DER ERSTE DER MAGI

Der See erstreckte sich endlos weit, umkränzt von steilen Felsen und tropfendem Grünzeug. Die Wasserfläche wurde von den Regentropfen zernarbt und lag flach und grau da, soweit das Auge reichte. Logens Augen reichten bei diesem Wetter allerdings nicht sehr weit. Das gegenüberliegende Ufer war vielleicht hundert Schritte entfernt, aber die ruhigen Wasser sahen tief aus. Sehr tief.

Logen hatte es schon lange aufgegeben, trocken bleiben zu wollen, und das Wasser lief durch sein Haar, sein Gesicht herunter, tropfte von seiner Nase, den Fingern, dem Kinn. Es war Teil seines Lebens geworden, nass, müde und hungrig zu sein. Er schloss die Augen und fühlte den Regen gegen seine Haut schlagen, hörte, wie die kleinen Wellen an den Kieseln schmatzten. Am Ufer kniete er sich hin, zog den Stopfen aus seiner Feldflasche und drückte sie unter Wasser; dann sah er den aufsteigenden Luftblasen zu, als sie sich allmählich füllte.

Malacus Quai stolperte aus dem Gebüsch und atmete schnell und flach. Er sank auf die Knie, lehnte sich gegen ein paar hoch aufragende Baumwurzeln, hustete und spuckte den Auswurf auf die Steine. Sein Husten hörte sich inzwischen ziemlich schlimm an. Er kam tief aus seinen Eingeweiden und ließ den ganzen Brustkorb erbeben. Inzwischen war er sogar noch blasser als an jenem Tag, als sie sich zuerst begegnet waren, und wesentlich dünner. Logen war inzwischen allerdings auch um einiges schmaler geworden. Es waren harte Zeiten, keine Frage. Nun ging er zu dem ausgemergelten Zauberlehrling hinüber und ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder.

»Wartet noch einen Augenblick.« Quai schloss die tief liegenden Augen und legte den Kopf in den Nacken. »Nur einen Augenblick.« Sein Mund stand offen, und die Sehnen an seinem dürren Hals traten weit hervor. Er sah jetzt schon wie ein Toter aus.

»Ruht Euch nicht zu lange aus, sonst steht Ihr vielleicht gar nicht mehr auf.«

Logen hielt ihm die Flasche hin. Quai streckte nicht einmal den Arm aus, um sie zu nehmen, daher schob Logen sie ihm an den Mund und kippte sie ein wenig. Der Lehrling trank einen gequälten Schluck, hustete und ließ dann den Kopf wie einen Stein gegen den Baum sinken.

»Wisst Ihr, wo wir sind?«, fragte Logen.

Quai sah zum Wasser hinüber, als fiele ihm der große See erst jetzt auf. »Das muss die nördliche Spitze des Sees sein … hier sollte es irgendwo einen Pfad geben.« Seine Stimme verebbte zu einem Flüstern. »An der südlichen Spitze gibt es eine Straße mit zwei Steinen.« Plötzlich brach er wieder in heftiges Husten aus und schluckte unter Schwierigkeiten. »Wenn Ihr der Straße über die Brücke folgt, seid Ihr da«, krächzte er.

Logen sah das Ufer entlang zu den tropfenden Bäumen. »Wie weit ist es noch?« Keine Antwort. Vorsichtig fasste er den Kranken an seiner knochigen Schulter und schüttelte ihn. Quais Augenlider hoben sich zuckend, und er starrte zu Logen auf, während er sich bemühte, wieder klar zu sehen. »Wie weit?«

»Vierzig Meilen.«

Logen saugte an seinen Zähnen. Quai würde keine vierzig Meilen laufen können. Er konnte schon fast von Glück sagen, wenn er vierzig Schritte ohne Hilfe schaffte. Offenbar wusste er das selbst, es war in seinen Augen zu lesen. Bald würde er tot sein, vermutete Logen, es würde höchstens noch ein paar Tage dauern. Schon stärkere Männer waren einem solchen Fieber erlegen.

Vierzig Meilen. Logen dachte sorgfältig darüber nach und rieb sich mit dem Daumen über das Kinn. Vierzig Meilen.

»Scheiße«, flüsterte er.

Als Nächstes zog er ihr Gepäck zu sich heran und öffnete es. Sie hatten noch ein wenig zu essen, aber nicht mehr viel. Ein paar Stückchen Trockenfleisch, eine Kante verschimmelten Brots. Er sah auf den See hinaus, der friedlich vor ihnen lag. Zumindest würden sie in nächster Zeit keinen Mangel an Trinkwasser haben. Er zog seinen schweren Kochtopf aus seinem Rucksack und stellte ihn auf den Kieselstrand. Sie waren lange zusammen gewesen, er und der Topf, aber es gab jetzt nichts mehr zu kochen. Man darf sein Herz nicht zu sehr an solche Dinge hängen, nicht hier draußen in der Wildnis. Das Seil schleuderte er ins Gebüsch, und dann setzte er sich den wesentlich leichteren Rucksack wieder auf.

