MIT ALLEN VORHANDENEN WAFFEN
Glokta stand in dem engen Flur, wartend auf seinen Stock gestützt. Durch die Tür hindurch konnte er laute Stimmen hören.
»Keine Besucher, habe ich gesagt!«
Er seufzte leise. Er hatte Besseres zu tun, als hier auf seinem schmerzenden Bein zu stehen, aber er hatte sein Wort gegeben, und er beabsichtigte, es zu halten. Es war ein schäbiger, unauffälliger Flur in einem schäbigen, unauffälligen Haus zwischen Hunderten von anderen, die ähnlich aussahen. Das ganze Viertel war erst vor kurzer Zeit gebaut worden, mit Reihenhäuschen nach der neuesten Mode: halb in Fachwerk errichtet, mit drei Stockwerken, ausreichend für vielleicht eine Familie und einige Dienstboten. Hunderte von Häusern, die einander mehr oder weniger glichen. Häuser für angesehene Bürger. Neureiche. Emporkömmlinge, hätte Sult vermutlich gesagt. Bankiers, Kaufleute, Künstler, Ladenbesitzer, Schreiber. Vielleicht dient das eine oder andere Haus auch als Stadtwohnung für einen wohlhabenden Hofbesitzer, so wie das hier.
Die Stimmen waren wieder verstummt. Glokta hörte Bewegungen, etwas wie Gläserklingen, dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit, und das Dienstmädchen spähte hinaus. Ein unansehnliches Mädchen mit großen, wässrigen Augen. Sie sah verängstigt und schuldbewusst aus. Aber das bin ich ja gewöhnt. In Gegenwart der Inquisition wirkt jeder verängstigt und schuldbewusst.
»Sie möchte Sie nun empfangen«, nuschelte das Mädchen. Glokta nickte und schlurfte an ihr vorbei in das Zimmer, das hinter der Tür lag.
Er hatte einige verschwommene Erinnerungen an seinen Besuch bei Wests Familie, die er für ein oder zwei Wochen da oben in Angland einmal aufgesucht hatte, vor zwölf Jahren oder so, obwohl es ihm eher wie hundert vorkam. Er erinnerte sich, wie er mit West im Innenhof des Hauses Duelle ausgefochten und wie ihnen jeden Tag ein dunkelhaariges Mädchen mit ernstem Gesicht dabei zugesehen hatte. Er erinnerte sich an eine junge Frau im Park, vor gar nicht allzu langer Zeit, die ihn gefragt hatte, wie es ihm gehe. Damals hatte er große Schmerzen gehabt und kaum richtig sehen können, daher war er sich nicht mehr sicher, wie sie tatsächlich aussah. Dennoch, auf solche Schwellungen war er nicht gefasst gewesen. Er war fast ein bisschen schockiert, wenn auch nur kurz. Obwohl ich das gut verbergen kann.
Dunkel, blaurot und braun und gelb unter ihrem linken Auge, das untere Lid war stark geschwollen. Ebenso wie der Bereich rund um den Mundwinkel; die Lippe war gesprungen und verschorft. Glokta kannte sich mit solchen Prellungen besser aus als fast jeder andere. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass sie sich diese Blessuren zufällig zugezogen hat. Sie wurde ins Gesicht geschlagen, von jemandem, der ihr wirklich wehtun wollte. Er sah diese hässlichen Spuren an, und er dachte an seinen alten Freund Collem West, wie er in seinem Esszimmer weinte und ihn um Hilfe bat, und er zählte zwei und zwei zusammen.
Interessant.
Sie saß währenddessen da, sah ihn mit erhobenem Kinn an, wobei sie ihm die Seite ihres Gesichts zuwandte, die die meisten Verletzungen aufwies, als wolle sie ihn zu einem Kommentar provozieren. Sie ist ihrem Bruder nicht besonders ähnlich. Überhaupt nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in meinem Esszimmer zu heulen anfinge, weder da noch sonst wo.
