9
Amelia lief so schnell nicht davon. Gut, sie war aus diesem abscheulichen Internat geflüchtet und vor einem Schwein auf dem Hof eines Pächters davongerannt, doch das zählte nicht wirklich.
Was aber war mit Thomas Armstrong? Um ihm zu entkommen, hatte sie eilends den Ball der Stantons verlassen, und auch jetzt empfand sie Erleichterung, seiner Präsenz entkommen zu sein. In der Sicherheit ihres Zimmers sackte Amelia mit dem Rücken gegen die Tür. Ihr Herz raste wie verrückt.
Erst war sie verärgert gewesen und hatte sich unter dem Blick seiner eindringlich grünen Augen gewunden. Es irritierte sie, weder Zorn noch Verärgerung oder gar hämische Freude wie sonst bei ihm entdecken zu können. Nichts davon. Stattdessen lag etwas in seinen Augen, was unendlich viel gefährlicher schien, weil es sie aus der Fassung brachte. Nur deshalb konnte es geschehen, dass sie im Arbeitszimmer als Unterlegene dastand, von deren unbeugsamer Haltung nicht viel übrig geblieben war.
Amelia schüttelte so heftig den Kopf, dass sich ein paar vorwitzige Locken aus ihrer Frisur lösten. Der Viscount mochte in der Lage sein, sämtliche Frauen in ganz London in seinen Bann zu schlagen. Trotzdem war es vergebliche Liebesmüh, seinen Charme an sie zu verschwenden. Daran glaubte sie nach wie vor felsenfest, wenngleich es sie zutiefst beunruhigte, wie sie auf ihn reagierte. Länger als ein Jahr war es ihr gelungen, den Kontakt zu ihm so weit wie möglich einzuschränken. Und diese Berührungsängste hatten auf Gegenseitigkeit beruht. In seltenen Fällen waren sie sich auf ein und demselben Ball begegnet, aber sie versuchten beide stets, einen gewaltigen Abstand zwischen sich zu bringen.
Allerdings waren jetzt andere Umstände eingetreten. Auf Stoneridge Hall war es schier unmöglich, sich komplett aus dem Weg zu gehen. Und mit jeder Minute, die sie in seiner Gesellschaft verbrachte, wurde offensichtlicher, dass es sich bei ihm nicht nur um einen Mann handelte, den sie tunlichst meiden sollte, sondern um einen, der ihr sehr gefährlich werden konnte. In jeder Hinsicht. Eine Erkenntnis, die sie nur in ihren Fluchtplänen bestärkte.
Ihr Gepäck, das aus drei beachtlichen Koffern bestand, war inzwischen heraufgebracht worden. Sie ging zum Bett, kletterte auf die hohe Matratze und legte das enge Korsett, das sie unter dem Unterrock trug, ab.
Die zweitägige Reise forderte ihren Tribut. Ihre heftige Reaktion hatte also nichts mit ihm zu tun, sondern bloß mit ihrer Erschöpfung. Offenbar brauchte sie einfach ein wenig Ruhe. Wenn sie wieder aufwachte, hörte ihre Welt vielleicht endlich auf, sich um sie zu drehen, bis ihr schwindelte, und stand wieder still. Und dann konnte sie endlich wieder ganz sie selbst sein.
Amelia erwachte erst, als die Sonne schon lange hinter dem Horizont versunken war, fühlte sich trotzdem immer noch zerschlagen. Hinter den Augen spürte sie ein schmerzhaftes Pochen.
Blinzelnd ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und bemerkte, dass ihr Gepäck jetzt neben dem großen Schrank an der Wand stand und die Toilettenartikel ordentlich auf dem Waschtisch lagen. Offensichtlich war Hélène zwischenzeitlich im Zimmer gewesen, um leise alles auszupacken.
In diesem Moment klopfte es an der Tür, und die Zofe stürmte herein. »Ah, oui, Sie sind wach«, grüßte das Mädchen lächelnd und eilte zum Schrank. Sie öffnete beide Türen und fing sofort an, darüber nachzudenken, welches Kleid für das Abendessen passend wäre. Schließlich streichelte sie mit den Fingern über einen hauchdünnen blassgelben Stoff.
