DER BLUTIGE NEUNER
Das eine konnte man über Logen Neunfinger sagen, er war glücklich. Sie reisten ab. Endlich. Abgesehen von den vagen Gesprächen über das Alte Kaiserreich und den Rand der Welt hatte er zwar keine Ahnung, wohin es ging, aber es war ihm auch egal. Hauptsache, er konnte diese verfluchte Stadt verlassen. Je schneller, je besser.
Der jüngste Neuzugang ihrer Gruppe schien seine gute Laune nicht teilen zu können. Luthar, der stolze junge Mann vom Tor. Derselbe, der das Fechtspiel gewonnen hatte, dank Bayaz’ Betrügerei. Seit seiner Ankunft hatte er kaum zwei Worte herausgebracht. Sondern nur dagestanden, mit steinernem und kalkweißem Gesicht, und aus dem Fenster geguckt, so kerzengerade aufgerichtet, als ob man ihm einen Speer in den Arsch geschoben hätte.
Logen schlenderte gemächlich zu ihm hinüber. Wenn man mit einem Mann zusammen reist und Seite an Seite mit ihm kämpfen muss, dann sollte man miteinander geredet und am besten auch gelacht haben. So kann man sich erst einmal kennen lernen und schließlich auch Vertrauen aufbauen. Es ist dieses Vertrauen, das eine Gruppe von Kämpfern verbindet, und draußen in der Wildnis kann Leben oder Tod davon abhängen. Aber Vertrauen aufzubauen kostet Zeit und Mühe. Logen überlegte, dass er am besten frühzeitig damit anfing, und heute hatte er so viel gute Laune, dass er meinte, davon ein wenig abgeben zu können. Also stellte er sich neben Luthar und sah auf den Park hinaus, über eine gemeinsame Grundlage nachgrübelnd, in die er den Samen für eine recht unwahrscheinliche Freundschaft würde pflanzen können.
»Schön, Ihre Heimatstadt.« Das dachte er zwar nicht wirklich, aber ihm fiel ansonsten nichts ein.
Luthar wandte sich vom Fenster ab und sah hochfahrend an Logen herunter. »Was wissen Sie denn davon?«
»Meiner Meinung nach sind die Gedanken eines Mannes ebenso viel wert wie die eines anderen.«
»Phh«, machte der junge Mann verächtlich. »Dann ist das wohl ein Punkt, in dem wir uns unterscheiden.« Er sah wieder nach draußen.
Logen atmete tief durch. Das mit dem Vertrauen würde wohl noch eine Weile dauern. Er beschloss, Luthar einstweilen in Ruhe zu lassen und sich Quai zuzuwenden, aber der Lehrling erschien nicht viel zugänglicher, saß zusammengesunken auf einem Sessel und zog ohne ersichtlichen Grund ein finsteres Gesicht.
Logen setzte sich neben ihn. »Freut Ihr Euch nicht darauf, in die Heimat zu fahren?«
»Heimat«, wiederholte der Lehrling teilnahmslos.
»Ja, das Alte Kaiserreich … oder wie das heißt.«
»Ihr wisst ja nicht, wie es dort ist.«
»Ihr könntet es mir ja erzählen«, sagte Logen, der darauf hoffte, etwas von friedlichen Tälern, Städten, Flüssen und so weiter zu hören.
»Blutig. Es ist dort sehr blutig und gesetzlos, und ein Leben ist keinen Pfifferling wert.«
Blutig und gesetzlos. Das hatte einen unangenehm bekannten Beigeschmack. »Gibt es da nicht einen Kaiser oder so was?«
»Es gibt viele Kaiser, die alle gegeneinander Krieg führen, die Bündnisse schmieden, die eine Woche halten oder einen Tag oder eine Stunde, bevor sich jeder bemüht, der Erste zu sein, der den anderen in den Rücken sticht. Wenn ein Kaiser untergeht, kommt ein anderer an die Macht, und dann wieder einer und wieder, und währenddessen mühen sich jene ohne Hoffnung und ohne Besitz, am Rande der Gesellschaft zu plündern, zu rauben und zu morden. Die Städte verkommen, die großen Werke der Vergangenheit verfallen, die Ernten werden nicht eingebracht, und die Menschen müssen hungern. Blutvergießen und Verrat, seit Hunderten von Jahren. Die Fehden haben so tief gehende und komplizierte Wurzeln, dass kaum noch jemand sagen kann, wer wen hasst, und niemand kann sich daran erinnern, wieso. Man braucht keine Gründe mehr.«
Logen unternahm einen letzten Versuch. »Man weiß ja nie. Vielleicht hat es sich inzwischen zum Besseren gewendet.«
»Wieso sollte es?«, seufzte der Lehrling. »Wieso?«
Logen suchte nach einer Antwort, als eine der Türen mit einem Ruck aufschwang. Bayaz sah sich missgelaunt im Zimmer um. »Wo ist Maljinn?«
Quai schluckte. »Sie ist weggegangen.«
»Das sehe ich! Ich dachte, ich hätte Euch aufgetragen, darauf zu achten, dass sie hier bleibt!«
»Ihr habt mir nicht gesagt, wie«, murmelte der Lehrling.
