DAS GESICHT DER FREIHEIT

Die Spitze der Schaufel biss mit dem scharfen Kratzen von Metall auf Erde in den Boden. Ein allzu bekanntes Geräusch. Sie kam nicht allzu weit, denn trotz all der Kraft, mit der sie geführt wurde, war der Boden knochenhart und von der Sonne ausgetrocknet.

Aber sie würde sich von ein bisschen hartem Boden nicht abschrecken lassen.

Sie hatte zu viele Löcher gegraben, oft in Boden, der sich noch weniger dazu eignete als dieser hier.

Wenn der Kampf vorbei ist, dann gräbt man, wenn man noch lebt. Man hebt Gräber aus für die toten Kameraden. Als letzte Achtungsbezeugung, egal, wie wenig man davon vielleicht für sie gehabt haben mag. Man gräbt so tief man es für nötig hält, man schmeißt sie hinein, man deckt sie zu, sie verfaulen und sind vergessen. So war es schon immer.

Mit einer Schulterbewegung ließ sie eine Schaufel Erde davonsegeln. Ihre Augen folgten den Dreckkörnchen und den kleinen Steinen, wie sie in der Luft auseinander brachen und dann auf das Gesicht eines der Soldaten fielen. Ein Auge starrte sie vorwurfsvoll an. Ein paar Fliegen summten faul um sein Gesicht herum. Für ihn würde es kein Begräbnis geben, die Gräber waren für ihre Leute. Er und seine Arschlochfreunde konnten unter der gnadenlosen Sonne liegen bleiben.

Schließlich brauchten die Geier auch was zu fressen.

Das Blatt der Schaufel zischte durch die Luft und biss wieder in die Erde. Ein neuer Klumpen Dreck wurde weggeschleudert. Sie richtete sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie in den Himmel hinauf. Die Sonne brannte direkt von oben auf sie herunter, saugte alle noch verbliebene Flüssigkeit aus der staubigen Landschaft und ließ das Blut auf den Felsen trocknen. Sie sah zu den zwei Gräbern neben sich. Eins fehlte noch. Sie würde es fertig ausheben, dann Erde auf diese drei Narren werfen, sich einen Augenblick ausruhen und zusehen, dass sie von hier verschwand.

Nur allzu bald würden andere kommen, die nach ihr suchten.

Mit einem Ruck trieb sie die Schaufel aufrecht in die Erde, nahm ihren Wasserschlauch und zog den Stopfen heraus. Sie nahm einige Schlucke der lauwarmen Flüssigkeit und gönnte sich sogar den Luxus, sich ein wenig davon in die dreckige Hand rinnen zu lassen und es sich ins Gesicht zu spritzen. Der frühe Tod ihrer Kameraden hatte zumindest dem ewigen Gezanke über Wasser ein Ende gemacht.

Jetzt hatte sie mehr als genug davon.

»Wasser …«, stöhnte einer der Soldaten bei den Felsen. Es war kaum zu glauben, aber er lebte noch. Ihr Pfeil hatte sein Herz verfehlt, ihn aber dennoch getötet – nur ein wenig langsamer, als sie beabsichtigt hatte. Es war ihm gelungen, sich bis zu den Felsen hinaufzuschleppen, aber jetzt war es mit dem Weiterkriechen vorbei. Die Steine in seiner Nähe waren mit dunklem Blut bedeckt. Die Hitze und der Pfeil würden ihn bald erledigen, egal, wie zäh er war.

Sie hatte keinen Durst, aber es war noch Wasser übrig, und sie würde nicht in der Lage sein, alles zu tragen. Also nahm sie noch ein paar Schlucke und ließ das Wasser aus ihrem Mund und den Hals hinunterrinnen. Ein seltener Genuss hier draußen in den Wüsten Landen, Wasser einfach so zu verschütten. Schimmernde Tropfen fielen auf die trockene Erde und färbten sie dunkel. Sie goss sich noch ein wenig über ihr Gesicht, leckte sich die Lippen und sah zu dem Soldaten hinüber.

»Gnade …«, krächzte er, eine Hand an die Brust gepresst, aus der ihr Pfeil ragte, die andere schwach in ihre Richtung ausgestreckt.

»Gnade? Ha!« Sie schob den Pfropfen wieder in den Wasserschlauch und warf ihn dann neben das Grab. »Weißt du nicht, wer ich bin?« Wieder schnappte sie sich den Stiel der Schaufel, und das Blatt grub sich in den Boden.

»Ferro Maljinn!«, ertönte eine Stimme irgendwo hinter ihr. »Ich weiß, wer du bist!«

Eine höchst unwillkommene Entwicklung.

