entschloss, mit allerlei Ausflüchten und Vorbehalten anzufangen – in diesem Moment, in dem sie ihn am meisten brauchte. »Wir müssen diesmal einfach nur vorsichtiger sein. Sobald ich London erst einmal verlassen habe, wird es weitaus schwieriger werden durchzubrennen.«
»Aber ein weiterer Versuch wäre nicht nur unbesonnen, sondern auch dumm«, entgegnete er heftig und ließ den Blick über Park und Fluss gleiten.
Falls er befürchtete, dass jemand mithörte, musste er sich wirklich keine Sorgen machen. Denn das Wasser, das sich hier durch die Wiesen schlängelte, plätscherte laut genug, um andere Geräusche zu übertönen. Zudem wehte der Wind so, dass er ihre Worte wegtrug, und überdies war sowieso niemand in ihrer Nähe.
Dann kam ihr eine brillante Idee. »Ich werde ihm erzählen, dass Sie mich verdorben haben.«
Die Wachsfiguren in Madame Tussauts Kabinett könnten nicht entsetzter dreinblicken als Lord Clayborough in diesem Moment.
»Lieber Himmel, dann müssten Sie den Witwenschleier anlegen, noch bevor wir überhaupt geheiratet haben.« Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Zumindest würde Ihr Vater ein paar brutale Kerle anheuern, die einen Eunuchen aus mir machen.«
Nein, solche Niedertracht lag dem Marquess of Bradford fern. Überdies befand er Männer wie Clayborough, zumal wenn sie nur über begrenzte finanzielle Möglichkeiten verfügten, für nicht wert, sich überhaupt mit ihnen zu befassen. Nein, er würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach endgültig in ein Kloster schicken, und zwar für den Rest ihres Lebens. Denn beerben konnte sie ihn ja ohnehin nicht. Ja, wenn sie als Junge geboren worden wäre …
Amelia unterbrach ihre nutzlosen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf ihren künftigen Ehemann. Musterte ihn argwöhnisch und fragte sich nach den Ursachen seiner gefurchten Stirn und der Schweißperlen im Gesicht, an denen dunkle Haarsträhnen klebten.
Er öffnete den Mund. Aber bevor er mit einer Litanei von Entschuldigungen und Überlegungen zur Unvernunft ihres Vorschlags beginnen konnte, hinderte sie ihn mit erhobener Hand am Sprechen. »Natürlich haben Sie recht. Sobald es um seinen Schwiegersohn geht, kennt mein Vater kein Pardon.« Immer beklagte sie sich über sein Desinteresse. Wie schön wäre es, wenn er das auch in diesem speziellen Fall an den Tag legen würde.
Lord Clayborough indes schien ihre Worte missverstanden zu haben. Man sah, wie seine Schultern sich entspannten, wie die starre Haltung sich lockerte und die Farbe in sein Gesicht zurückkehrte.
»Ich bin froh, dass wir uns einig sind.« Sein Lächeln allerdings wirkte etwas unsicher.
»Wenn Sie meinen, es lässt sich nicht sofort machen, müssen Sie nach der Abreise meines Vaters nach Devon kommen. Dort wohne ich auf Lord Armstrongs Anwesen.«
Der Baron stolperte, fing sich aber gleich wieder. »Armstrong? Sie halten sich auf dem Besitz von Viscount Armstrong auf?«
Amelia warf ihm einen scharfen Blick zu. Brach etwa seine Stimme ein wenig, als er den Namen aussprach? Es konnte wohl nicht sein, dass er unter einer so lächerlichen Sache wie Eifersucht litt. Das gehörte zu den Gefühlen, die sie keineswegs duldete, denn es bedeutete gleichzeitig, einen Besitzanspruch zu erheben, und das würde sie weder ihm noch irgendeinem anderen Mann gewähren. Nicht einmal ihrem Ehemann.