Sein Meister ignorierte ihn. »Was, zum Teufel, hat diese verdammte Frau geritten? Wir müssen gegen Mittag aufbrechen! Jetzt kenne ich sie erst seit drei Tagen, und in diesen drei Tagen hat sie mich schon fast um den Verstand gebracht!« Er biss die Zähne zusammen und atmete tief ein. »Findet sie, Logen, seid so gut. Spürt sie auf und bringt sie zurück.«
»Und was, wenn sie nicht mitkommen will?«
»Was weiß ich, dann schleppt Ihr sie eben hierher! Meinetwegen könnt Ihr sie mit Tritten zurückjagen, wenn Ihr wollt!«
Leicht gesagt, aber Logen wollte das besser nicht versuchen. Doch wenn es von ihrer Anwesenheit abhing, dass sie endlich abreisen konnten, machte er sich besser gleich auf den Weg. Er seufzte, erhob sich aus seinem Sessel und verließ den Raum.
Logen drückte sich in die Schatten an der Mauer und sah nach vorn.
»Scheiße«, flüsterte er leise. Das musste ausgerechnet jetzt passieren, da sie aufbrechen wollten. Ferro stand zwanzig Schritte entfernt, hoch aufgerichtet und mit noch finstererer Miene auf ihrem dunklen Gesicht als sonst. Drei Männer waren um sie herum. Maskierte Männer, ganz in Schwarz. Ihre Stöcke hielten sie tief an der Seite oder hinter ihren Rücken halbwegs außer Sicht, aber Logen war völlig klar, was sie vorhatten. Er konnte einen von ihnen reden hören, wie er durch seine Maske etwas zischte, das wie ›ruhig mitkommen‹ klang. Er seufzte resigniert. Ruhig mitkommen klang so gar nicht nach Ferros Art.
Er fragte sich, ob er sich leise entfernen und die anderen benachrichtigen sollte. Er mochte diese Frau eigentlich nicht besonders, schon gar nicht so sehr, dass er sich ihretwegen den Kopf einschlagen lassen wollte. Aber wenn er die Männer jetzt gewähren ließ, drei gegen eine, war es wahrscheinlich, dass sie Ferro – mochte sie auch noch so hart sein – zusammengeschlagen und sie womöglich irgendwohin verschleppt hätten, bevor er zurückkehrte. Dann käme er aus dieser verdammten Stadt vielleicht nie wieder raus.
Er schätzte die Entfernung zu ihr ab und überlegte, wie er am besten gegen sie vorging, wie seine Aussichten waren, aber er hatte zu lange schon nichts mehr getan, und sein Verstand arbeitete langsam. Er überlegte noch, als Ferro urplötzlich einen der Männer ansprang, aus vollem Halse schrie und ihren Gegner auf den Rücken warf. Sie verpasste ihm einige übel aussehende Schläge ins Gesicht, bevor die anderen sie ergreifen und von ihm wegziehen konnten.
»Scheiße«, zischte Logen. Die drei rangen miteinander, taumelten durch die Gasse, stießen gegen die Hausmauern, schnauften und fluchten, traten und schlugen, ein Knäuel wild herumfuchtelnder Arme und Beine. Offenbar war die Zeit für eine schlau durchdachte Attacke abgelaufen. Logen biss die Zähne zusammen und rannte auf die Kämpfenden zu.
Der auf dem Boden hatte sich inzwischen wieder halb aufgerichtet und schüttelte sich, wie um einen klaren Gedanken fassen zu können, während sich die anderen zwei damit abmühten, Ferro richtig zu fassen zu bekommen. Jetzt hob er den Arm, schwang den Stock und war offenbar drauf und dran, ihr den Schädel einzuschlagen. Logen ließ wildes Gebrüll erschallen. Das maskierte Gesicht fuhr mit überraschtem Ausdruck herum.
»Hä?« In diesem Augenblick krachte Logens Schulter gegen seine Rippen, riss ihn um und warf ihn erneut zu Boden. Aus dem Augenwinkel sah Logen, dass jemand mit einem Stock ausholte, aber er hatte diese Leute überrascht, und der Schlag wurde ohne allzu viel Kraft geführt. Er fing ihn mit dem Arm ab, duckte sich und schlug dem Mann geradewegs durch die Maske hindurch die Fäuste ins Gesicht, einen kräftigen Haken mit jeder Hand. Der Maskierte taumelte zurück, versuchte mit den Armen das Gleichgewicht zu halten und stürzte nach hinten. Logen hielt ihn am Aufschlag seines schwarzen Mantels fest, hob ihn in die Luft und schleuderte ihn mit dem Kopf voran gegen die Mauer.
Der Mann prallte mit einem Gurgeln gegen den Stein und brach auf dem Kopfsteinpflaster zusammen. Logen wirbelte herum, die Fäuste geballt, aber der letzte Gegner lag bereits auf dem Bauch. Ferro bohrte ihm das Knie in den Rücken, riss seinen Kopf am Haar nach oben und schlug ihm dann das Gesicht auf den Boden, während sie die ganze Zeit über unverständliche Flüche brüllte.