»Soll ich ein Kleid aussuchen, Mademoiselle, pour vous?«
Amelias Kopfschmerz hatte sich von einem dumpfen Pochen zu einem scharfen und unerbittlichen Schmerz gesteigert, sodass sie nur wenige Sekunden brauchte, um sich zu entscheiden. »Nein. Bitte teil Lord Armstrong mit dem größten Ausdruck meines Bedauerns mit, dass ich aufgrund einer Unpässlichkeit nicht in der Lage sei, mich dem Abendessen im Familienkreis anzuschließen.« Und weil das der Wahrheit entsprach, würde er wenig dagegen sagen oder tun können.
Hélène drehte den Kopf abrupt in ihre Richtung. »Ist Ihnen nicht wohl, Mademoiselle?«
»Schauen Sie nicht so besorgt drein. Es ist nur ein Kopfschmerz, mehr nicht. Allerdings ein heftiger, doch eine ruhige Nacht mit ausreichend Schlaf wird alles wieder in Ordnung bringen.«
Hélène nickte, ließ den spinnwebenfeinen gelben Stoff los und schloss die Schranktüren. »Wie Sie wünschen, Mademoiselle. Soll ich darum bitten, dass ein Tablett heraufgebracht wird?«
Genau in diesem Moment rebellierte ihr Magen und krampfte sich unangenehm zusammen. Du liebe Güte, seit dem Morgen hatte sie keinen Bissen mehr zu sich genommen. »O ja, bitte. Offenbar ist mein leerer Magen schuld an diesem Migräneanfall.«
Hélène nickte und verließ das Zimmer genau in dem Moment, als zum Abendessen geklingelt wurde.
Fünf Minuten später klopfte es erneut.
»Herein«, rief Amelia, schwenkte die Beine aus dem Bett und stellte die Füße auf den plüschigen Teppich, der den Boden bedeckte. Das Essen kam viel früher als erwartet. Zum Glück, denn ihr Magen knurrte bereits erwartungsvoll.
Die Tür wurde geöffnet, aber es war nicht etwa der Diener mit der erhofften Mahlzeit, der eintrat, sondern Viscount Thomas Armstrong. Wie Gott Apoll persönlich, nur dass er ein förmliches Jackett trug, eine Weste und bräunliche Hosen sowie eine weiße Krawatte, die einen aparten Kontrast zu seiner leicht gebräunten Haut bildete. Eigentlich eine unwichtige Beobachtung, die ihr trotzdem unwillkürlich durch den Kopf schoss.
»In meinen Augen sehen Sie wohl genug aus, um herunterzukommen«, behauptete er ohne Umschweife.
Am Fußende des Bettes blieb Amelia abrupt stehen. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. »Ihre Besorgnis ist überwältigend.«
Ohne den Blick von ihr zu wenden, trat er ein. Der Raum schien zu schrumpfen durch seine Gegenwart. Lässig griff er hinter sich und versetzte der Tür einen kleinen Stoß, sodass sie mit einem gedämpften Laut zufiel, der in ihren Ohren jedoch laut und bedrohlich klang.
Amelia erschrak und schluckte schwer. Mehrere Sekunden lang konnte sie ihn nur ungläubig anstarren. »Was machen Sie da?«, sagte sie entrüstet, nachdem sie die Sprache wiedergefunden hatte.
»Machen Sie das immer so, dass Sie einen Bediensteten losschicken, um Ihre Lügen unter die Leute zu bringen?« Er kam auf sie zu. »Wenn Sie hoffen, dass ich Ihnen auch nur ein einziges Wort glaube, dann irren Sie sich gewaltig.«
»Mylord, Sie befinden sich in meinem Schlafzimmer.« Ihre Stimme klang irgendwie unsicher und brüchig. »Vielleicht sind Sie es gewohnt, andere Frauen auf diese Weise zu behandeln, aber ich bin eine Lady und erwarte, dass ich anders behandelt werde als eines Ihrer Flittchen. Ich bin ziemlich überzeugt, dass Ihre Mutter mit solchem Benehmen ebenfalls nicht einverstanden wäre.«
Unmittelbar vor ihr blieb Armstrong stehen. So dicht, dass Amelia sich nach zwei Armeslängen Abstand sehnte, doch sie konnte nicht schon wieder kneifen. Nein, diesmal musste sie standhalten.