Ihre Gedanken rasten, als sie die Schaufel wieder hochriss. Ihr Bogen lag gerade außerhalb ihrer Reichweite neben dem ersten Grab, das sie ausgehoben hatte. Sie schleuderte etwas Erde weg, während ihre verschwitzten Schultern angesichts eines Menschen in ihrer Nähe, den sie nicht sah, zu prickeln begannen. Sie sah zu dem sterbenden Soldaten hinüber. Er starrte auf eine Stelle hinter ihr, und das gab ihr einen Hinweis darauf, wo der Neuankömmling sich in etwa befand.

Wieder trieb sie die Schaufel in den Boden, ließ dann plötzlich los und sprang aus dem Loch, rollte sich über die Erde, riss noch mitten in dieser Bewegung ihren Bogen an sich, legte einen Pfeil auf und zog dann die Sehne mit leichter Hand zurück. Etwa zehn Schritte von ihr entfernt stand ein alter Mann. Er machte keinen Schritt nach vorn, und er trug keine Waffe. Er stand nur da und sah sie mit einem gütigen Lächeln an.

Sie ließ den Pfeil von der Sehne schnellen.

Nun war Ferro mit ihrem Bogen so todbringend, wie man es nur sein konnte. Die zehn toten Soldaten hätten das ohne weiteres bezeugt, wenn es ihnen denn möglich gewesen wäre. In sechs von ihnen steckten ihre Pfeile, und während des ganzen Kampfes hatte sie nicht einmal daneben geschossen. Sie konnte sich nicht erinnern, ein nahes Ziel verfehlt zu haben, ganz gleich, wie schnell sie geschossen hatte, und sie hatte Männer getötet, die zehn Mal so weit entfernt standen wie dieser lächelnde alte Drecksack jetzt.

Aber dieses Mal hatte sie nicht getroffen.

Der Pfeil schien im Flug eine Kurve zu beschreiben. Vielleicht war eine der Federn beschädigt, aber dennoch erschien das unnatürlich. Der alte Mann zuckte mit keiner Wimper, nicht einmal ein Härchen bewegte sich. Er stand einfach nur da, lächelte, genau da, wo er immer gestanden hatte, und der Pfeil flog ein paar Zoll an ihm vorbei und verschwand hinter dem Hügel.

Und das gab allen Beteiligten Zeit, die Lage zu überdenken.

Er war eine seltsame Gestalt, dieser Alte. Sehr dunkelhäutig, schwarz wie Kohle, was wohl bedeutete, dass er ganz weit aus dem Süden stammte, von jenseits der weiten und schutzlosen Wüste. Das war eine Reise, die man nicht leichten Herzens auf sich nahm, und Ferro hatte solche Menschen bisher kaum einmal gesehen. Hochgewachsen und dünn, mit langen, sehnigen Armen und einem schlichten Kaftan, den er sich um den Leib gewickelt hatte. Seine Handgelenke zierten seltsame Armreifen, die so aneinander gereiht waren, dass sie die Hälfte seiner Unterarme bedeckten und dunkel und hell in der unbarmherzigen Sonne glitzerten.

Sein Haar hing ihm wie ein Wust grauer Seile ins Gesicht, manche davon so lang, dass sie bis zu den Hüften reichten, und graue Bartstoppeln bedeckten sein kantiges, markantes Kinn. Um seine Brust hatte er einen großen Wasserschlauch geschlungen, und an dem Gürtel, den er um die Hüften trug, hingen zahlreiche kleine Lederbeutel. Sonst nichts. Keine Waffe. Das war besonders seltsam, bei einem Mann hier draußen in den Wüsten Landen. In dieser gottverlassenen Gegend waren nur die unterwegs, die auf der Flucht waren, und jene, die ihnen nachjagten. In beiden Fällen sollten sie möglichst gut bewaffnet sein.

Er war kein gurkhischer Soldat, und er zählte auch nicht zu den heruntergekommenen Gestalten, die der Preis verlockte, der auf ihren Kopf ausgesetzt war. Er war kein Bandit und kein entlaufener Sklave. Was war er dann? Und wieso war er hier? Er musste nach ihr gesucht haben. Vielleicht war er einer von ihnen.

Ein Verzehrer.

Wer sonst würde in den Wüsten Landen ohne eine Waffe unterwegs sein? Sie hatte nicht geahnt, dass sie so dringend gesucht wurde.

Er stand bewegungslos da, der alte Mann, und lächelte sie an. Sie griff langsam nach einem weiteren Pfeil, und seine Augen verfolgten ihre Bewegung ohne die geringste Sorge.

»Das ist wirklich nicht nötig«, sagte er mit langsamer, tiefer Stimme.