»Was, zum Teufel, habt Ihr angestellt?«, brüllte Logen, packte sie am Ellenbogen und zog sie davon.
Sie befreite sich aus seinem Griff und blieb keuchend stehen, die Fäuste geballt, während Blut aus ihrer Nase tropfte. »Nichts!«, knurrte sie.
Logen trat einen vorsichtigen Schritt zurück. »Nichts? Und was war das hier gerade?«
Sie schleuderte ihm die Worte in ihrem hässlichen Akzent entgegen. »Ich … weiß … es … nicht.« Dann wischte sie sich mit einer Hand das Blut vom Mund und erstarrte plötzlich. Logen warf einen Blick über seine Schulter. Drei weitere Maskierte liefen durch die enge Gasse auf sie zu.
»Scheiße.«
»Los, weg hier, Rosig!« Ferro drehte sich um und begann zu laufen, und Logen folgte ihr. Was hätte er sonst tun können? Er lief. Der schreckliche, atemlose Lauf der Gejagten, mit prickelnden Schultern, die jeden Augenblick einen Schlag in den Rücken erwarteten, die Luft in harten Stößen einsaugend. Die Schritte seiner Verfolger waren laut widerhallend um ihn herum zu hören.
Hohe weiße Gebäude schossen an beiden Seiten vorüber, Fenster, Türen, Statuen, Gärten. Auch Leute, die brüllten, während sie hastig aus dem Weg sprangen oder sich gegen die Mauern drückten. Er hatte keine Ahnung, wo sie waren, keine Ahnung, wohin sie liefen. Ein Mann trat genau vor ihm aus einer Tür; er trug einen großen Stapel Papiere im Arm. Sie stießen zusammen, stürzten zu Boden und rutschten sich überschlagend in die Gosse, während die Schriftstücke um sie herumflatterten.
Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine brannten. Er konnte nichts sehen! Da lag ein Stück Papier über seinem Gesicht. Er stieß es weg und fühlte, dass ihn jemand unter dem Arm packte und hochzog. »Auf, Rosig! Lauf!« Ferro. Sie war nicht einmal außer Atem. Logens Lungen barsten beinahe, während er versuchte, mit ihr Schritt zu halten, aber sie wahrte ihren Abstand, den Kopf gesenkt, mit fliegenden Füßen.
Nun rannte sie durch einen Durchgang vor ihnen, und Logen mühte sich, ihr zu folgen; seine Stiefel rutschten beinahe unter ihm weg, als er um eine Ecke schoss. Ein großer, schattenumlagerter Platz, Gerüste ragten bis hoch in den Himmel, wie ein Wald aus viereckigen Pfosten. Wo, zum Teufel, waren sie? Vor ihnen war helles Licht zu sehen, ein freier Platz. Er sprang darauf zu und blinzelte. Ferro war direkt vor ihm, drehte sich langsam und atmete schwer. Sie standen inmitten eines Kreises aus Gras, in einem kleinen abgesteckten Rund.
Jetzt wusste er, wo sie waren. Auf dem Kampfplatz, wo er unter den Zuschauern gesessen und das Schwerterspiel mit angesehen hatte. Die leeren Bänke zogen sich um den gesamten Kreis. Zimmerleute kletterten dazwischen herum, hämmerten und sägten. Sie hatten bereits einige der Bänke weiter hinten wieder abgebaut, und die Befestigungen reckten sich einsam wie ein riesenhafter Brustkorb in die Höhe. Logen stützte die Arme auf seine zitternden Knie und beugte sich nach vorn, rang nach Luft, blies Spucke auf den Boden.
»Was … jetzt?«
»Hier entlang.« Logen richtete sich mit Mühe auf und wankte hinter ihr her, aber sie stürzte bereits zurück. »Doch nicht hier entlang!«
Logen sah sie. Schwarz maskierte Gestalten, schon wieder. Ganz vorn war eine Frau, groß gewachsen und mit leuchtend rotem Haarschopf. Sie schlich lautlos auf den Fußballen zum Grasrund hinüber, machte hinter sich eine Handbewegung, die den anderen beiden bedeutete, seitlich auszuschwärmen und ihn einzukesseln. Logen sah sich nach einer Waffe um, konnte aber nichts Geeignetes entdecken – nur die leeren Bänke und die hohen weißen Mauern dahinter. Ferro wich zu ihm zurück, war keine zehn Fuß mehr entfernt, und hinter ihr tauchten zwei weitere Masken auf, die mit Stöcken in den Händen hinter den Kabinen hervorkamen. Fünf. Fünf insgesamt.
»Scheiße«, sagte er.