»Ausgerechnet Sie wollen mich lehren, was Anstand ist?« Fragend zog er eine Augenbraue hoch, die deutlich dunkler war als sein Haar. »Habe ich versäumt zu erläutern, dass Ihr Vater mir die Erlaubnis erteilte, Ihnen eine andere Unterkunft zuzuweisen, falls die … äh …Situation zu anstrengend für mich wird? Ich nehme an, dass die Schwestern der Abtei in Westmorland Sie in ihrer Einsamkeit gerne willkommen heißen würden.« Langsam schüttelte er den Kopf. »Es wäre wirklich eine Schande, wenn es dazu käme.«
Der pochende Kopfschmerz war vergessen. Oder hatte er sich angesichts des neuen drohenden Ärgers verflüchtigt? Sie verwünschte ihren Vater und diesen verfluchten Kerl vor ihr, dem sie es durchaus zutraute, dass er sich mit anderen im Morgengrauen mit einer Pistole in der Hand und in Begleitung eines Sekundanten auf einem Feld zum Duell traf. Amelia atmete tief durch.
Sein Blick fiel auf ihre Brüste, wanderte zurück zu ihren Augen. »Nun, ich denke, in meinem Büro habe ich Ihnen deutlich genug zu verstehen gegeben, wie ich mir das mit den Mahlzeiten denke.«
Amelia schluckte eine Erwiderung hinunter. Ihr Magen verkrampfte sich aufs Neue, lenkte sie ab von ihrem Zorn. Alles, was er sagte, wirkte irgendwie unanständig. Zumindest viel zu vertraulich.
Er trat noch einen Schritt auf sie zu. An seinem Gesichtsausdruck konnte man ablesen, dass er ihr nach wie vor nicht glaubte. Amelia zwang sich, nicht zurückzuweichen, und hob den Kopf, um ihm direkt in die Augen zu schauen. Es ärgerte sie, dass er so nah vor ihr stand und ihr den Weg zur Tür und damit zu einer Flucht versperrte.
»Wollen Sie wirklich einen Kampf gegen mich führen? Gleich in Ihrer ersten Nacht?« Er senkte den Kopf, sodass sein Gesicht nur noch einen Fingerbreit von ihrem entfernt war. Seine Stimme klang leise und verführerisch.
Zum ersten Mal, seit sie überhaupt einen Blick auf diesen Mann geworfen hatte, durchflutete sie eine Welle der Angst, und zwar mit einer Heftigkeit, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Sie fand ihn bedrohlich; das wurde ihr jetzt klar. Nur wusste sie bislang nicht genau, um welche Art der Bedrohung es sich handelte. Und das machte sie ihm umso mehr zum Vorwurf.
»Es wäre Ihnen also lieber, wenn ich in schlechter Verfassung nach unten ginge, um mit Ihnen das Abendessen einzunehmen?«
Du liebe Güte, was tust du da eigentlich?
Wollte sie etwa an seinen Sinn für Anstand appellieren? Es war doch sonnenklar, dass bei ihm ein Klumpen Granit an der Stelle saß, wo zu früheren Zeiten einmal ein Herz gewesen sein mochte.
»Wenn Sie kränklich sind, dann bin ich der König von England.«
»Dann möchte ich Eure Hoheit höflich bitten, sich aus meinem Zimmer zu entfernen.«
»Prinzessin, es gibt eine Sache, die wir zunächst klarstellen müssen.«
Amelia biss die Zähne zusammen und krallte die Finger fest in die Falten ihres Kleides. Es war unübersehbar, dass es ihm große Freude bereitete, sie so zu nennen. Warum? Weil er wusste, dass sie diese Anrede hasste.
»Das hier«, er machte eine weit ausholende Bewegung, »sowie alles andere in diesem Haus befindet sich in meinem Besitz. Dass Sie hier wohnen dürfen, ist ausschließlich meiner Gastfreundschaft geschuldet. Mehr noch bin ich überzeugt, dass Sie sich nicht zum ersten Mal mit einem Mann alleine in einem Zimmer aufhalten, in dem sich ein Bett befindet. Erinnern Sie sich bitte, dass ich sowohl über Cromwell als auch über Clayborough Bescheid weiß. Und ich wage sogar die Behauptung, dass Cromwell nicht einmal der Erste war.«
Am liebsten hätte Amelia ihm eine Ohrfeige verpasst, mit den Fäusten auf ihn eingetrommelt, ihn zu Boden geschlagen, was zu ihrem großen Bedauern aus Gründen der Schicklichkeit oder des Ungleichgewichts der Kräfte nicht möglich war. Niemand hatte es je gewagt, solche Verdächtigungen auszusprechen, noch dazu auf solch unverschämte Art. Dachte er etwa, nur weil er sich verhielt wie ein streunender Kater, benahmen alle anderen Menschen sich genauso?