Quais Augen hatten sich erneut geschlossen, und er atmete kaum noch. Logen wusste noch gut, wie es gewesen war, als er zum ersten Mal jemanden hatte zurücklassen müssen; er erinnerte sich, als sei es erst gestern gewesen. Komisch, der Name des Jungen war ihm entfallen, aber das Gesicht hatte sich ihm eingebrannt.

Ein Schanka hatte ihm ein Stück aus dem Oberschenkel gerissen. Ein großes Stück. Er hatte den ganzen Weg über gestöhnt und nicht mehr laufen können. Die Wunde hatte sich übel entwickelt; es war klar gewesen, dass er so oder so sterben würde. Sie hatten ihn zurücklassen müssen. Niemand hatte Logen deswegen einen Vorwurf gemacht. Der Kleine war noch zu jung gewesen, er hätte gar nicht erst mitkommen dürfen. Er hatte Pech gehabt, das konnte jedem passieren. Aber dann hatte er geweint und geschrien, als sie grimmig und schweigend, mit gesenkten Köpfen, den Hügel hinaufgeschritten waren. Logen war sich sicher gewesen, dass er die Schreie noch gehört hatte, als sie schon viel zu weit weg gewesen waren. Er hörte sie immer noch.

In den Kriegen war es etwas anderes. Auf den langen Märschen in der kalten Jahreszeit blieben ständig Männer liegen. Erst wurden sie immer langsamer und fielen zurück, dann sanken sie um. Die Frierenden, die Kranken, die Verwundeten. Logen fröstelte und ließ die Schultern hängen. Zuerst hatte er versucht, ihnen zu helfen. Dann war er froh gewesen, dass es ihm nicht ebenso erging. Und später war er einfach über die Toten hinweggestiegen und hatte sie kaum noch wahrgenommen. Man bekommt einen Blick dafür, wenn jemand nicht mehr aufstehen wird.

Er sah Malacus Quai ins Gesicht. Ein weiterer Toter in der Wildnis war keine große Sache. Da musste man schließlich realistisch sein.

Der Zauberlehrling erwachte aus seinem unruhigen Schlummer und versuchte auf die Füße zu kommen. Seine Hände zitterten stark. Dann sah er mit hell glänzenden Augen zu Logen auf. »Ich kann nicht aufstehen«, krächzte er.

»Ich weiß. Es hat mich überrascht, dass Ihr es überhaupt so weit geschafft habt.« Das war jetzt im Grunde egal. Logen kannte den Weg. Wenn er den Pfad ausfindig machen konnte, schaffte er vielleicht zwanzig Meilen am Tag.

»Wenn Ihr mir etwas von dem Essen hier lassen könntet … vielleicht … wenn Ihr die Bibliothek erreicht … dann könnte jemand …«

»Nein«, sagte Logen und reckte das Kinn vor. »Ich brauche das Essen.«

Quai gab ein seltsames Geräusch von sich, halb Husten, halb Schluchzen.

Logen beugte sich hinunter, drückte seine rechte Schulter gegen Quais Bauch und schob ihm den Arm unter den Rücken. »Ich kann Euch ohne Essen keine vierzig Meilen tragen«, sagte er und richtete sich auf, den Lehrling über der Schulter. Dann ging er den Strand entlang; Quai hielt er an seiner Jacke fest, während seine Stiefel auf den Kieseln knirschten. Der Zauberlehrling bewegte sich nicht, er hing da wie ein Sack nasser Lumpen, und seine kraftlosen Arme baumelten gegen Logens Beine.

Als er etwa dreißig Schritte zurückgelegt hatte, drehte Logen sich um und blickte zurück. Der Topf saß einsam am Seeufer und füllte sich allmählich mit Regenwasser. Sie hatten viel miteinander durchgemacht, er und dieser Topf.

»Leb wohl, alter Freund.«

Der Topf antwortete nicht.

 

Logen setzte seine zitternde Bürde sanft am Straßenrand ab und streckte den schmerzenden Rücken, kratzte sich an dem dreckigen Verband um seinen Arm und nahm einen Schluck Wasser aus der Feldflasche. Wasser war das Einzige, was ihm den ganzen Tag über die Kehle hinuntergewandert war, und der Hunger wütete in seinen Gedärmen. Aber immerhin hatte es aufgehört zu regnen. Man musste sich an den kleinen Freuden des Lebens laben, wie zum Beispiel an trockenen Stiefeln. Man muss die kleinen Dinge schätzen lernen, wenn man sonst nichts hat.