»Was, zum Teufel, hält sie auf?«, grollte Bayaz und ging im Zimmer auf und ab. Jezal hatte den alten Mann noch niemals so verärgert erlebt, und aus irgendeinem Grund machte ihn das nervös. Jedes Mal, wenn er sich näherte, spürte Jezal den Drang zurückzuweichen. »Ich gehe jetzt baden, verdammt noch mal. Könnte Monate dauern, bis ich wieder dazu komme. Monate!« Bayaz marschierte hinaus und schlug die Badezimmertür hinter sich zu, sodass Jezal und der Zauberlehrling allein zurückblieben.
Sie hatten zwar ungefähr ein Alter, aber ansonsten überhaupt nichts gemeinsam, soweit Jezal das erkennen konnte, und er starrte Quai mit unverhohlener Verachtung an. Ein kränklicher, wieselartiger, vertrockneter Bücherwurm. Dieses ganze schmollende, muffelige Verhalten war doch irgendwie lächerlich. Verdammt unhöflich auch. Für wen hielt er sich eigentlich, dieser arrogante Welpe? Wieso glaubte er, so aufgebracht sein zu müssen? Er war es doch nicht, dem man das ganze Leben mit einem Schlag unter den Füßen weggezogen hatte.
Aber immerhin, wenn er hier schon mit jemandem von denen allein zurückbleiben musste, dann hätte er es schlimmer treffen können, dachte er. Es hätte der irre Nordmann sein können, der ihm schwerzüngig und ungeschickt ein Gespräch aufdrücken wollte. Oder diese gurkhisische Hexe, die ihn mit ihren teufelsgelben Augen immer wieder anstarrte. Ihm schauderte, wenn er nur daran dachte. Lauter höchst befähigte Leute, hatte Bayaz gesagt. Er hätte darüber lachen mögen, wäre ihm nicht so zum Weinen gewesen.
Jezal ließ sich gegen die Kissen eines hochlehnigen Sessels sinken, aber auch diese weichen Polster hatten wenig Tröstendes. Seine Freunde waren nun auf dem Weg nach Angland, und er vermisste sie jetzt schon. West, Kaspa, Jalenhorm. Sogar den Drecksack Brint. Auf ihrem Weg zu Ehren und Ruhm. Der Kriegszug würde lange schon vorbei sein, wenn er von dem düsteren Ort, an den ihn der verrückte Alte führen wollte, wieder zurückgekehrt war – wenn er denn überhaupt je wiederkam. Wer konnte sagen, wann es den nächsten Krieg und somit die nächste Möglichkeit geben würde, Ruhm zu gewinnen?
Wie sehr wünschte er sich, gegen die Nordmänner ziehen zu können. Wie sehr wünschte er sich, bei Ardee zu sein. Es kam ihm vor, als sei es eine Ewigkeit her, dass er das letzte Mal glücklich gewesen war. Sein Leben war schrecklich. Schrecklich! Er lümmelte teilnahmslos in seinem Sessel und fragte sich, ob es überhaupt noch schlimmer kommen konnte.
»Gurggg«, machte Logen, als ein Stock gegen seinen Arm krachte, dann noch einmal gegen seine Schulter und dann gegen seine Rippen. Er taumelte zurück, sank halb auf die Knie und wehrte die Schläge ab, so gut er konnte. Von irgendwo hinter ihm konnte er Ferro schreien hören, ob vor Wut oder vor Schmerz, vermochte er nicht zu sagen, er war zu sehr damit beschäftigt, sich zusammenschlagen zu lassen.
Etwas Hartes traf auf seinen Schädel, heftig genug, um ihn gegen die Sitzreihen zu schleudern. Er fiel auf den Bauch, und die erste Bank traf ihn gegen die Brust, dass ihm die Luft ausging. Von seiner Kopfhaut rann Blut auf seine Hände, in seinen Mund. Seine Augen tränten, seit er einen Hieb auf die Nase erhalten hatte, seine Knöchel waren aufgeschürft und blutig, beinahe so zerfetzt wie seine Kleidung. Einen Augenblick lag er da und versuchte die Kräfte, die ihm noch geblieben waren, zu sammeln. Hinter der Bank entdeckte er ein großes Stück Bauholz. Er packte es an einem Ende. Es war lose. Mit einem Ruck zog er es zu sich heran. Es fühlte sich gut an in seiner Hand. Schwer.
Er atmete tief ein und raffte sich noch einmal auf. Dann bewegte er prüfend seine Arme und Beine ein wenig. Nichts gebrochen – außer der Nase vielleicht, aber das war nicht das erste Mal. Er hörte Schritte hinter sich. Langsame Schritte. Da ließ sich jemand Zeit.
Er richtete sich allmählich auf und versuchte so auszusehen, als sei er noch völlig benommen. Dann stieß er wildes Gebrüll aus und wirbelte herum, wobei er das Stück Bauholz über seinem Kopf schwang. Es zerbrach an der Schulter des maskierten Mannes mit einem mächtigen Krachen in zwei Stücke, und die eine Hälfte flog ein Stück weit und rutschte über das Gras. Der Mann heulte unterdrückt auf und sank zu Boden, die Augen zusammengekniffen, wobei er sich mit einer Hand den Hals hielt, während der andere Arm nutzlos herunterbaumelte und ihm der Stock aus den Fingern glitt. Logen packte das kurze Holzstück in seiner Hand noch einmal richtig und schlug ihm damit ins Gesicht. Der Hieb warf ihm den Kopf zurück und schleuderte ihn auf den Rasen, riss ihm halb die Maske herunter und zeigte das Blut, das darunter hervorquoll.