»Was kann ich für Sie tun, Herr Inquisitor?«, fragte sie ihn kalt. Ihm fiel auf, dass sie das Wort Inquisitor ein kleines bisschen verwischt aussprach. Sie hat getrunken … obwohl sie das gut verbirgt. Nicht genug, um ihre Klugheit zu vernebeln. Glokta spitzte die Lippen. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, sehr vorsichtig vorgehen zu müssen.
»Ich bin nicht aus beruflichen Gründen hier. Ihr Bruder hat mich gebeten …«
Sie fiel ihm grob ins Wort. »Hat er? Tatsächlich? Sollen Sie aufpassen, dass ich nicht den falschen Kerl ficke, oder was?« Glokta wartete ab, ließ ihre Worte auf sich wirken, dann begann er leise vor sich hin zu kichern. Oh, das ist ja großartig! Ich fange richtig an, sie zu mögen! »Gibt es da was zu lachen?«, fauchte sie.
»Entschuldigen Sie«, sagte Glokta und wischte sich mit einem Finger über sein tränendes Auge, »aber ich habe zwei Jahre in den Gefängnissen des Imperators verbracht. Hätte ich damals geahnt, dass ich es dort auch nur halb so lange würde aushalten müssen, hätte ich wahrscheinlich etwas entschlossener versucht, mich umzubringen. Siebenhundert Tage, vielleicht auch ein paar mehr oder weniger, in der Dunkelheit. So nahe an der Hölle, wie ein lebender Mann je kommen kann, würde ich sagen. Damit meine ich – wenn Sie mich schockieren möchten, dann werden Sie mehr aufbieten müssen als eine grobe Ausdrucksweise.«
Glokta gönnte ihr sein Ekel erregendstes, zahnlosestes, verrücktestes Lächeln. Es gab wirklich nur wenige Menschen, die diesen Anblick längere Zeit aushielten, aber sie sah nicht einmal weg. Es dauerte nicht lange, und sie lächelte sogar zurück. Ein schiefes, ganz eigenes Grinsen, das er seltsam entwaffnend fand. Vielleicht versucht sie es jetzt mit einem Richtungswechsel.
»Es ist jedenfalls so, dass Ihr Bruder mich gebeten hat, nach Ihrem Wohlergehen zu sehen, während er unterwegs ist. Was mich betrifft, können Sie ficken, wen immer Sie wollen, obwohl ich ganz allgemein festgestellt habe, dass es im Fall einer jungen Dame am besten ist, wenn sie so wenig wie möglich fickt. Für einen jungen Mann gilt selbstverständlich das genaue Gegenteil. Das ist nicht gerade gerecht, aber da das Leben nun mal in vieler Hinsicht ungerecht ist, ist das kaum der Rede wert.«
»Tja. Da haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen.«
»Gut«, sagte Glokta, »dann verstehen wir uns also. Ich sehe, dass Sie sich im Gesicht verletzt haben.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich bin gestürzt. Ich bin ja so ungeschickt.«
»Ich kann das nachvollziehen. Ich selbst bin so ungeschickt, dass ich mir die Hälfte meiner Zähne ausgeschlagen und mein Bein zu einem nutzlosen Fleischklumpen zerhackt habe. Sehen Sie mich jetzt nur an, ich bin ein Krüppel. Es ist schon erstaunlich, wohin ein wenig Ungeschick führen kann, wenn man nicht aufpasst. Wir Ungeschickten sollten zusammenhalten, meinen Sie nicht auch?«
Sie sah ihn einen Augenblick nachdenklich an und strich über die Schwellungen am Kinn. »Ja«, sagte sie, »ich denke auch, das sollten wir.«
Goyles Praktikalin, Vitari, lag Glokta gegenüber hingestreckt auf einem Sessel, direkt vor den großen dunklen Türen, die zu den Diensträumen des Erzlektors führten. Sie war dort hineingesunken, geradezu wie hingegossen, lag da wie ein nasser Lappen, ließ die langen Glieder baumeln und stützte den Kopf gegen die Lehne des Möbels. Ihre Augen glitten von Zeit zu Zeit unter den schweren Lidern faul durch den Raum und ruhten gelegentlich für beleidigend lange Augenblicke auf Glokta selbst. Sie bewegte allerdings nie den Kopf oder auch nur einen Muskel, als ob diese Mühe für sie mit Schmerzen verbunden sei.