Logen spuckte auf den Weg vor sich und rieb die tauben Finger, bis sie prickelten. Diese Markierung konnte man nicht verfehlen, so viel war mal klar. Die zwei hohen Steine überschatteten die Straße, uralt und zernarbt, unten mit grünem Moos bewachsen, weiter oben mit grauer Flechte.

Sie waren mit ausgewaschenen Steinritzungen bedeckt, mit Linien oder Buchstaben in einer Schrift, die Logen nicht entziffern konnte, die er nicht einmal wiedererkannte. Auf alle Fälle strahlten sie etwas Verbotenes aus, mehr Warnung als Willkommen.

»Das Erste Gebot …«

»Was?«, fragte Logen überrascht. Seit sie den Topf vor zwei Tagen zurückgelassen hatten, dämmerte Quai in einem unangenehmen Zustand zwischen Schlafen und Wachen dahin. Der Topf hätte wahrscheinlich bedeutungsvollere Geräusche von sich geben können. Als sie am Morgen aufgewacht waren, hatte Logen festgestellt, dass Quai kaum noch atmete. Eigentlich hatte er zunächst sogar gedacht, er sei tot, aber der Mann hing immer noch schwach an seinem Leben. Quai gab wirklich nicht so leicht auf, das musste man ihm lassen.

Logen ging auf die Knie und schob das nasse Haar aus Quais Gesicht. Der Lehrling packte ihn plötzlich am Handgelenk und zuckte nach vorn.

»Es ist verboten«, flüsterte er und starrte Logen mit weit aufgerissenen Augen an, »die andere Seite zu berühren!«

»Hä?«

»Mit Teufeln zu sprechen«, krächzte Quai weiter und griff nun nach Logens abgewetztem Mantel. »Die Wesen der Unterwelt sind aus Lügen gemacht. Man darf es nicht tun!«

»Will ich auch gar nicht«, murmelte Logen und fragte sich, ob er je herausfinden würde, wovon der Zauberlehrling sprach. »Keine Sorge. Ich versprech’s, wenn es Euch dann besser geht.«

Es ging ihm nicht besser. Quai war schon wieder in seinen unruhigen Halbschlaf gefallen. Logen kaute an seiner Unterlippe. Er hatte darauf gehofft, dass der Lehrling noch einmal zu sich kommen würde, aber es erschien ihm nicht besonders wahrscheinlich. Nun, vielleicht konnte dieser Bayaz etwas tun, der war immerhin der Erste der Magi, kundig der tiefsten Weisheit und so weiter. Also hob Logen sich Quai wieder auf die Schulter und stapfte zwischen den beiden uralten Steinen hindurch.

Die Straße stieg steil an und führte in die Felsen oberhalb des Sees; an einigen Stellen verlief sie über einen aufgeschütteten Damm, an anderen war sie in den steinigen Untergrund hineingeschlagen worden. Der Zahn der Zeit hatte an ihr genagt, und sie war ausgetreten, voller Löcher und mit Unkraut überwuchert. Eine Biegung folgte der nächsten, und es dauerte nicht lange, bis Logen keuchte und schwitzte und seine Beine vor Anstrengung brannten. Sein Schritt wurde allmählich langsamer.

Tatsache war, er wurde müde. Es war eine Müdigkeit, die nicht nur von dem Aufstieg herrührte oder von dem anstrengenden langen Weg, den er heute schon mit dem halbtoten Zauberlehrling auf dem Rücken zurückgelegt hatte, auch nicht von dem anstrengenden Marsch am Vortag oder sogar noch vom Kampf im Wald. Es war eine ganz allgemeine Müdigkeit. Er hatte alles satt, die Schanka, die Kriege, sein Leben.

»Ich kann nicht ewig weiterlaufen, Malacus, ich kann auch nicht ewig weiterkämpfen. Wie viel Scheiße muss ein Mann denn ertragen? Ich müsste mich einen Augenblick hinsetzen. In einem richtigen verdammten Stuhl! Ist das denn zuviel verlangt? Ist es das?« In dieser Stimmung, fluchend und bei jedem Schritt grummelnd und brummend, während ihm Quais Kopf gegen den Hintern schlug, erreichte Logen die Brücke.