Hässliches, grelles Licht barst plötzlich in Logens Kopf, und er taumelte und sank auf die Knie. Jemand hatte ihn auf den Hinterkopf geschlagen. Und zwar richtig heftig. Er schwankte einen Augenblick und versuchte, nicht aufs Gesicht zu fallen, dann konnte er seine Umgebung plötzlich wieder klar erkennen. Die rothaarige Frau stand über ihm und hatte den Stock hoch erhoben.
Logen federte hoch, warf sie dabei fast um, kämpfte mit ihrem Arm, wobei er sie halb zog, halb auf ihr lag. Seine Ohren dröhnten, und die Welt drehte sich wie verrückt. Sie stolperten miteinander herum und zogen an dem Stock wie zwei Betrunkene, die um eine Weinflasche kämpften, rangelten auf dem Grasrund vor und zurück. Er fühlte, wie sie ihn mit der anderen Hand in die Seite boxte. Harte Schläge, direkt auf die Rippen.
»Aaah«, stöhnte er, aber jetzt wurde sein Kopf wieder klar, und sie war nur halb so schwer wie er. Mit Schwung drehte er ihr den Arm mit dem Stock auf den Rücken. Sie schlug ihn wieder, diesmal seitlich gegen das Gesicht, und kurzzeitig sah er Sterne, aber endlich bekam er ihr anderes Handgelenk zu fassen und hielt auch dieses fest. Dann bog er sie über sein Knie nach hinten.
Sie trat und zappelte, die Augen zu wütenden Schlitzen verengt, aber Logen hatte sie fest im Griff. Er befreite seine rechte Hand aus dem Durcheinander von Armen und Beinen, hob die Faust in die Höhe und ließ sie gegen ihren Magen krachen. Sie gab ein raues Keuchen von sich und erschlaffte, während ihr die Augen aus den Höhlen traten. Er schüttelte sie ab, und sie kroch ein oder zwei Fuß weg, zog sich die Maske herunter und hustete Erbrochenes auf den Rasen.
Logen stolperte und taumelte, schüttelte den Kopf, spuckte Blut und Dreck aufs Gras. Abgesehen von der würgenden Frau lagen vier schwarze, zusammengekrümmte Gestalten im Fechtkreis. Eine von ihnen keuchte leise, als Ferro sie immer und immer wieder trat. Ihr Gesicht war blutverschmiert, aber sie lächelte.
»Ich bin noch am Leben«, murmelte Logen vor sich hin, »ich bin noch immer …« Weitere Gestalten kamen durch den Durchgang. Er wirbelte herum und wäre dabei beinahe gestürzt. Vier weitere, von der anderen Seite. Sie waren gefangen.
»Beweg dich, Rosig!« Ferro schoss an ihm vorbei und sprang auf die erste Bank, dann auf die zweite, die dritte, in großen Sätzen von einer zur anderen. Welch ein Irrsinn. Wo wollte sie von dort aus hin? Rothaar hatte aufgehört zu kotzen und kroch auf den Stock zu, der ihr aus der Hand gefallen war. Die anderen näherten sich schnell, und es waren noch mehr als vorher. Ferro hatte schon ein Viertel der Strecke zurückgelegt und machte keine Anzeichen, langsamer zu werden, hüpfte weiter von einer Bank zur anderen und ließ die Planken erzittern.
»Scheiße.« Logen folgte ihr. Nach einem Dutzend Bänke brannten seine Beine wieder. Er gab es auf, von einer zur anderen zu springen, und kletterte nun über sie hinweg, so gut er konnte. Wenn er sich über die Lehnen fallen ließ, konnte er die Maskierten sehen, die ihm folgten, ihn beobachteten, auf ihn zeigten, irgendetwas riefen und über die Tribüne ausschwärmten.
Er wurde allmählich langsamer. Jede Bank erschien ihm wie ein Berg. Die am nächsten herangerückte Maske war nur noch wenige Sitzreihen entfernt. Er stolperte weiter, immer höher, seine blutigen Hände umklammerten das Holz, die blutigen Knie schrammten über die Planken, während in seinem Schädel der eigene Atem rasselte und seine Haut vor Schweiß und Angst prickelte. Plötzlich tat sich die leere Luft vor ihm auf. Er hielt inne, keuchend und mit wedelnden Armen, und blieb am Rand eines Schwindel erregenden Abgrunds stehen.
Er war den hohen Dächern der Gebäude dahinter recht nahe, aber die meisten Sitze hier oben waren bereits abgebaut worden, sodass nur noch das Gerüst dastand – einzelne, hoch aufragende Pfosten, zwischen ihnen schmale Balken, und sehr viel hoher, leerer Raum. Er sah, wie Ferro von einem hohen Pfahl zum anderen sprang, dann über eine wackelnde Planke lief, ohne dass ihr das tiefe Nichts darunter etwas auszumachen schien. Dann sprang sie auf ein flaches Dach auf der anderen Seite, hoch über ihm. Es erschien ihm sehr weit weg.