Sie legte den Pfeil auf die Sehne. Der Alte bewegte sich nicht. Sie zuckte die Achseln und zielte sorgfältig. Der Alte lächelte weiter, als ob er sich über nichts in der Welt Gedanken machte. Sie ließ den Pfeil davonschnellen. Wieder verfehlte er sein Ziel um ein paar Zoll, diesmal auf der anderen Seite, und flog den Hügel hinunter.

Einmal mochte so etwas geschehen, das wollte sie gern zugeben, aber zweimal – da stimmte etwas nicht. Wenn es eines gab, was Ferro wirklich beherrschte, nur eines, dann war es das Töten. Der alte Narr hätte durchbohrt sein und sein letztes Blut auf dem steinigen Boden verströmen sollen. Wie er nun so still und lächelnd dastand, schien er sagen zu wollen: »Du weißt weniger, als du glaubst. Ich weiß mehr.«

Das war äußerst ärgerlich.

»Wer bist du, du alter Drecksack?«

»Man nennt mich Yulwei.«

»Ich bleibe lieber bei alter Drecksack!« Sie schleuderte ihren Bogen auf die Erde und ließ die Arme hängen, so, dass ihre rechte Hand durch ihren Körper verdeckt wurde. Mit einer kleinen Drehung ihres Handgelenks fiel das gebogene Messer aus ihrem Ärmel und in ihre wartende Handfläche. Es gab viele Wege, einen Mann zu töten, und wenn eine nicht klappt, muss man es mit einer anderen versuchen.

Ferro zählte nicht zu denen, die an der ersten Hürde aufgeben.

Yulwei ging langsam auf sie zu, die nackten Füße tappten über die Steine, die Armreifen klapperten sanft aneinander. Das war seltsam, wenn sie jetzt darüber nachdachte. Wenn er bei jeder Bewegung ein Geräusch machte, wie hatte er sich dann an sie anschleichen können?

»Was willst du?«

»Ich will dir helfen.« Er trat vor, bis er etwa noch eine Armlänge von ihr entfernt war, blieb dann stehen und lächelte sie an.

Ferro war schnell wie eine Schlange, wenn sie ein Messer in Händen hielt, wie die übrigen Soldaten hätten bezeugen können, wenn sie denn noch am Leben gewesen wären. Die Klinge schimmerte verschwommen in der Luft, als sie mit all ihrer Kraft und all ihrer Wut zustieß. Hätte er dort gestanden, wo sie geglaubt hatte, hätte sie ihm den Kopf herunter geschnitten. Aber das tat er nicht. Er stand einen Schritt weiter links.

Mit einem Kampfesschrei stürzte sie sich auf ihn und rammte ihm die Klinge ins Herz. Aber ihr Stich traf nur die Luft. Er war wieder dort, wo er zuerst gestanden hatte, bewegungslos und die ganze Zeit über lächelnd. Sehr seltsam. Sie umschlich ihn, vorsichtig, ihre mit Sandalen bekleideten Füße scharrten über den Staub, während sie die linke Hand vor sich in der Luft kreisen ließ und mit der rechten weiter das Messer umklammert hielt. Vorsicht war geboten – hier war Magie im Spiel.

»Es gibt keinen Grund, zornig zu sein. Ich bin hier, um zu helfen.«

»Scheiß auf deine Hilfe«, zischte sie zurück.

»Aber du brauchst sie, dringend. Sie suchen nach dir, Ferro. Es sind Soldaten in den Hügeln hier unterwegs, viele Soldaten.«

»Ich bin schneller als sie.«

»Es sind zu viele. Du kannst nicht vor allen weglaufen.«

Sie sah zu den durchlöcherten Toten. »Dann übergebe ich sie den Geiern.«

»Dieses Mal wird das nicht klappen. Sie sind nicht allein. Sie haben Hilfe.« Bei dem Wort ›Hilfe‹ wurde seine Stimme noch ein wenig tiefer.

Ferro verzog das Gesicht. »Priester?«

»Ja, und mehr noch.« Seine Augen weiteten sich. »Einen Verzehrer«, flüsterte er. »Sie wollen dich lebend haben. Der Imperator möchte ein Exempel an dir statuieren. Er will dich allen vorführen.«

Sie schnaubte. »Der Imperator ist mir keinen Fick wert.«

»Genau das habe ich schon anders gehört.«

Sie knurrte und hob wieder das Messer, aber es war kein Messer mehr. In ihrer Hand wand sich eine zischende Schlange, eine giftige Schlange, die den Mund zum Zubeißen öffnete. »Uah!« Mit einem Ruck schleuderte sie das Reptil zu Boden und trat ihm mit dem Fuß auf den Kopf, aber stattdessen trat sie auf ihr Messer. Die Klinge zerbrach mit einem scharfen Knacken.