Sie war so uralt wie die Straße und mit Kletterpflanzen überwachsen, und sie erstreckte sich schlicht und schlank etwa zwanzig Schritte über eine Schwindel erregende Schlucht. In großer Tiefe gurgelte ein Fluss über gezackte Felsen und füllte die Luft mit wildem Rauschen und schimmernder Gischt. Auf der anderen Seite hatte man zwischen hoch aufragenden, moosbewachsenen Felswänden eine hohe Mauer errichtet, die mit so viel Sorgfalt gebaut worden war, dass man fast nicht mehr sagen konnte, wo der natürliche Fels aufhörte und das Mauerwerk begann. Darin war ein einziges altes Tor eingelassen, mit zerbeultem Kupfer beschlagen, das im Lauf der Jahre und durch die Feuchtigkeit grün geworden war.

Während Logen sorgfältig seine Schritte über die glitschigen Steine lenkte, überlegte er aus einer Art Gewohnheit, wie diese Festung erstürmt werden konnte. Das war unmöglich. Nicht mit tausend sorgfältig ausgewählten Männern. Vor dem Tor war nur ein schmaler steinerner Sims, zu wenig Platz, um Leitern anzusetzen oder einen Rammbock in Schwung zu bringen. Die Mauer war mindestens zehn Schritte hoch, und das Tor sah fürchterlich solide aus. Und wenn es den Verteidigern gelang, die Brücke zum Einsturz zu bringen … Logen lugte über die Brüstung und schluckte. Es ging ziemlich weit hinunter.

Er nahm einen tiefen Atemzug und donnerte mit der Faust gegen das feuchte, grüne Kupfer. Vier laute, widerhallende Schläge. So hatte er an die Tore von Carleon gehämmert, nach der Schlacht, und seine Bewohner hatten sich eilends ergeben. Jetzt aber hatte es niemand eilig.

Er wartete. Dann klopfte er erneut. Und wartete. Allmählich wurde er vom hochwirbelnden Wassernebel vom Fluss immer nasser. Schlecht gelaunt knirschte er mit den Zähnen und hob erneut den Arm. Doch nun öffnete sich eine kleine Luke, und zwischen dicken Gitterstangen starrten ihn zwei rot geränderte Augen an.

»Wer ist es jetzt denn?«, fragte eine grobe Stimme barsch.

»Neunfinger-Logen heiße ich. Ich …«

»Nie von Euch gehört.«

Das war nicht gerade das Willkommen, das Logen sich erhofft hatte. »Ich komme, um mich mit Bayaz zu treffen.« Keine Reaktion. »Der Erste der …«

»Ja. Er ist hier.« Aber die Tür öffnete sich nicht. »Er lässt keine Besucher vor. Das habe ich dem letzten Gesandten schon erklärt.«

»Ich bin kein Gesandter, ich habe Malacus Quai bei mir.«

»Malaca was?«

»Quai, den Zauberlehrling.«

»Zauberlehrling?«

»Er ist sehr krank«, sagte Logen mit langsamer Betonung. »Er könnte sterben.«

»Krank, sagt Ihr? Sterben, ja?«

»Ja.«

»Und wie war noch einmal Euer Name …«

»Macht einfach die verdammte Tür auf!« Logen drohte der Luke wirkungslos mit der Faust. »Bitte.«

»Wir lassen hier nicht jeden hinein … Augenblick. Zeigt mir Eure Hände.«

»Was?«

»Eure Hände.« Logen hielt sie hoch. Die wässrigen Augen wanderten langsam von einem Finger zum anderen. »Neun Finger. Da fehlt einer, seht Ihr?« Er drückte den Stumpf gegen die Klappe.

»Neun, ja? Das hättet Ihr doch gleich sagen können.«

Mit einigem Getöse wurden Riegel zurückgeschoben, und das Tor öffnete sich. Ein ältlicher Mann, den das Gewicht seiner altmodischen Rüstung niederbeugte, starrte ihm misstrauisch entgegen. Er hielt ein Langschwert in Händen, das für ihn viel zu schwer war; die Spitze zitterte hin und her, während er sich alle Mühe gab, die Waffe ruhig zu halten.

Logen hob die Hände. »Keine Sorge, ich ergebe mich.«

Der ältliche Torwächter fand das nicht lustig. Er brummte verärgert, als Logen an ihm vorbeiging, dann drückte er mühsam das Tor wieder zu und machte sich ungeschickt an den Riegeln zu schaffen, bevor er sich dann, ohne ein Wort zu sagen, abwandte und davontrottete. Logen folgte ihm ein enges Tal hinauf, das mit seltsamen Häusern gesäumt war, die verwittert und moosbehangen halb in die Felsen hineingebaut worden waren und mit dem Berghang beinahe verschmolzen.