»Scheiße.« Logen wagte sich auf den nächsten Balken, die Arme weit ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, und schob die Füße mühsam wie ein alter Mann voran. Sein Herz klopfte wie ein Schmiedehammer auf einen Amboss, seine Knie waren weich und wacklig von der anstrengenden Kletterei. Er versuchte das Hin-und-her-Laufen und Brüllen der Männer hinter ihm zu ignorieren und nur auf die unebene Oberfläche des Balkens zu gucken, aber wenn er hinuntersah, dann erblickte er gleichzeitig das Spinnennetz der Gerüststreben und die winzigen Steinfliesen des Platzes unter ihnen. Weit unter ihnen.
Mit einem Satz erreichte er ein Stück Tribünengang, das noch intakt geblieben war, und lief bis zu dessen äußerstem Ende. Er zog sich auf einen Balken über seinem Kopf, umklammerte ihn mit den Beinen und rutschte mit dem Hintern darauf entlang, während er unaufhörlich »ich bin noch am Leben« flüsterte. Die Maske, die ihm am nächsten war, hatte nun den Steg erreicht und lief darüber auf ihn zu.
Der Balken endete an einer der aufrechten Verstrebungen. Ein hölzernes Viereck, das vielleicht ein oder zwei Fuß breit war. Dann kam das Nichts. Zwei Schritte leere Luft. Dann ein weiteres Viereck hoch oben auf einem weiteren in die Höhe ragenden Mast, dann kam die Planke, die zu dem Flachdach führte. Ferro sah vom Geländer aus hinüber.
»Spring!«, schrie sie. »Spring, du verdammter Rosig!«
Er sprang. Er fühlte den Wind um sich. Sein linker Fuß landete auf dem hölzernen Viereck, aber er konnte nicht mehr bremsen. Sein rechter Fuß traf auf die Planke. Sein Knöchel verdrehte sich, und im Knie schnappte etwas ein. Die herumwirbelnde Welt schien zu fallen. Sein linker Fuß setzte auf, halb auf dem Holz und halb daneben. Die Planke wackelte. Er war haltlos in der Luft und fuchtelte mit Armen und Beinen. Es schien ewig zu dauern.
»Uff!« Mit der Brust prallte er gegen das Geländer. Seine Arme krallten sich daran fest, aber er bekam keine Luft mehr. Langsam rutschte er hinab, ganz langsam, einen Zoll nach dem anderen. Erst konnte er das Dach sehen, dann seine Hände, dann nichts weiter außer den Steinen vor seinem Gesicht. »Hilfe«, flüsterte er, aber es kam keine.
Es war ein langer Weg nach unten, das wusste er. Ein langer, langer Weg, und diesmal gab es kein Wasser, in das er fallen würde. Nur harten, flachen, tödlichen Stein. Er hörte etwas rasseln. Die Maske kam über die Planke hinter ihm heran. Er hörte, wie jemand etwas rief, aber das machte jetzt auch nichts mehr. Er rutschte noch ein wenig mehr hinab, und seine Hände grabschten auf dem bröckeligen Putz herum. »Hilfe!«, krächzte er, aber es war niemand da, der ihm hätte helfen können. Nur die Masken und Ferro, und bei keinem von ihnen vermutete er eine hilfreiche Ader.
Er hörte ein Klappern und einen verzweifelten Aufschrei. Ferro, die gegen die Planke trat, und die Maske, die daraufhin fiel. Der Schrei verebbte, es schien eine lange Zeit zu vergehen, dann wurde er von einem entfernten Aufprall beendet. Der Körper der Maske war am Boden zu Brei zerschmettert, und Logen wusste, dass er ihm bald Gesellschaft leisten würde. Man musste bei solchen Sachen realistisch sein. Dieses Mal würde er nirgendwo ans Ufer gespült werden. Seine Fingerspitzen rutschten ab, ganz langsam, als der Mörtel allmählich zerbröselte. Der Kampf, das Laufen, das Klettern hatten die ganze Kraft aus ihm herausgesaugt, und jetzt war nichts mehr übrig. Er fragte sich, was er wohl für ein Geräusch machen würde, wenn er hinunterstürzte. »Hilfe«, hauchte er.
Und starke Finger umschlossen seine Handgelenke. Dunkle, dreckige Finger. Er hörte ein Knurren, fühlte, dass jemand heftig an seinen Armen zog. Er stöhnte. Der Rand der Brüstung kam wieder in Sicht, jetzt sah er auch Ferro, die Zähne gefletscht, die Augen vor Anstrengung fast ganz zusammengekniffen, die Adern am Hals geschwollen und die Narbe leuchtend auf ihrem dunklen Gesicht. Er umfasste das Geländer mit seiner anderen Hand, zog seine Brust hinauf, und schließlich gelang es ihm, sein Knie darüber zu zwingen.