Was höchstwahrscheinlich durchaus der Fall ist.
Offensichtlich war sie in eine höchst gewalttätige Schlägerei verwickelt gewesen, einen Nahkampf. Ihr Hals war dort, wo er über ihren schwarzen Kragen ragte, von zahllosen bunt schillernden Schwellungen überzogen. Weitere Verletzungen, noch wesentlich mehr sogar, waren rund um ihre schwarze Maske sichtbar, und ein langer Schnitt zierte ihre Stirn. Eine ihrer herabhängenden Hände war dick bandagiert, die Knöchel der anderen waren abgeschürft und verschorft. Sie hat mehr als ein paar Schläge einstecken müssen. Sie hat hart gekämpft, gegen jemanden, der es bitter ernst meinte.
Das kleine Glöckchen schüttelte sich und läutete. »Inquisitor Glokta«, sagte der Sekretär, der eilig hinter seinem Schreibtisch aufsprang, um die Tür zu öffnen, »Seine Eminenz bittet Sie einzutreten.«
Glokta seufzte, schnaufte und stützte sich auf seinen Stock, als er aufstand. »Viel Glück«, sagte die Frau, als er an ihr vorbeihumpelte.
»Was?«
Sie machte eine kaum wahrnehmbare Kopfbewegung in Richtung der Diensträume. »Er ist heute in einer ausgesprochen schlechten Stimmung.«
Als sich die Tür öffnete, drang Sults Stimme hinaus ins Vorzimmer und wurde von unterdrücktem Gemurmel zu durchdringendem Gebrüll. Der Sekretär zuckte vor dem Türspalt zurück, als ob er eine Ohrfeige bekommen hätte.
»Zwanzig Praktikale!«, kreischte der Erzlektor drinnen im Zimmer. »Zwanzig! Wir hätten diese Hure inzwischen längst befragt haben sollen, statt hier herumzusitzen und unsere Wunden zu lecken! Wie viele Praktikale?«
»Zwanzig, Herr Erzlek …«
»Zwanzig! Verdammt noch mal!« Glokta holte tief Luft und machte sich vor der Tür bemerkbar. »Und wie viele davon sind tot?« Der Erzlektor tigerte schnellen Schrittes über den Fliesenboden des riesigen runden Raumes und machte weit ausholende Bewegungen mit seinen langen Armen. Er war ganz in Weiß gekleidet, makellos wie immer. Obwohl mir scheint, als ob diesmal ein oder zwei Härchen in Unordnung geraten sind. Er muss wirklich fuchsteufelswild sein. »Wie viele?«
»Sieben«, murmelte Superior Goyle, der zusammengesunken auf seinem Stuhl hockte.