Eine Frau mit missmutigem Gesicht saß an ihrem Spinnrad vor einer Tür, und sie warf Logen einen unfreundlichen Blick zu, als er mit dem bewusstlosen Zauberlehrling über der Schulter an ihr vorbei stapfte. Logen lächelte zurück. Sie war zwar keine Schönheit, keine Frage, aber das letzte Mal lag ja doch schon eine ganze Zeit zurück. Die Frau verschwand in ihrem Haus und warf die Tür schwungvoll ins Schloss, während sich ihr Spinnrad draußen weiterdrehte. Logen seufzte. Offenbar hatte er nichts von seinem Charme verloren.

Das nächste Haus war eine Bäckerei mit einem viereckigen, rauchenden Schornstein. Der Geruch von frisch gebackenem Brot ließ Logens leeren Magen knurren. Weiter vorn spielten und lachten einige dunkelhaarige Kinder, die um einen verkümmerten alten Baum herumtanzten. Sie erinnerten Logen an seine eigenen. Zwar sahen sie überhaupt nicht so aus, aber er war in einer äußerst trübsinnigen Stimmung.

Zugegeben, er war ein wenig enttäuscht. Er hatte einen Ort erwartet, der irgendwie mehr Geist versprühte und wesentlich mehr lange Bärte zu bieten hatte. Diese Leute hier wirkten nicht besonders weise, sie sahen wie ganz normale Bauern aus. Hier war es ganz ähnlich wie in seinem eigenen Dorf, bevor die Schanka kamen. Er fragte sich, ob er überhaupt am richtigen Ort angekommen war. Dann beschrieb der Weg eine Kurve.

Drei große, sich zur Spitze hin verjüngende Türme waren in den Berg hineingebaut worden, sodass sie ein gemeinsames Fundament teilten, sich aber weiter oben trennten. Sie waren mit dunklem Efeu bewachsen und wirkten noch weit älter als selbst die uralte Brücke und das Tor, so alt wie der Berg selbst. Ein Durcheinander kleinerer Gebäude kauerte sich zu ihren Füßen und umsäumte einen großen Hof, auf dem Leute allen möglichen alltäglichen Beschäftigungen nachgingen. Auf einer kleinen Veranda war eine Frau mit Buttern beschäftigt. Ein Hufschmied versuchte, ein widerspenstiges Pferd zu beschlagen. Ein alter, kahler Metzger in einer fleckigen Schürze hatte gerade ein Tier in Stücke geschnitten und wusch sich die blutigen Unterarme in einem Trog.

Und auf den breiten Stufen, die zu dem höchsten der drei Türme hinaufführten, saß ein großartig anzusehender alter Mann. Er war ganz in Weiß gekleidet, mit langem Bart, einer Hakennase und weißem Haar, das unter einem weißen Käppchen hervorquoll. Jetzt war Logen endlich beeindruckt. Der Erste der Magi sah tatsächlich so aus, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Als Logen auf ihn zukam, sprang er von den Stufen auf und lief ihm entgegen, während sein weißer Mantel hinter ihm her flatterte.

»Setzt ihn hier ab«, sagte er leise und deutete auf die kleine Grasfläche am Brunnen. Logen bückte sich und ließ Quai zu Boden gleiten, so sanft, wie das bei seinem schmerzenden Rücken möglich war. Der alte Mann beugte sich über den Lehrling und legte ihm eine knotige Hand auf die Stirn.

»Ich bringe Euch Euren Zauberlehrling zurück«, brummte Logen überflüssigerweise.

»Meinen?«

»Seid Ihr nicht Bayaz?«

Der alte Mann lachte. »O nein, ich bin Wells, der oberste Diener hier in der Bibliothek.«

»Ich bin Bayaz«, ertönte nun eine Stimme hinter Logen. Der Metzger kam langsam auf sie zu und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Er mochte um die sechzig sein und war von schwerer Statur, mit einem ausdrucksvollen, zerfurchten Gesicht und einem kurz geschnittenen grauen Bart rund um den Mund. Er war völlig kahl, und die Nachmittagsonne spiegelte sich auf seiner gebräunten Glatze. Zwar war er weder gut aussehend noch wirkte er majestätisch, aber als er näher kam, schien ihn doch ein gewisses Etwas zu umgeben. Eine Art Selbstsicherheit und Autorität. Ein Mann, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen – und der es gewohnt war, dass man ihm gehorchte.

Der Erste der Magi nahm Logens Linke in seine beiden Hände und drückte sie warmherzig. Dann drehte er sie um und betrachtete den Stumpf des fehlenden Fingers.