»Solange Sie sich in meinem Haus aufhalten, werden Sie das tun, was ich Ihnen sage. Haben wir uns verstanden?«
Seine Miene, sein Blick, seine gesamte Haltung verrieten ihr, dass er mit einer verstärkten Trotzreaktion ihrerseits rechnete, doch sie weigerte sich, ihm diese Genugtuung zu verschaffen.
»Oh, ich habe sehr wohl verstanden«, erwiderte sie sanft.
Reglos starrte Armstrong sie an. Fast so, als sei ihre bereitwillige Unterwerfung nicht unbedingt nach seinem Geschmack – und, davon abgesehen, auch keine wirkliche Unterwerfung.
»Und jetzt, nachdem ich Sie meines Gehorsams versichert habe, bitte ich Sie zu gehen. Und darum, dass mir wenigstens in meinem Schlafzimmer so viel Privatsphäre gewährt wird, wie jeder Mensch sie braucht. Sogar jemand, der in Ihren Diensten steht, wenn die Bemerkung erlaubt ist.« Es würde sie kaum überraschen, wenn er die Dienerschaft ebenfalls in ihren Kammern einsperrte, dachte sie gehässig.
Mit würdevoller Lässigkeit zog sich der Viscount ein paar Schritte zurück und setzte ein verführerisches Lächeln auf. »Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.«
Amelia war dankbar, dass er sie nicht länger mit seiner Nähe belästigte, und ignorierte den amüsierten und wissenden Ausdruck in seinen Augen.
»Darf ich heute Abend noch etwas essen? Oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich vor Hunger stürbe?« Ihr knurrender Magen erinnerte sie deutlich daran, dass sie etwas zu essen brauchte.
»Dieses eine Mal werde ich eine Ausnahme machen und Anweisung geben, Ihnen etwas hinaufzubringen. Ab morgen indes erwarte ich Sie im Speisezimmer.«
Amelia schwieg. Denn hätte sie geäußert, was ihr auf der Zunge lag, wäre neuer Ärger mit neuen Diskussionen vorprogrammiert gewesen.
So aber wandte sich Thomas Armstrong zur Tür, drehte sich noch ein letztes Mal um und sagte: »Kommen Sie morgen früh um acht Uhr ins Arbeitszimmer. Wenn Sie mich auch nur eine einzige Minute warten lassen, werde ich Sie persönlich abholen. Ganz gleich, ob Sie angezogen sind oder nicht.« Er hielt inne und fügte ohne jegliche Belustigung hinzu: »Wenn ich es recht bedenke, sollten Sie heute Nacht eigentlich keinen Fetzen Stoff am Leib tragen. Das würde dazu beitragen, meine Abholaktion morgen früh für uns beide ein wenig erregender zu gestalten.«
Er ließ sie mit aufgerissenen Augen und offenem Mund zurück, stocksteif und unfähig, sich zu rühren. Aber seine Worte ließen ein Bild vor ihrem inneren Auge erstehen, das sie aus ganz anderen Gründen schockierte.
Das Abendessen mit seiner Familie war eine vergleichsweise ruhige Angelegenheit gewesen. Seine neugierigen Schwestern hatten ihn mit Fragen bombardiert. Alles wollten sie über den jüngst angekommenen Gast wissen. »Fragt sie doch selbst, wenn ihr sie morgen seht«, lautete seine lapidare Antwort, doch beim fünften Mal schienen Emily und Sarah es leid zu sein und verfielen in Schweigen.
Sobald er sich endlich in die Bibliothek zurückziehen konnte, schenkte Thomas sich das ersehnte und dringend notwendige Glas Portwein ein.
Kurz darauf saß er in seinem Lieblingssessel, um in Ruhe über seine Schwierigkeiten nachzudenken. Nummer eins: Amelia Bertram. Wie ihr bisheriges Verhalten bewies, könnte sie sich als größere Herausforderung erweisen als erwartet.
Thomas trank einen Schluck. Sein Plan war recht einfach gewesen: Er wollte sie Lügen strafen wegen ihrer unsäglichen Bemerkungen auf dem Ball. Ohne mit ihr ins Bett zu gehen, wohlgemerkt. Ein paar Küsse, so seine ursprüngliche Vorstellung, müssten ausreichen, sie eines Besseren zu belehren. Zusätzlich eine leidenschaftliche Umarmung vielleicht, mehr nicht. Gerade so viel, um in ihr die Sehnsucht nach etwas zu wecken, was sie niemals bekommen würde – jedenfalls nicht von ihm.