»Ein Drittel von ihnen! Ein Drittel! Und wie viele Verletzte?«
»Acht.«
»Beinahe der ganze Rest! Gegen wie viele?«
»Insgesamt waren es sechs …«
»Ach ja?« Der Erzlektor donnerte seine Fäuste auf den Tisch und beugte sich über den immer kleiner werdenden Superior. »Ich habe gehört, es waren zwei. Zwei!«, brüllte er und begann wieder seine Runden um den Tisch zu drehen. »Beide noch dazu Barbaren! Zwei, hörte ich! Ein Weißer und ein Schwarzer, und Letzterer war noch dazu eine Frau. Eine Frau!« Er trat mit voller Wucht gegen den Stuhl neben Goyle, sodass das Möbel vor und zurück schaukelte. »Und was noch schlimmer ist, es gab für diese Erniedrigung zahllose Zeugen! Sagte ich nicht, diskret? Welchen Teil des Wörtchens diskret haben Sie nicht verstanden, Goyle?«
»Aber Herr Erzlektor, diese Umstände konnten nicht …«
»Konnten nicht?« Sults kreischende Stimme schwang sich noch eine Oktave höher. »Konnten nicht? Wie können Sie es wagen, mir so etwas zu sagen, Goyle? Ich hatte Sie um Diskretion gebeten, und Sie haben ein verdammtes Schlachtfest veranstaltet, das sich über den halben Agriont zog, und dabei noch nicht einmal Erfolge verzeichnen können! Wir stehen da wie Idioten! Schlimmer noch, wie Idioten und Versager! Meine Feinde im Geschlossenen Rat werden nicht zögern, diese Farce zu ihrem Vorteil auszunutzen. Marovia sorgt jetzt schon für Ärger, der alte Windbeutel, jammert herum wegen Erhaltung der Freiheit, strafferen Zügeln und dem ganzen Kram! Verdammte Gesetzeshüter! Wenn wir nach ihren Vorstellungen handeln würden, ginge gar nichts voran! Und Sie spielen Ihnen in die Hände, Goyle! Ich rudere zurück, entschuldige mich überall wortreich und werde versuchen, alles ins beste Licht zu rücken, aber ein Kothaufen bleibt ein Kothaufen, ganz egal, von welcher Seite man ihn beleuchtet! Haben Sie eine Ahnung, was für einen Schaden Sie angerichtet haben? Wie viele Monate harter Arbeit dadurch ruiniert sind?«
»Aber, Herr Erzlektor, sind sie denn jetzt nicht abgereist …«
»Sie werden wiederkommen, Sie Schwachkopf! Er hat sich doch nicht diese ganze Mühe gemacht, nur um jetzt einfach zu verschwinden! Ja, sie sind abgereist, Sie Vollidiot, und zwar mitsamt der Antworten! Wer sie sind, was sie wollen und wer hinter ihnen steckt! Abgereist? Abgereist? Sie verdammter Esel, Goyle!«
»Ich bin untröstlich, Euer Eminenz.«
»Sie sollten mehr sein als nur untröstlich!«
»Ich kann mich nur entschuldigen.«
»Sie können von Glück sagen, dass Sie sich nicht über kleiner Flamme entschuldigen müssen!« Sult verzog verächtlich das Gesicht. »Jetzt gehen Sie mir aus den Augen!«
Goyle warf einen Blick durchdringendsten Hasses auf Glokta, als er katzbuckelnd aus dem Raum schlich. Auf Wiedersehen, Herr Superior Goyle, auf Wiedersehen. Der Zorn des Erzlektors hätte niemanden treffen können, der ihn mehr verdient hätte als Sie. Glokta konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen, als er ihm nachblickte.
»Gibt es da etwas zu lachen?« Sults Stimme war reines Eis, als er seine weiß behandschuhten Finger mit dem funkelnden purpurnen Edelstein ausstreckte.
Glokta beugte sich vor, um sie zu küssen. »Natürlich nicht, Euer Eminenz.«
»Sehr schön, denn ich kann Ihnen verraten, dass Sie wirklich nichts zu lachen haben! Schlüssel?«, fauchte er. »Geschichten? Schriftrollen? Was hat mich nur dazu getrieben, Ihrem Gebrabbel zuzuhören?«
»Ich weiß, Herr Erzlektor, und ich möchte mich entschuldigen.« Glokta drückte sich bescheiden in den Stuhl, den Goyle gerade frei gemacht hatte.
»Sie entschuldigen sich, ach ja? Jeder entschuldigt sich! Als ob mir das irgendetwas nützt! Weniger Entschuldigungen und mehr Erfolge, das brauche ich! Wenn ich bedenke, welch große Hoffnungen ich auf Sie gesetzt habe! Nun, aber wir müssen wohl mit den Waffen arbeiten, die uns zur Verfügung stehen.«
Was bedeutet? Aber Glokta sagte nichts.