»Sie werden dich fangen«, sagte der Alte. »Sie werden dich fangen, und auf dem großen Platz der Stadt werden sie deine Beine mit Hämmern brechen, damit du nie wieder weglaufen kannst. Dann werden sie dich in den Straßen von Schaffa zur Schau stellen, nackt, rückwärts auf einem Esel reitend und mit abrasiertem Haar, und die Leute werden am Straßenrand stehen und dir Schmähungen zurufen.«

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, aber Yulwei hörte nicht auf. »Man wird dich in einem Käfig vor dem Palast verhungern und in der Sonne braten lassen, während die guten Menschen von Gurkhul dich verhöhnen, dich anspucken und durch die Gitter hindurch mit Unrat bewerfen. Vielleicht werden sie dir Pisse zu trinken geben, wenn du Glück hast. Wenn du dann endlich stirbst, wird man dich dort verrotten lassen, die Fliegen werden dich Stück für Stück auffressen, damit die anderen Sklaven sehen, wie die Freiheit aussieht, und zu dem Schluss kommen, dass sie in ihrer jetzigen Lage besser dran sind.«

Ferro langweilte das alles. Sollten sie doch kommen, und der Verzehrer auch. Sie würde nicht in einem Käfig sterben. Sie würde sich selbst die Kehle durchschneiden, ehe es dazu käme. Mit verächtlichem Lachen wandte sie sich von ihm ab, nahm die Schaufel wieder zur Hand und grub wild entschlossen weiter an dem letzten Grab. Nicht lange, und es war tief genug.

Tief genug für den Abschaum, der darin verfaulen würde.

Sie drehte sich um. Yulwei kniete neben dem sterbenden Soldaten und gab ihm Wasser aus dem Schlauch, der um seine Brust hing.

»Scheiße!«, brüllte sie und lief hinüber, die Finger fest um den Schaufelstiel geschlossen.

Der alte Mann erhob sich, als sie näher kam. »Gnade …«, krächzte der Soldat und streckte die Hand aus.

»Hier hast du deine Gnade!« Die Kante des Schaufelblatts grub sich tief in den Schädel des Soldaten. Der Körper zuckte kurz und lag dann reglos da. Mit triumphierendem Blick wandte sie sich wieder zu dem alten Mann. Er blickte traurig zurück. Da war etwas in seinen Augen. Mitleid vielleicht.

»Was willst du, Ferro Malj’inn?«

»Was?«

»Wieso hast du das getan?« Yulwei deutete auf den Toten. »Was willst du?«

»Rache.« Sie spuckte das Wort aus.

»An ihnen allen? An der ganzen Nation von Gurkhul? An jedem Mann, jeder Frau, jedem Kind?«

»An ihnen allen!«

Der Alte sah zwischen den Toten hin und her. »Dann musst du mit dem heutigen Tagewerk sehr glücklich sein.«

Sie zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Ja.« Aber sie war nicht sehr glücklich. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, wie sich das anfühlte. Das Lächeln erschien seltsam, fremd, ganz schief.

»Und ist Rache alles, woran du denkst, in jeder Minute des Tages, ist das dein einziger Wunsch?«

»Ja.«

»Ihnen weh zu tun? Sie zu töten? Sie auszulöschen?«

»Ja!«

»Du willst nichts für dich?«

Sie hielt inne. »Was?«

»Für dich selbst. Was willst du

Sie starrte den alten Mann misstrauisch an, aber ihr fiel keine Antwort ein. Yulwei schüttelte traurig den Kopf. »Mir scheint, Ferro Maljinn, du bist noch immer so versklavt, wie du es früher warst. So versklavt, wie du überhaupt nur sein kannst.« Er setzte sich mit überkreuzten Beinen auf einen Stein.

Einen Augenblick starrte sie ihn an; sie war verwirrt. Dann kochte der Zorn wieder in ihr hoch, heiß und vertraut. »Wenn du gekommen bist, um mir zu helfen, dann kannst du mir helfen, sie zu begraben!« Dabei deutete sie auf die drei blutigen Leichname, die neben den Gräbern lagen.

»O nein. Das ist deine Arbeit.«

Sie wandte sich von dem alten Mann ab, fluchte unterdrückt und ging zu ihren ehemaligen Kameraden hinüber. Dort hob sie den toten Shebed unter den Achseln hoch und schleppte ihn zum ersten Grab hinüber. Seine Hacken hinterließen zwei kleine Furchen in dem Staub. Als sie die Grube erreicht hatte, rollte sie ihn hinein. Alugai war der Nächste. Ein kleiner Strom trockener Erde rann über ihn, als er auf dem Boden seines Grabs liegen blieb.

Sie wandte sich Nasars Leiche zu. Ihn hatte ein Schwertstreich getötet, der ihm mitten durchs Gesicht gefahren war. Ferro war der Meinung, dass dieser Umstand sein Aussehen nur verbesserte.