Die Stimme der Vernunft riet ihm, sie gleich morgen beim ersten Sonnenstrahl nach Westmorland zu schicken und den frommen Schwestern die Sache zu überlassen. Die Stimme seines Stolzes hingegen befahl ihm, nicht die Waffen zu strecken. Schließlich dürstete er nach Vergeltung, und zwar mit Recht. Es schien ihm nur angemessen. Und wenn er dafür ein Theater inszenieren musste, das allen Londoner Bühnen zur Ehre gereichen würde. Nur: Da war diese unleugbare körperliche Anziehungskraft, die ihn auch in andere Richtungen denken ließ. Nun, zumindest würde er bei gewissen Verführungsaktionen nicht schauspielern müssen. Sie war begehrenswert, das musste er ihr zugestehen.
»Ich dachte, du hättest dich schon zurückgezogen«, hörte er die Stimme seiner Mutter hinter sich.
Thomas drehte den Kopf und sah, wie sie durchs Zimmer zu ihm kam. Die Röcke ihres malvenfarbenen Kleides raschelten über den Boden.
»Noch nicht.«
»Gut, denn ich möchte mit dir über Lady Amelia sprechen«, fuhr sie fort und setzte sich auf das Sofa. »Wollt ihr beide eigentlich heiraten?«
Thomas, der gerade an seinem Glas nippte, verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall. Heftig stellte er das Glas auf dem Tisch ab.
Die Viscountess tätschelte ihm besänftigend die Hand, bis der Husten nachließ. »Ich hatte nicht vor, dich so aufzuregen, mein Lieber.«
»Was um alles in der Welt bringt dich auf diesen Gedanken?«, keuchte er.
»Ganz ehrlich, es ist der einzige, der überhaupt Sinn ergibt. Du bist Junggeselle, sie ist sehr schön und von Kopf bis Fuß eine Lady. Dass Lord Bradford dich gebeten hat, auf seine Tochter aufzupassen, will mir vorkommen, als hätte er einen Fuchs beauftragt, den Hühnerstall zu hüten. Es ist ohne jede Vernunft, nicht mehr und nicht weniger. Es gibt nur einen Grund, der plausibel erscheint: Dass du die Absicht hast, sie zu heiraten.«
»Nun, tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss, Mutter. Ich hege nicht die Absicht, in nächster Zeit zu heiraten. Und ich kann dir versprechen, wenn ich es tue, dann garantiert nicht eine Frau wie Lady Amelia Bertram.«
Die Brauen der Viscountess hoben sich. »Und was wäre so falsch daran?«
Die Falle war so geschickt aufgestellt worden, dass Thomas sie nicht bemerkte, bis er hineintappte. Er lächelte zögerlich.
»Das ist eine Frage, die du mir ganz einfach auch ohne dieses Vorgeplänkel von wegen Heirat hättest stellen können.«
Lady Armstrong lächelte, sah nicht im Geringsten zerknirscht aus. »Bei einer direkten Frage wärst du mir ständig ausgewichen. Wie du es immer tust, wenn ich mich nach den Frauen in deinem Leben erkundige.«
»Amelia Bertram gehört keinesfalls zu den Frauen in meinem Leben. Sie ist lediglich die Tochter eines Freundes. Und die Frau meines Lebens lernst du kennen, sobald ich sie gefunden habe – dann, wenn ich heiraten will.«
»Nun, kannst du mir zumindest erklären, was sich zwischen euch beiden abspielt?«, fragte seine Mutter hartnäckig.
»Nichts weiter«, erwiderte Thomas und rutschte in seinem Sessel unbehaglich hin und her. »Und ich glaube, ich habe dir bereits erklärt, in welcher Zwickmühle Harry Bertram mit seiner Tochter steckt.«
Die Viscountess neigte den Kopf zur Seite und schaute ihn so an, wie sie es bereits in seiner Kindheit zu tun pflegte, wenn sie ihm ein Geständnis entlocken wollte. Aber das war lange her.