Sie zog ihn das restliche Stück hoch, und er rollte über die Brüstung und fiel auf der anderen Seite auf den Rücken, nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er starrte in den weißen Himmel. »Ich bin noch am Leben«, murmelte er nach einem kurzen Augenblick vor sich hin, als könne er es kaum glauben. Es hätte ihn nicht allzu sehr überrascht, wenn Ferro ihm auf die Hände getreten und seinen Fall noch beschleunigt hätte.
Ihr Gesicht erschien über ihm, gelbe Augen blickten ihn an, und sie zeigte voller Verachtung ihre Zähne. »Du blöder, schwerer Scheiß-Rosig!«
Sie wandte sich ab, schüttelte den Kopf, ging zu einer Mauer hinüber und kletterte sie empor. Schnell zog sie sich auf ein sanft geneigtes Dach hinauf. Logen sah ihr mit gequältem Gesichtsausdruck zu. Wurde sie denn niemals müde? Seine Arme waren aufgeschürft, geprellt, überall zerkratzt. Seine Beine taten ihm weh, und seine Nase blutete wieder. Alles tat weh. Er drehte sich um und blickte hinunter. Eine Maske sah ihn von der obersten Sitzreihe aus an, zwanzig Schritte entfernt. Andere liefen weiter unten herum und suchten einen Weg, um zu ihm hinaufzuklettern. Ganz weit unten auf dem gelben Ring aus Gras konnte er eine dünne schwarze Gestalt mit rotem Haar sehen, die mal hierhin, mal dorthin zeigte, dann auf ihn, und die offenbar Befehle gab.
Früher oder später würden sie einen Weg nach oben finden. Ferro hockte auf dem First des Daches über ihm, eine zerlumpte, dunkle Gestalt, die sich gegen den hellen Himmel abhob. »Bleib da, wenn du willst«, bellte sie, wandte sich um und war verschwunden. Logen stöhnte, als er aufstand, stöhnte, als er zu der Mauer hinüberschlurfte, seufzte, als er nach einem Halt für seine Hände suchte.
»Wo sind sie denn alle?«, verlangte Meister Langfuß zu wissen. »Wo ist mein erlauchter Dienstherr? Wo ist Meister Neunfinger? Wo ist die bezaubernde Frau Maljinn?«
Jezal sah sich um. Der kränkliche Lehrling war zu sehr in selbstmitleidiger Grübelei versunken, um zu antworten. »Ich weiß nicht, was mit den beiden ist, aber Bayaz ist im Bad.«
»Ich schwöre, nie traf ich einen Mann, der so versessen aufs Baden ist wie er. Ich hoffe, die anderen werden auch bald hier sein. Die Vorbereitungen sind abgeschlossen, wissen Sie! Das Schiff ist bereit. Die Laderäume sind bestückt. Es ist nicht meine Art, eine Abreise aufzuschieben. Wirklich nicht! Wir müssen mit der Flut auslaufen, sonst sitzen wir hier fest bis …« Der kleine Mann hielt inne und sah Jezal mit plötzlicher Besorgnis an. »Sie erscheinen erregt, mein junger Freund. Besorgt vielmehr. Kann ich, Bruder Langfuß, Ihnen irgendwie zu Diensten sein?«
Jezal war drauf und dran ihm zu sagen, er solle sich um seinen eignen Kram kümmern, aber er beschied sich mit einem gereizten »Nein, nein«.
»Ich möchte wetten, es geht um eine Frau. Liege ich da richtig?« Jezal sah ruckartig auf und fragte sich, wie der Mann das hatte erraten können. »Ihre Frau möglicherweise?«
»Nein! Ich bin nicht verheiratet! Es ist nichts dieser Art. Es ist vielmehr, äh …« Er suchte nach den richtigen Worten, um seine Lage zu beschreiben, und fand sie nicht. »Es ist nichts dieser Art, und Schluss!«
»Ah«, sagte der Wegkundige mit einem wissenden Grinsen. »Ah, eine verbotene Liebe also, eine heimliche Liebe, stimmt’s?« Zu seinem großen Ärger merkte Jezal, dass er rot wurde. »Ich habe recht, ich sehe es! Keine Frucht ist so süß wie jene, die man nicht kosten darf, nicht wahr, junger Freund? Na? Na?« Er ließ seine Augenbrauen auf eine, wie Jezal fand, höchst unappetitliche Art und Weise auf und nieder schnellen.
»Ich möchte wissen, wo die anderen beiden bleiben.« Das kümmerte Jezal zwar nicht im Geringsten, aber ihm war alles recht, um das Thema zu wechseln.