»Wir haben Schwierigkeiten. Sehr ernste Schwierigkeiten. Im Süden.«
»Im Süden, Herr Erzlektor?«
»Dagoska. Die Lage dort ist sehr ernst. Gurkhisische Truppen ziehen sich um die Halbinsel zusammen. Schon jetzt sind sie unserer dortigen Garnison zehn zu eins überlegen, und wir konzentrieren all unsere Kräfte derzeit auf den Norden. Drei Regimenter der Königstreuen sind noch in Adua, aber da in ganz Midderland die Bauern den Aufstand proben, können wir auf sie auch nicht verzichten. Superior Davoust hat mir wöchentliche Lageberichte gesandt. Er war mir in der Stadt Auge und Ohr, verstehen Sie, Glokta? Er hatte den Verdacht, dass eine Verschwörung im Gange sei. Eine Verschwörung, um Dagoska in die Hände der Gurkhisen zu bringen! Vor drei Wochen brachen seine Nachrichten ab, und gestern erfuhr ich, dass Davoust verschwunden ist. Verschwunden! Ein Superior der Inquisition! Als ob er sich in Luft aufgelöst hätte! Ich bin blind, Glokta. Ausgerechnet jetzt, im entscheidenden Augenblick, taste ich im Dunkeln herum! Ich brauche dort jemanden, dem ich vertrauen kann, verstehen Sie?«
Gloktas Herz hämmerte. »Mich?«
»Ah, so langsam begreifen Sie«, sagte Sult in abfälligem Ton. »Sie sind der neue Superior von Dagoska.«
»Ich?«
»Herzlichen Glückwunsch, aber bitte vergeben Sie mir, wenn ich die Feierlichkeiten gern auf einen ruhigeren Zeitpunkt verschieben würde! Sie, Glokta, Sie!« Der Erzlektor beugte sich zu ihm hinunter. »Gehen Sie nach Dagoska und fangen Sie an zu bohren. Finden Sie heraus, was mit Davoust geschehen ist. Befreien Sie den Garten dort von Unkraut! Vernichten Sie alle unloyalen Kräfte. Alle und jeden. Machen Sie ihnen die Hölle heiß! Ich muss wissen, was dort vor sich geht, selbst wenn Sie dafür den Lord Statthalter rösten müssen, bis ihm der Saft aus den Knochen läuft!«
Glokta schluckte. »Den Lord Statthalter rösten?«
»Gibt es hier drin ein Echo oder was?«, schnauzte Sult und beugte sich noch tiefer hinunter. »Spüren Sie die Fäulnis auf und schneiden Sie sie weg! Hacken Sie sie ab! Brennen Sie sie nieder! Alle befallenen Teile, egal, worum es sich handelt! Übernehmen Sie die Verteidigung der Stadt, wenn es nicht anders geht. Sie waren doch einmal Soldat!« Er streckte die Hand aus und schob ein einzelnes Stück Pergament über den Tisch. »Das ist der Erlass des Königs, von allen zwölf Sitzen des Geschlossenen Rats unterzeichnet. Von allen zwölf. Ich habe Blut geschwitzt, um die Unterschriften zu bekommen. Innerhalb der Stadt Dagoska haben Sie uneingeschränkte Verfügungsgewalt.«
Glokta starrte auf das Dokument. Ein einzelnes Stück cremefarbenen Papiers, mit schwarzer Schrift, einem großen roten Siegel am Ende. Wir, die Unterzeichnenden, übertragen dem treuen Diener Seiner Majestät, Sand dan Glokta, unsere vollständige Verfügungs- und Befehlsgewalt … Einige Absätze in schön geschwungener Schrift, und darunter zwei Spalten mit Namen. Fleckiges Gekrakel, fließende Schnörkel, fast unleserliches Gekritzel. Hoff, Sult, Marovia, Varuz, Halleck, Burr, Torlichorm und all die anderen. Namen von Macht und Einfluss. Glokta fühlte sich schwach, als er das Schriftstück in seine zitternden Hände nahm. Es schien schwer.