»Ja. Aber warum werde ich den Eindruck nicht los, dass du die entscheidenden Einzelheiten geflissentlich verschweigst?«
Thomas zuckte die Schultern, nahm das Glas und trank vorsichtig einen Schluck. »Ich weiß nicht, was du meinst. Es gibt sonst nichts zu sagen.«
Die Viscountess hörte nicht auf, ihn aufmerksam und mit zweifelnder Miene zu beobachten. »Nachdem ich sie gesehen habe, bin ich überaus geneigt zu glauben, dass ihr Vater kaum jemand Besseren hätte finden können, um sich um sie zu kümmern. Obwohl ich wusste, dass sie recht hübsch sein soll, war ich überrascht, dass sie zudem so … selbstbewusst wirkt. Eigentlich nicht gerade eine junge Frau, die man unter solch strenge Aufsicht stellen muss.« Sie schwieg eine Weile, bevor sie weitersprach.
»Und was hat es zu bedeuten, dass sie ohne Anstandsdame reist? Du weißt doch, dass ich euch zwei hier nicht guten Gewissens allein lassen kann. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was die Leute sagen.«
Thomas schlug die Beine übereinander und lehnte sich im Sessel zurück. »Ja, das stimmt. Damit habe auch ich nicht gerechnet. Aber keine Angst, vor deiner Abreise finde ich bestimmt noch eine angemessene Aufsicht für sie.«
Die Schwierigkeit bestand nicht darin, jemanden zu finden, sondern diese Heilige auch zu halten, nachdem sie Amelia kennengelernt hatte. Natürlich gab er sich nicht der Illusion hin, dass es sich um eine einfache Aufgabe handelte. Wie hatte Harry ihn nur in diese Lage manövrieren können, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass die Anstandsdame ausfiel?
Um seine Mutter zu beruhigen, fügte er hinzu: »Jedenfalls werde ich dafür sorgen, dass Amelia als dein Gast erscheint«, sagte er.
»Aber in vier Wochen reise ich ab.«
»Eine unvorhersehbare Unpässlichkeit, die sie daran hindert, sich dir und den Mädchen auf der Reise nach Amerika anzuschließen. Überraschend für ihren Vater, der sie dort erwartet hat. So werden wir es einfach darstellen.«
Als die Viscountess ihn anschaute, entdeckte er in ihren grünen Augen ein Flackern, das er nicht recht einordnen konnte. Sie tätschelte ihm den Unterarm. »Offenbar hast du an alles gedacht. Ich hoffe nur, dass die ganze Sache nicht unerwünschte Folgen nach sich zieht.«
Thomas lachte unfroh. »Du machst dir einfach zu viele Sorgen. Während deiner Abwesenheit werde ich nichts unternehmen, was Amelias Ruf schädigt.«
Falls seine Mutter irgendein Klatschmagazin zur Hand nahm, erfuhr sie ohnehin, dass bereits Gerüchte über Amelia im Umlauf waren. Mehr als vier Wochen waren seit Lady Stantons Ball verstrichen, und die Salons in London labten sich nach wie vor genüsslich an dem Vorfall wie ein Weinkenner an einem Glas besten Bordeaux.
Die Viscountess strich sich zufrieden über den Rock und erhob sich. »Gut. Dann gehe ich jetzt schlafen.«
Thomas prostete ihr zu. »Gute Nacht, Mutter.«
Kurz vor der Tür hielt sie inne und drehte sich zu ihm um. »Du hast einmal erzählt, dass ihre Mutter gestorben ist, als sie noch klein war.«
»Ja«, bestätigte Thomas.
Seine Mutter seufzte. »Irgendwie spüre ich, dass eine gewisse Traurigkeit sie umgibt. Du achtest doch darauf, wie du mit ihr umgehst, nicht wahr? Mir liegt sehr daran, dass sie ihren Aufenthalt hier genießt.«
Die Bemerkung seiner Mutter erwischte ihn unvorbereitet. Thomas wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Man musste ihm nicht mit der Erinnerung an einen verstorbenen Elternteil kommen; auch er hatte seinen Vater schließlich in einem schwierigen Alter verloren. Und was diese gewisse Traurigkeit betraf, nun, so konnte er keine Spur davon entdecken. Im Gegenteil, er sah nichts anderes als ein verzogenes und ungemein schwieriges weibliches Wesen, das sich um nichts anderes kümmerte als um sich selbst.
»Keine Sorge, Mutter. Ich werde Lady Amelia mit allem Respekt und aller Fürsorge behandeln, die sie verdient.«
Diesmal schien Lady Armstrong mit seiner Antwort zufrieden, denn sie lächelte ihn warmherzig an, bevor sie das Zimmer verließ.
Noch lange, nachdem sie gegangen war, grübelte Thomas darüber nach, was sie mit ihrer letzten Bemerkung eigentlich gemeint hatte.