»Neunfinger-Logen. Der, den sie den Blutigen Neuner nennen. Selbst hier, zurückgezogen in meiner Bibliothek, habe ich Geschichten von Euch gehört.«

Logen verzog das Gesicht. Er konnte sich schon denken, was das für Geschichten gewesen waren. »Das ist lange her.«

»Natürlich. Wir haben alle unsere Vergangenheit, nicht wahr? Ich beurteile niemanden nach dem Hörensagen.« Und Bayaz lächelte. Ein breites, weißes, strahlendes Lächeln. Sein Gesicht wurde von freundlichen Runzeln durchzogen, aber um seine tief liegenden, grünen Augen blieb eine gewisse Härte zurück. Eine steinerne Härte. Logen grinste zurück, aber er war bereits zu der Überzeugung gekommen, dass er sich diesen Mann nur sehr ungern zum Feind machen wollte.

»Und Ihr habt das verlorene Lamm wieder zu seiner Herde zurückgebracht.« Bayaz warf einen düsteren Blick auf Malacus Quai, der bewegungslos im Gras lag. »Wie geht es ihm?«

»Ich denke, Herr, er wird es überleben«, sagte Wells, »aber wir sollten ihn nicht in der Kälte liegen lassen.«

Der Erste der Magi schnippte mit den Fingern, und ein scharfes Knacken erscholl aus einem der Gebäude. »Helft ihm.« Der Schmied eilte voran und nahm Quais Füße, und gemeinsam trugen er und Wells den Zauberlehrling durch die hohe Tür hinein in die Bibliothek.

»Nun, Meister Neunfinger, ich rief, und Ihr seid gekommen, und das zeugt von guten Manieren. Vielleicht sind Manieren im Norden ein wenig aus der Mode gekommen, aber ich möchte Euch versichern, dass ich sie zu schätzen weiß. Höflichkeit sollte stets mit Höflichkeit vergolten werden, meine ich. Aber was ist denn nun los?« Der alte Torwächter kam zurück über den Hof geeilt und war sehr außer Atem. »Zwei Besucher an einem Tag? Was kommt dann wohl als Nächstes?«

»Meister Bayaz!«, keuchte der Torwächter. »Da sind Reiter am Tor, mit guten Pferden und schwer bewaffnet! Sie sagen, sie hätten eine dringende Botschaft vom König der Nordmänner!«

Bethod. Von ihm musste die Rede sein. Die Geister hatten gesagt, dass er sich selbst einen goldenen Hut aufgesetzt hatte, und wer sonst hätte es gewagt, sich König der Nordmänner zu nennen? Logen schluckte. Bei dem letzten Zusammentreffen war er knapp mit dem Leben davongekommen, aber auch mit weiter nichts; das war allerdings schon mehr, als viele andere von sich sagen konnten – viel mehr.

»Nun, Meister?«, fragte der Torwächter. »Soll ich sie wieder wegschicken?«

»Wer führt sie an?«

»Ein auffällig gekleideter junger Mann mit einem verbissenen Gesicht. Er sagt, er sei der Sohn des Königs oder so was.«

»Ist es Calder oder Scale? Sie sehen beide ein bisschen verbissen aus.«

»Der Jüngere, schätze ich.«

Calder also, das war zumindest etwas. Sie waren beide schlimme Burschen, aber Scale war noch übler. Wenn sie zusammen waren, sorgten sie oft genug für Erfahrungen jener Art, die ein vernünftiger Mann am liebsten vermied. Bayaz schien einen Augenblick zu überlegen. »Prinz Calder darf eintreten, aber seine Männer müssen jenseits der Brücke bleiben.«

»Ja, Herr, jenseits der Brücke.« Der Torwächter entfernte sich schwer atmend. Das würde Calder gefallen. Logen genoss die Vorstellung, wie der sogenannte Prinz machtlos durch die kleine Klappe brüllte. Er genoss sie sogar sehr.

»Der König der Nordmänner nennt er sich jetzt, ist es denn die Möglichkeit?« Bayaz blickte abwesend das Tal hinunter. »Ich kannte Bethod, als er noch nicht so groß war wie heute. Ihr auch, nicht wahr, Meister Neunfinger?«

Logen verzog das Gesicht. Er hatte Bethod schon gekannt, als der so gut wie gar nichts war, ein kleiner Häuptling unter vielen. Logen hatte um Hilfe gegen die Schanka gebeten, und Bethod hatte sie ihm gewährt, natürlich für einen Preis. Damals erschien dieser Preis gering und die Sache wert. Man musste nur kämpfen. Ein paar Leute töten. Logen war das Töten immer leicht gefallen, und Bethod schien damals ein Mann zu sein, für den es sich zu kämpfen lohnte – kühn, stolz, unbarmherzig, gefährlich ehrgeizig. Alles Eigenschaften, die Logen bewundert hatte, damals; alles Eigenschaften, von denen er gedacht hatte, er hätte sie selbst. Aber die Zeit hatte sie beide verändert, und der Preis war gestiegen.