»Lassen Sie sich das nicht zu Kopf steigen! Sie müssen noch immer sehr vorsichtig vorgehen. Wir können uns keine Peinlichkeiten mehr leisten, aber die Gurkhisen müssen um jeden Preis daran gehindert werden, nach Dagoska vorzudringen, bis diese Sache in Angland geklärt ist. Um jeden Preis, haben Sie verstanden?«
Ich verstehe. Die Entsendung in eine von Feinden umzingelte Stadt voller Verräter, in der ein Superior bereits auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Eher ein Messer im Rücken als eine Beförderung, aber wir müssen mit den Waffen arbeiten, die uns zur Verfügung stehen. »Ich verstehe, Herr Erzlektor.«
»Gut. Dann halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich möchte von Ihren Briefen überschwemmt werden.«
»Natürlich.«
»Sie haben zwei Praktikale, nicht wahr?«
»Ja, Euer Eminenz, Frost und Severard, beides sehr …«
»Das ist nicht annähernd genug! Sie werden dort unten niemandem vertrauen können, nicht einmal der Inquisition.« Sult schien einen Augenblick nachzudenken. »Gerade nicht der Inquisition. Ich habe ein halbes Dutzend weitere ausgewählt, die ihre Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt haben, unter anderem Praktikalin Vitari.«
Diese Frau, die mich über die Schulter hinweg betrachtet hat? »Aber, Herr Erzlektor …«
»Kein Aber, Glokta!«, zischte Sult. »Wagen Sie es nicht, mir mit Aber zu kommen, nicht heute! Sie sind nicht halb so verkrüppelt, wie Sie sein könnten! Nicht einmal halb so sehr, verstanden?«
Glokta senkte den Kopf. »Verzeihung.«
»Sie denken nach, nicht wahr? Ich kann doch sehen, wie es in Ihrem Kopf rattert. Sie denken, Sie möchten nicht, dass Ihnen Leute aus Goyles Umfeld Knüppel zwischen die Beine werfen? Nun, bevor sie für ihn gearbeitet hat, arbeitete sie für mich. Eine Styrerin aus Sipano. Kalt wie der Schnee, die Leute dort, und sie ist die Kälteste von allen, das kann ich Ihnen versichern. Also brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Nicht wegen Goyle jedenfalls.« Nein. Nur wegen Ihnen, was wesentlich schlimmer ist.
»Es wird mir eine Ehre sein, sie dabei zu haben.« Ich werde verdammt vorsichtig sein.
»Ob Ehre oder nicht, Hauptsache, Sie enttäuschen mich nicht! Wenn Sie diese Sache hier verderben, dann werden Sie mehr als dieses Stück Papier brauchen, um Ihren Hals zu retten. Ein Schiff wartet am Kai. Gehen Sie. Jetzt.«
»Selbstverständlich, Euer Eminenz.«
Sult wandte sich ab und trat zum Fenster. Glokta stand geräuschlos auf, schob geräuschlos den Stuhl unter den Tisch und schlurfte geräuschlos aus dem Zimmer. Der Erzlektor stand noch immer da, die Hände hinter dem Rücken, als Glokta ganz vorsichtig die Türen schloss. Erst, als sie mit sanftem Klicken ins Schloss fielen, merkte er, dass er den Atem angehalten hatte.
»Wie ist es denn gelaufen?«
Glokta fuhr herum, sein Hals knackte schmerzhaft. Komisch, dass ich es einfach nicht lerne, diese Bewegung zu vermeiden. Praktikalin Vitari lag noch immer in ihrem Sessel und sah mit müden Augen zu ihm auf. Sie schien sich die ganze Zeit, die er bei Sult gewesen war, nicht bewegt zu haben. Wie ist es gelaufen? Er fuhr sich mit der Zunge durch den Mund, über das leere Zahnfleisch, und dachte darüber nach. Das bleibt abzuwarten. »Interessant«, sagte er schließlich. »Ich gehe nach Dagoska.«
»Das habe ich bereits gehört.« Die Frau hatte tatsächlich einen Akzent, stellte er fest, jetzt, da er darauf achtete. Ein kleiner Hauch der Freien Städte.