»Der hier sieht aus, als sei er ein anständiger Mann gewesen«, sagte Yulwei.

»Nasar.« Sie lachte bitter. »Ein Vergewaltiger, ein Dieb, ein Feigling.« Rau hustete sie ein wenig Schleim hoch und spuckte ihn in das tote Gesicht, wo er sanft auf der Stirn auftraf. »Vielleicht der Schlimmste von den dreien.« Sie sah die Gräber entlang. »Aber sie waren alle Scheißkerle.«

»Da hattest du dir ja nette Gesellschaft gesucht.«

»Wer gejagt wird, kann sich seine Kameraden nicht aussuchen.« Sie sah in Nasars blutiges Gesicht. »Da nimmt man, was kommt.«

»Wenn du sie so sehr verabscheust, wieso überlässt du sie dann nicht den Geiern, wie die anderen auch?« Yulwei deutete mit einer weit ausholenden Armbewegung zu den toten Soldaten.

»Man begräbt seine Leute.« Mit einem Fußtritt stieß sie Nasar in sein Grab. Er rollte mit schlenkernden Armen voran und fiel mit dem Gesicht nach unten in das ausgehobene Loch. »So ist es immer schon gewesen.«

Mit diesen Worten nahm sie die Schaufel wieder zur Hand und begann damit, die steinige Erde auf seinen Rücken zu häufen. Sie arbeitete schweigend, während sich der Schweiß auf ihrer Stirn sammelte und schließlich zu Boden tropfte. Yulwei sah ihr zu, wie sie auch die beiden anderen Löcher wieder zuschippte. Drei neue Erdhaufen in der Ödnis. Dann warf sie die Schaufel von sich; sie prallte von einem der Toten ab und blieb klappernd zwischen den Steinen liegen. Eine kleine Wolke Fliegen stieg zornig von der Leiche auf und ließ sich dann wieder auf ihr nieder.

Ferro nahm ihren Bogen und den Köcher an sich und hing sie sich über die Schulter; sie überprüfte sorgfältig das Gewicht des Wasserschlauchs und schulterte ihn ebenfalls. Dann unterzog sie die Leichen der Soldaten einer genauen Untersuchung. Einer von ihnen, der wie der Anführer aussah, hatte einen schönen geschwungenen Säbel. Er hatte ihn noch nicht einmal ziehen können, bevor ihn ihr Pfeil in der Kehle getroffen hatte. Ferro nahm die Waffe aus der Scheide und ließ sie einige Male prüfend durch die Luft pfeifen. Sie war sehr gut: perfekt austariert, die lange Klinge tödlich scharf, und mit einem Griff aus hellem Metall, in dem sich die Sonne spiegelte. Er hatte noch ein Messer, das ähnlich gearbeitet war. Sie nahm die Waffen und steckte sie in ihren Gürtel.

Auch die anderen Leichen plünderte sie, obwohl es nicht viel zu holen gab. Wo es möglich war, schnitt sie ihre Pfeile aus den Toten heraus. Sie fand auch einige Münzen, die sie jedoch wegwarf. Ihr Gewicht würde sie nur belasten, und was hätte sie in den Wüsten Landen damit kaufen können? Staub oder Erde?

Mehr gab es da nicht, und Staub und Erde waren umsonst.

Sie hatten einige Vorräte bei sich gehabt, aber nicht einmal soviel, dass sie bis zum nächsten Tag gereicht hätten. Das bedeutete, dass sie nicht allein gewesen waren. Wahrscheinlich machten noch viele weitere Soldaten Jagd auf sie. Möglicherweise waren sie schon in der Nähe. Yulwei sagte die Wahrheit, aber das war ihr egal.

Sie drehte sich um und ging davon, nach Süden, den Hügel hinunter und auf die große Wüste zu. Den alten Mann ließ sie stehen.

»Das ist der falsche Weg«, sagte er.

Sie hielt inne und blinzelte, vom grellen Sonnenlicht geblendet, zu ihm hinüber. »Es kommen doch Soldaten, oder nicht?«

Yulweis Augen funkelten. »Es gibt viele Möglichkeiten, um nicht bemerkt zu werden, selbst hier draußen in den Wüsten Landen.«

Sie sah nach Norden über die Ebene, die sich ohne besondere landschaftliche Auffälligkeiten flach unter ihnen erstreckte. Bis Gurkhul. Meilenweit gab es weder einen Hügel, einen Baum noch einen Busch. Kein Versteck. »Ohne bemerkt zu werden, selbst von einem Verzehrer?«

Der Alte lachte. »Von diesen arroganten Schweinen gerade nicht. Sie sind nicht halb so klug, wie sie selbst denken. Wie glaubst du, bin ich bis hierher gekommen? Ich bin mitten durch sie hindurchgegangen, war zwischen ihnen, unter ihnen. Ich gehe, wohin es mir gefällt, und ich nehme mit, wen ich will.«

Sie beschattete die Augen mit der Hand und sah angestrengt nach Süden. Die Wüste erstreckte sich bis zum Horizont und noch weiter. Ferro konnte hier in der Wildnis überleben, gerade so, aber wie würde es dort draußen sein, wenn sie von den sich stets verändernden Sanddünen und der gnadenlosen Hitze in die Zange genommen würde?