»Er war früher einmal ein besserer Mensch«, überlegte Bayaz, »aber Kronen verändern einige Menschen zu ihrem Nachteil. Kennt Ihr seine Söhne?«

»Besser, als mir lieb ist.«

Bayaz nickte. »Sie taugen rein gar nichts, nicht wahr? Und ich fürchte, sie werden sich nie zum Besseren entwickeln. Man stelle sich nur vor, der Wirrkopf Scale würde König. Uhh!« Der Zauberer erschauerte. »Da möchte man doch beinahe seinem Vater ein langes Leben wünschen. Beinahe; so richtig dann doch nicht.«

Das kleine Mädchen, das Logen hatte spielen sehen, lief nun zu ihnen. Sie trug eine Girlande aus gelben Blumen in den Händen und hielt sie dem alten Zauberer entgegen. »Die hab ich gemacht«, sagte sie. Logen hörte derweil den schnellen Hufschlag eines Pferdes die Straße hinaufkommen.

»Für mich? Wie bezaubernd.« Bayaz nahm ihr die Blumen ab. »Ausgezeichnete Arbeit, mein liebes Kind. Der Meisterschöpfer selbst hätte es nicht besser machen können.«

Der Reiter stürmte in den Hof, zügelte sein Pferd mit aller Härte und schwang sich aus dem Sattel. Calder. Die Jahre waren freundlicher zu ihm gewesen als zu Logen. Er war in feines schwarzes Tuch gekleidet, das mit dunklem Pelz verbrämt war. Ein großer roter Edelstein leuchtete an seinem Finger, und das Heft seines Schwertes war mit Gold beschlagen. Er war gewachsen und in die Breite gegangen; zwar nur halb so massig wie sein Bruder Scale, aber doch ein gewaltiger Mann. Sein bleiches, stolzes Gesicht war jedoch noch ganz so, wie Logen sich erinnerte; die dünnen Lippen hatte er zu einem verächtlichen Lächeln verzogen.

Er warf der Frau mit dem Butterfass die Zügel zu und schritt dann energisch über den Hof, während er sich mit gebieterischem Blick umsah und sein langes Haar in der leichten Brise flatterte. Als er noch zehn Schritte entfernt war, erkannte er Logen. Calder klappte die Kinnlade herunter. Er trat erschrocken einen halben Schritt zurück, und seine Hand zuckte zum Heft seines Schwertes. Dann lächelte er kalt.

»Ihr habt Euch jetzt wohl Hunde angeschafft, Bayaz? Auf diesen hier würde ich gut Acht geben. Von ihm ist bekannt, dass er die Hand beißt, die ihn füttert.« Seine Lippe kräuselte sich noch mehr. »Ich könnte ihn für Euch erledigen, wenn Ihr wünscht.«

Logen zuckte die Achseln. Starke Worte waren etwas für Narren und Feiglinge. Calder war vielleicht beides, Logen aber weder das eine noch das andere. Wenn man jemanden umbringen wollte, dann beeilte man sich besser damit, anstatt lange herumzureden. Gerede gab dem Gegner nur Gelegenheit, sich vorzubereiten, und das war schließlich das Letzte, was man wollte. Daher sagte Logen nichts. Calder mochte ihm das als Schwäche auslegen, wenn er wollte, das war ihm auch recht. Möglich, dass er erschreckend oft in Kämpfe verwickelt wurde, aber Logen selbst war lange, lange schon darüber hinaus, sie von sich aus anzustreben.

Bethods Zweitgeborener wandte sich nun abfällig an den Ersten der Magi. »Mein Vater wird sehr unzufrieden sein, Bayaz! Dass meine Männer draußen vor dem Tor warten müssen, zeugt von wenig Respekt!«

»Aber ich habe doch auch nur so wenig, Prinz Calder«, erwiderte der Zauberer ruhig. »Bitte seid nicht enttäuscht. Euer letzter Botschafter wurde nicht einmal über die Brücke gelassen, also machen wir doch schon Fortschritte.«

Calder zog ein bärbeißiges Gesicht. »Wieso habt Ihr meinem Vater nicht gehorcht, als er Euch zu sich befahl?«

»Es werden so viele Anforderungen an meine Zeit gestellt«, sagte Bayaz und hielt die Blumengirlande hoch. »So etwas macht sich nicht von selbst, wisst Ihr.«

Der Prinz fand das nicht besonders lustig. »Mein Vater«, tönte er, »Bethod, König der Nordmänner, befiehlt Euch, zu ihm nach Carleon zu reiten!« Er räusperte sich. »Er wird nicht …« Er hustete.