»Wie ich erfahren habe, kommen Sie mit mir.«
»Wie ich ebenfalls erfahren habe, ja.« Aber sie bewegte sich noch immer nicht.
»Wir haben es ein wenig eilig.«
»Ich weiß.« Sie streckte ihm eine Hand entgegen. »Würden Sie mir bitte aufhelfen?«
Glokta hob eine Augenbraue. Ich frage mich, wann man mich das letzte Mal darum gebeten hat? Er hatte gute Lust, nein zu sagen, aber schließlich reichte er ihr eine Hand, wenn auch lediglich, um den Reiz des Ungewohnten auszukosten. Ihre Finger schlossen sich um seine und begannen zu ziehen. Ihre Augen hatten sich verengt, und er hörte ihren zischenden Atem, als sie sich langsam aus dem Sessel hochstemmte. Es tat weh, dass sie derart an ihm zog, in seinem Arm, in seinem Rücken. Aber ihr tut es noch viel mehr weh. Hinter ihrer Maske, da war er sich sicher, hatte sie die Zähne vor Schmerz zusammengebissen. Sie bewegte die Gliedmaßen einzeln, ganz vorsichtig, als sei sie nicht sicher, was wehtun würde und wo. Glokta lächelte unwillkürlich. Eine Routine, die ich jeden Morgen durchmachen muss. Eigentümlich belebend, einmal jemand anderem dabei zuzusehen.
Schließlich hatte sie sich erhoben und presste die verbundene Hand gegen ihre Rippen. »Können Sie laufen?«, fragte Glokta.
»Es wird schon gehen.«
»Was ist passiert? Hunde?«
Sie lachte kurz auf. »Nein. Ein großer Nordmann hat mich windelweich gedroschen.«
Glokta schnaubte. Nun, immerhin ist sie sehr direkt. »Gehen wir?«
Sie sah auf seinen Stock. »Sie haben nicht zufällig noch einen übrig, oder?«
»Leider nicht. Ich habe nur den einen, und ohne ihn kann ich nicht gehen.«
»Ich kann gut nachfühlen, wie das für Sie ist.«
Nicht ganz. Glokta wandte sich von den Diensträumen des Erzlektors ab und humpelte davon. Nicht ganz. Er hörte die Frau hinter sich her hinken. Eigentümlich belebend, dass einmal jemand nur mit Mühe mit mir Schritt hält. Er beschleunigte seinen Gang, obwohl es ihm Schmerzen bereitete. Aber ihr noch viel mehr.
Also wieder in den Süden. Er leckte sich das leere Zahnfleisch. Nicht gerade ein Ort schöner Erinnerungen. Wieder gegen die Gurkhisen ziehen, nach all dem, was das letzte Mal mit mir geschah. Verrat in einer Stadt ausmerzen, in der niemandem zu trauen ist, schon gar nicht jenen, die man schickt, um mir zu helfen. Sich mit Hitze und Staub herumquälen und eine undankbare Aufgabe bewältigen, an der ich eigentlich nur scheitern kann. Und wenn ich scheitere, dann bedeutet das höchstwahrscheinlich meinen Tod.
Er fühlte ein Zucken in seiner Wange, sein Augenlid zitterte. Tod durch die Gurkhisen? Oder durch Verräter an König und Krone? Durch Seine Eminenz, durch seine Handlanger? Oder werde ich einfach verschwinden, so wie mein Vorgänger? Hat ein Mann je eine so große Auswahl an Todesmöglichkeiten gehabt? Sein Mundwinkel zuckte nach oben. Ich kann es kaum erwarten, damit anzufangen.
Die alte Frage tauchte wieder auf in seinem Kopf, auf die er noch immer keine Antwort hatte.
Wieso tue ich das?
Wieso?