Der Alte schien ihre Gedanken zu lesen. »Natürlich gibt es immer noch die endlosen Sandgebiete. Ich habe sie schon durchquert. Das ist möglich. Aber nicht für dich.«

Er hatte recht, verdammt noch mal. Ferro war dünn und zäh wie eine Bogensehne, aber das bedeutete lediglich, dass sie länger als andere im Kreis laufen konnte, bevor sie zusammenbrach und mit dem Gesicht im Sand liegen blieb. Als Ort zum Sterben war die Wüste dem Käfig vor dem Palast vorzuziehen, aber das war auch schon alles. Vor allem wollte sie schließlich am Leben bleiben.

Es gab noch genug zu tun.

Der alte Mann saß im Schneidersitz da und lächelte. Wer war er? Ferro vertraute niemandem, aber wenn er sie dem Imperator ausliefern wollte, hätte er ihr schon, während sie noch schaufelte, etwas über den Schädel schlagen können, anstatt auf sich aufmerksam zu machen, als er sich näherte. Er verfügte über Zauberkräfte, das hatte sie selbst gesehen; eine kleine Aussicht zu überleben war besser als nichts.

Aber was würde er im Gegenzug von ihr verlangen? Die Welt hatte Ferro noch nie etwas geschenkt, und sie rechnete nicht damit, dass sich das plötzlich änderte. Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen. »Was willst du von mir, Yulwei?«

Der Alte lachte. Langsam ging ihr dieses Lachen auf die Nerven. »Sagen wir doch einfach, dass ich dir einen Gefallen tun will. Später kannst du dann auch mir einen tun.«

Besonders ausführlich war diese Antwort gerade nicht, aber wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht, nimmt man, was einem angeboten wird. Sie hasste es, sich in die Hand eines anderen Menschen zu begeben, aber so wie es aussah, hatte sie keine Wahl.

Jedenfalls nicht, wenn sie noch eine weitere Woche überleben wollte.

»Was tun wir also?«

»Wir müssen warten, bis die Nacht hereinbricht.« Yulwei sah hinüber zu den verdreht daliegenden Leichen und rümpfte die Nase. »Aber vielleicht nicht hier.«

Ferro zuckte die Achseln und setzte sich auf das mittlere Grab. »Warum nicht hier«, sagte sie. »Ich möchte die Geier gern fressen sehen.«

 

Der Himmel über ihnen war mit hellen Sternen übersät, und die Luft war kühl geworden, richtiggehend kalt. Unten in der dunklen, staubigen Ebene brannten nun Feuer, eine gebogene Linie heller Brände war sichtbar, die sie gegen den Rand der Wüste zu drängen schien. Sie, Yulwei, die zehn Leichen und die drei Gräber waren auf diesem Abhang gefangen. Morgen, wenn das erste Tageslicht über das ausgedörrte Land kroch, würden die Soldaten diese Feuer verlassen und vorsichtig den Hügeln entgegenstreben. Wenn Ferro noch dort war, wenn sie sie erreichten, würde sie sicherlich getötet, oder, noch schlimmer, gefangen genommen werden. Gegen so viele konnte sie nicht allein vorgehen, nicht einmal dann, wenn – wie sie hoffte – kein Verzehrer bei ihnen war.

Sie hasste es, das zuzugeben, aber ihr Leben war nun in Yulweis Händen.

Er sah mit zusammengekniffenen Augen zum Himmel empor. »Es ist Zeit«, sagte er.

In der Dunkelheit stolperten sie den dunklen Abhang hinunter und suchten sich vorsichtig einen Weg zwischen den Felsblöcken und den wenigen struppigen, halb verdorrten Büschen. Nach Norden, Richtung Gurkhul. Yulwei bewegte sich überraschend schnell, und sie musste beinahe laufen, um mit ihm Schritt zu halten, die Augen immer auf den Boden gerichtet, um zwischen den Steinen nicht zu straucheln. Als sie endlich unten am Fuß des Hügels angekommen waren und sie wieder aufsah, entdeckte sie, dass Yulwei sie dem linken Ende der Feuerlinie entgegenführte, wo die Lager besonders zahlreich waren.