»Was?«, fragte Bayaz gebieterisch. »Sprecht lauter, Junge!«

»Er befiehlt …« Wieder hustete der Prinz, keuchte, würgte. Er fuhr sich mit der Hand an die Kehle. Die Luft schien plötzlich still geworden zu sein.

»Er befiehlt, wie?«, wiederholte Bayaz mit düsterer Miene. »Bringt den großen Juvens aus dem Land der Toten zurück. Er darf mir Befehle erteilen. Er allein und sonst niemand.« Seine Miene verdüsterte sich noch mehr, und Logen musste dem dringenden Wunsch widerstehen, zurückzuweichen. »Ihr dürft es nicht. Und auch nicht Euer Vater, ganz gleich, wie er sich nennt.«

Calder sank langsam auf die Knie, mit verzerrtem Gesicht und tränenden Augen. Bayaz sah ihn von oben bis unten an. »Welch ein trauriger Aufzug, ist jemand gestorben? Hier.« Er warf die Blumenkette über den Kopf des Prinzen. »Ein wenig Farbe wird Eure Stimmung möglicherweise etwas heben. Sagt Eurem Vater, er möge selbst kommen. Ich verschwende meine Zeit nicht an Narren und jüngere Söhne. Ich bin in dieser Hinsicht wirklich altmodisch. Ich spreche gern mit dem Kopf des Pferdes, nicht mit seinem Hinterteil. Habt Ihr mich verstanden, Junge?« Calder sackte seitlich zusammen, und die Augen quollen rot aus seinem Kopf. Der Erste der Magi machte eine huldvolle Handbewegung. »Ihr mögt gehen.«

Der Prinz holte krampfartig Luft, hustete und rappelte sich auf, dann stolperte er zu seinem Pferd hinüber und zog sich in den Sattel – wesentlich weniger elegant als beim Absteigen. Er warf einen mordlustigen Blick über seine Schulter, als er auf das Tor zuritt, aber mit einem Gesicht, das so rot war wie ein gerade frisch versohlter Hintern, wirkte das nicht ganz so bedrohlich. Logen stellte fest, dass er breit grinste. Es war lange her, dass er so viel Spaß gehabt hatte.

»Ich habe erfahren, dass Ihr mit den Geistern reden könnt.«

Diese Feststellung überrumpelte Logen ziemlich. »Hä?«

»Dass Ihr mit den Geistern sprecht.« Bayaz schüttelte verwundert den Kopf. »Das ist heutzutage eine seltene Gabe. Wie geht es ihnen?«

»Wem, den Geistern?«

»Ja.«

»Sie schwinden.«

»Bald werden sie schlafen, wie? Die Magie leckt heraus aus unserer Welt. Das ist der Gang der Dinge. Über die Jahre ist meine Weisheit gewachsen, und dennoch ist meine Macht geschwunden.«

»Calder schien recht beeindruckt.«

»Pah.« Bayaz winkte ab. »Das war gar nichts. Ein kleiner Trick aus Fleisch und Luft, kinderleicht. Nein, glaubt mir, die Magie versickert allmählich. Das ist eine Tatsache. Ein Naturgesetz. Dennoch, es gibt viele Möglichkeiten, eine Nuss zu knacken, oder? Wenn ein Werkzeug dabei versagt, probiert man eben ein anderes.« Logen war sich nicht mehr völlig sicher, worüber sie eigentlich redeten, aber er war zu müde, um zu fragen.

»Ja, tatsächlich«, murmelte der Erste der Magi. »Es gibt viele Möglichkeiten, eine Nuss zu knacken. Wobei mir einfällt – Ihr habt sicher Hunger.«

In Logens Mund floss bei der bloßen Erwähnung von Essen der Speichel zusammen. »Ja«, murmelte er. »Ja … ich könnte etwas essen.«

»Natürlich.« Bayaz klopfte ihm herzlich auf die Schulter. »Und dann vielleicht ein Bad? Ich möchte Euch jetzt nicht zu nahe treten, aber ich stelle immer wieder fest, dass es nichts Beruhigenderes gibt als heißes Wasser nach einem langen Spaziergang, und wenn ich recht vermute, dann habt Ihr mehr als einen langen Spaziergang hinter Euch. Kommt mit mir, Meister Neunfinger, hier seid Ihr sicher.«

Essen. Bad. Sicherheit. Logen musste sich zusammenreißen, damit er nicht zu weinen anfing, als er dem alten Mann in die Bibliothek folgte.