»Ja, so ist es. In den Augen meines Vaters kann der Mann gar nichts falsch machen.«
Lord Clayborough strich sich nachdenklich über das Kinn. »Aber Armstrong …«
»Oh, ich bitte Sie, lassen Sie uns kein weiteres Wort über diesen schrecklichen Mann verlieren. Es reicht, dass ich mich in dieser vertrackten Lage befinde. Mir ist der Ruf des Viscount sehr wohl bewusst, doch wie es aussieht, hegt mein Vater in dieser Hinsicht keinerlei Bedenken. Männern werden oft Freiheiten gestattet, die man Frauen verweigert.«
Clayborough nahm dazu keine Stellung, drängte bloß zum Aufbruch. »Lassen Sie uns den Rückweg antreten. Ich möchte nicht, dass Ihr Vater erneut seine Männer ausschickt, um Sie persönlich abzuholen, falls Sie zu lange wegbleiben«, sagte er trocken und schob die Hand unter ihren rechten Ellbogen, als sie sich umdrehten und in Richtung der wartenden Kutschen zurückgingen.
»Sobald mein Vater abgereist ist und ich mich in Devon eingerichtet habe, nehme ich Verbindung zu Ihnen auf. Bis dahin werde ich eine annehmbare Vorstellung entwickeln, wie wir unseren Plan am besten in die Tat umsetzen.« Amelia warf ihm einen Blick zu. Er bestätigte ihre Worte mit einem langsamen, wohlüberlegten Nicken.
»Haben Sie darüber nachgedacht, was geschieht, wenn Ihr Vater Ihnen für den Fall unserer Heirat die Mitgift verweigert?« Die Frage kam ihm recht unbekümmert über die Lippen, wenn man bedachte, wie wichtig ihm die Antwort war.
»Die Schuld, die mein Vater bereits durch sein Verhalten mir gegenüber auf sich geladen hat, wird es ihm nicht erlauben, sein einziges Kind einem Leben in Kreisen des verarmten Adels zu überlassen, wie er Situationen wie die Ihre zu nennen pflegt«, sagte sie.
Ihre Worte schienen den Baron zu reizen, denn er gab einen Laut des Unmuts von sich. Amelia nahm an, dass er über seine misslichen Lebensumstände nicht zu sprechen wünschte. Vermutlich war es ihm peinlich. Denn, um aufrichtig zu sein, welcher Mann mit einem ausreichenden Selbstwertgefühl würde es akzeptieren, wenn die öffentliche Meinung ihn hinter vorgehaltener Hand als nicht standesgemäß deklarierte?
Wenn ein Gentleman nicht in der Lage war, Frau und Kinder in einer Weise zu versorgen, wie sie einem Mitglied der privilegierten Aristokratie angemessen war, dann galt er als Mann von geringem Wert. Wer sich in dieser wenig beneidenswerten Lage befand, konnte nur auf eine vorteilhafte Heirat hoffen, und Amelia war klar, dass eine Ehe mit ihr in der Tat dieses Kriterium mehr als erfüllte. Allerdings wollte Lord Clayborough sie angeblich nicht nur wegen ihrer Mitgift heiraten. Er schätzte es, dass sie ihre Unabhängigkeit zu bewahren wünschte, und akzeptierte, dass ihre Ehe nicht auf Leidenschaft, sondern auf Respekt und Kameradschaft gründen würde. Wahrhaftig die ideale Gemeinschaft.
Amelia und Lord Clayborough wechselten noch ein paar Worte, und er erklärte sich einverstanden, die Nachricht über ihre Ankunft in Devon abzuwarten. Dann drückte er ihr leicht die Hand und half ihr in das plüschige burgunderrote Innere des Einspänners. Als Charles die Zügel anzog, war er bereits in seinem ältlichen Gefährt verschwunden. Sehnsüchtige Blicke gab es nicht zwischen ihnen.
Und genau das war es, was Amelia entschieden begrüßte.