»Warte«, flüsterte sie und packte seine Schulter. Sie deutete nach rechts hinüber. Dort gab es weniger Feuer, und es war sicher leichter, dort hindurchzuschlüpfen. »Wie wäre es mit diesem Weg?«

Im Licht der Sterne konnte sie Yulweis Zähne beim Lächeln weiß blitzen sehen. »O nein, Ferro Maljinn. Dort sind die meisten Soldaten … und unser anderer Freund.« Er gab sich keine Mühe, besonders leise zu sprechen, und das machte sie ganz kribbelig. »Sie erwarten, dass du dort durchzubrechen versuchst, falls du dich entschließen solltest, nach Norden zu gehen. Allerdings rechnen sie nicht wirklich damit. Sie denken, dass du es eher mit dem südlichen Weg versuchen und in die Wüste gehen wirst, um zu sterben, bevor du es riskierst, gefangen genommen zu werden, und das hättest du ja auch getan, wenn ich nicht gewesen wäre.«

Yulwei drehte sich um und sie folgte ihm leise, wobei sie sich gebückt und nahe am Boden hielt. Als sie näher an die Feuer herangekommen waren, stellte sie fest, dass der alte Mann recht gehabt hatte. Zwar saßen dort einige Leute, aber es waren nur wenige, und weit von einander entfernt. Der Alte ging selbstbewusst auf vier Feuer ganz links zu, von denen nur eines bewacht war. Er gab sich keine Mühe, geduckt zu gehen, seine Armreifen klapperten sanft aneinander, und seine nackten Füße patschten laut auf den trockenen Boden. Sie waren schon fast nahe genug, um die Umrisse der drei Männer am Feuer genau ausmachen zu können. Yulwei musste jeden Augenblick entdeckt werden. Sie zischte etwas zu ihm herüber, um seine Aufmerksamkeit zu wecken, und war sich sicher, dass man sie hören musste.

Yulwei drehte sich um und wirkte überrascht im schwachen Licht, das von den Flammen herüberschien. »Was?«, fragte er. Sie zuckte zusammen und erwartete, die Soldaten aufspringen zu sehen, aber sie unterhielten sich ungerührt weiter. Yulwei sah zu ihnen hinüber. »Sie werden uns nicht sehen und auch nicht hören, es sei denn, wir brüllen ihnen direkt in die Ohren. Wir sind sicher.« Er wandte sich wieder zum Gehen, wobei er einen weiten Bogen um die drei Männer machte. Ferro folgte ihm, noch immer leise und möglichst unauffällig, schon allein aus Gewohnheit.

Als sie weiter auf das Feuer zugingen, konnte Ferro allmählich verstehen, was dort gesprochen wurde. Sie verlangsamte ihren Schritt und hörte zu. Dann ging sie auf die Soldaten zu. Yulwei wandte sich um. »Was tust du da?«, fragte er.

Ferro sah die drei an. Ein stark gebauter, zäh aussehender altgedienter Krieger, ein dünner Kerl, der an ein Wiesel erinnerte, und ein ehrlich wirkender junger Mann, der gar nicht so recht wie ein Soldat aussah. Ihre Waffen lagen auf dem Boden, in ihren Scheiden, eingewickelt, nicht kampfbereit. Sie umkreiste sie aufmerksam und lauschte.

»Es heißt, sie sei nicht ganz richtig im Kopf«, flüsterte der Dünne dem jungen Mann zu, dem er offenbar Angst einjagen wollte. »Sie sagen, dass sie Hunderte von Männern getötet hat, wenn nicht mehr. Den gut aussehenden Kerlen schneidet sie die Nüsse ab, während sie noch am Leben sind«, er griff sich in den Schritt, »und isst sie vor ihren Augen auf!«

»Ach, halt die Klappe«, sagte der Dicke, »sie wird gar nicht in unsere Nähe kommen.« Er deutete dorthin, wo sich weniger Feuer befanden, und dämpfte die Stimme zu einem Flüstern. »Sie wird zu ihm gehen, wenn sie überhaupt diese Richtung einschlägt.«

»Nun, ich hoffe, sie tut es nicht«, sagte der junge Mann. »Leben und leben lassen, das ist mein Wahlspruch.«

Der Dünne verzog das Gesicht. »Und was ist mit all den guten Männern, die sie umgebracht hat? Und mit den Frauen und Kindern? Hätte sie die nicht auch leben lassen sollen?« Ferro knirschte mit den Zähnen. Niemals hatte sie Kinder getötet, jedenfalls nicht, soweit sie sich erinnern konnte.

»Natürlich, das ist eine schlimme Sache. Ich sage ja auch nicht, dass sie nicht erwischt werden sollte.« Der junge Soldat sah sich nervös um. »Nur vielleicht nicht von uns.«

Der Dicke lachte über diese Worte, aber der Dünne schien sie nicht besonders lustig zu finden. »Bist du ein Feigling oder was?«

»Nein!«, antwortete der junge Mann verärgert. »Aber ich habe eine Frau und eine Familie, die auf mich angewiesen sind, und mir wäre es recht, wenn ich hier draußen nicht getötet würde, das ist alles.« Er grinste. »Wir erwarten unser nächstes Kind. Diesmal hoffentlich ein Junge.«

Der dicke Mann nickte. »Mein Sohn ist jetzt schon fast erwachsen. Sie werden so schnell groß.«

Das ganze Gerede über Kinder und Familien und Hoffnung ließ noch mehr Wut in Ferro emporsteigen. Sie schnürte ihr die Brust zu. Wieso sollten die ein Leben haben dürfen, wenn sie gar nichts hatte? Wenn diese Soldaten und ihresgleichen ihr alles genommen hatten? Sie ließ das gebogene Messer aus der Scheide gleiten.

»Was tust du da, Ferro?«, zischte Yulwei.

Der junge Mann sah sich um. »Habt ihr gerade auch etwas gehört?«

Der Dicke lachte. »Ich glaube, ich habe gehört, wie du dir in die Hosen geschissen hast.« Der Dünne kicherte in sich hinein, der Junge lächelte verlegen. Ferro schlich sich von hinten an ihn heran. Sie war nur noch zwei Fuß entfernt und stand im hellen Licht des Feuers, aber keiner der Soldaten sah sie an. Sie hob das Messer.

»Ferro!«, rief Yulwei. Der junge Mann sprang auf und spähte hinaus in die dunkle Ebene, aber seine Augen konzentrierten sich auf einen Punkt weit hinter ihr. Sie konnte seinen Atem riechen. Die Messerklinge glitzerte nur wenige Zoll von seiner stoppligen Kehle entfernt.

Jetzt. Jetzt war der richtige Augenblick. Sie würde ihn schnell töten und die anderen zwei gleich mitnehmen, bevor sie Alarm schlagen konnten. Sie wusste, sie würde es schaffen. Sie waren nicht bereit, sie schon. Jetzt war der richtige Augenblick.

Aber ihre Hand bewegte sich nicht.

»Was ist dir denn in den Arsch gefahren?«, fragte der dicke Soldat. »Da draußen ist nichts.«

»Ich hätte schwören können, ich hätte etwas gehört«, sagte der junge Mann und sah Ferro noch immer direkt ins Gesicht.

»Warte!«, schrie nun der Dünne, sprang auf und deutete in ihre Richtung. »Da ist sie! Genau vor dir!« Ferro erstarrte einen Augenblick und sah ihn gebannt an, dann brachen er und der Dicke in Gelächter aus. Der junge Soldat blickte etwas verlegen drein, wandte sich um und setzte sich wieder.

»Ich dachte bloß, ich hätte was gehört, das ist alles.«

»Es ist niemand da draußen«, sagte der Dicke. Ferro zog sich langsam zurück. Sie fühlte sich elend, ihr Mund war voll saurer Spucke, ihr Kopf dröhnte. Mit einem Ruck schob sie das Messer in die Scheide zurück, dann drehte sie sich um und ging davon, während Yulwei ihr schweigend folgte.

Als das Licht der Feuer und die Unterhaltungen in der Entfernung verschwammen, hielt sie inne und ließ sich auf den harten Boden sinken. Ein kalter Wind blies über die öde Ebene. Der Staub, den er ihr ins Gesicht wirbelte, stach und brannte, aber sie bemerkte es kaum. Der Hass und der Zorn waren verschwunden, jedenfalls für den Augenblick, aber sie hatten eine Lücke hinterlassen, und sie hatte nichts, womit sie diese hätte füllen können. Sie fühlte sich leer und kalt und elend und allein. Also legte sie die Arme um sich selbst, wiegte sich langsam hin und her und schloss die Augen. Doch die Dunkelheit spendete ihr keinen Trost.

Dann spürte sie die Hand des alten Mannes auf ihrer Schulter.

Üblicherweise hätte sie sich weggedreht, ihn abgeschüttelt, ihn vielleicht sogar getötet, wenn sie gekonnt hätte. Aber die Stärke war von ihr gewichen. Sie sah blinzelnd auf. »Es ist nichts mehr von mir übrig. Was bin ich?« Sie presste eine Hand gegen ihre Brust, aber sie fühlte es kaum. »In mir ist nichts mehr.«

»Tja. Seltsam, dass du das sagst.« Yulwei lächelte zum sternübersäten Himmel hinauf. »Ich bekam gerade den Eindruck, dass es da drin etwas gibt, das sich zu retten lohnt.«