»Maljinn und Neunfinger? Ha«, lachte Langfuß und beugte sich zu ihm hinüber. »Vielleicht haben sie miteinander angebändelt, was, und haben ein geheimes Verhältnis, so wie Sie? Vielleicht haben sie sich irgendwohin verkrochen und geben sich natürlichen Trieben hin?« Er stupste Jezal in die Rippen. »Können Sie sich das vorstellen, die beiden? Das wäre doch was, oder? Ha!«
Jezal verzog das Gesicht. Von dem hässlichen Nordmann wusste er bereits, was für ein Tier er war, und nach dem ersten kurzen Eindruck, den er von dieser schrecklichen Frau gewonnen hatte, war sie vielleicht sogar noch schlimmer. Er konnte sich bei beiden keinen anderen natürlichen Trieb denken als Gewalt. Die Vorstellung war absolut ekelhaft. Er fühlte sich beschmutzt, wenn er auch nur darüber nachdachte.
Die Dächer schienen sich endlos weit zu erstrecken. Eins hoch, das andere wieder herunterklettern. Über Dachfirste laufen, einen unsicheren Fuß auf jeder Seite, sich an schmalen Vorsprüngen vorbeischieben, bröckelnde Mauern überwinden. Hin und wieder sah Logen kurz auf, warf einen Schwindel erregenden Blick über das Meer nasser Schieferplatten, gesprungener Ziegel, uralter Bleischindeln, bis hin zur weit entfernten Mauer des Agrionts, manchmal sogar bis zu der dahinterliegenden Stadt. Es wäre beinahe friedlich hier gewesen, hätte er Ferro nicht dabei gehabt, die sicheren Fußes schnell voran eilte, ihn beschimpfte und ihn weiterdrängte, sodass er keine Zeit hatte, über die Aussicht nachzudenken, ebenso wenig wie über die entsetzlichen Abgründe, an denen sie sich vorbeischlängelten, und die schwarzen Gestalten, die sicherlich unten immer noch nach ihnen suchten.
Einer ihrer Ärmel war bei der Schlägerei zuvor halb abgerissen worden, flatterte nun um ihr Handgelenk und behinderte sie beim Klettern. Verärgert riss sie ihn an der Schulternaht ab. Logen lächelte in sich hinein, als er daran denken musste, wie viel Mühe es Bayaz gekostet hatte, sie dazu zu überreden, ihre alten stinkenden Lumpen gegen neue Kleidung einzutauschen. Jetzt sah sie dreckiger aus denn je, ihr Hemd war durchgeschwitzt, blutverschmiert und voller Schmutz von den Dächern. Sie sah über ihre Schulter und bemerkte, dass er sie beobachtete. »Vorwärts, Rosig«, zischte sie.
»Du kannst doch gar keine Farben sehen, oder?« Sie kletterte weiter und überhörte das, schwang sich um einen rauchenden Schornstein und rutschte dann auf einen schmalen Vorsprung zwischen zwei Dächern. Logen kam ihr mühsam nach. »Überhaupt keine Farben.«
»Na und?«, gab sie unwillig zurück.
»Wieso nennst du mich dann Rosig?«
Sie sah sich zu ihm um. »Bist du rosig?«
Logen sah seine Unterarme an. Abgesehen von den marmorierten blaugrünen Flecken, den roten Kratzern und den blauen Adern waren sie ein wenig rosig, das musste er zugeben. Er zog eine Grimasse.
»Hab ich mir gedacht.« Sie verschwand zwischen den Dächern, tänzelte bis ans Ende des Gebäudes und warf einen Blick hinunter. Logen folgte ihr und beugte sich vorsichtig über die Mauer. In dem Gässchen unter ihnen gingen einige Leute. Ziemlich weit unter ihnen, und es war keine Möglichkeit zum Hinunterklettern zu sehen. Sie würden denselben Weg zurückgehen müssen, den sie gekommen waren. Ferro hatte sich schon wieder an ihm vorbeigedrängt.
Wind fasste von der Seite an Logens Gesicht. Ferros Fuß federte am Rand des Daches ab, dann war sie in der Luft. Ihm blieb der Mund offen stehen, als sie an ihm vorüberflog, mit durchgedrücktem Rücken und ausgestreckten Armen und Beinen. Sie landete auf einem Flachdach aus grauem Blei, über das Adern von grünem Moos liefen, überschlug sich einmal und kam dann wieder mühelos auf die Füße.
Logen fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und deutete auf seine Brust. Sie nickte. Das Flachdach lag etwa zehn Fuß unter ihnen, aber es waren ungefähr zwanzig Fuß leere Luft zwischen ihm und dem Dach, und es ging höllisch tief abwärts. Er trat langsam zurück, um sich einen möglichst langen Anlauf zu gönnen. Dann atmete er mehrere Male tief durch und schloss kurz die Augen.
Auf gewisse Weise wäre es perfekt, wenn er stürzte. Keine Lieder, keine Geschichten. Nur ein blutiger Klumpen auf irgendeiner Straße. Er fing an zu laufen. Seine Füße trommelten auf den Stein. Die Luft fuhr pfeifend in seinen Mund, zerrte an seinen zerrissenen Kleidern. Das Flachdach flog ihm entgegen. Er landete mit einem markerschütternden Aufprall, überschlug sich einmal, wie Ferro es auch getan hatte, dann stand er neben ihr. Er war immer noch am Leben.
»Ha!«, rief er. »Was sagst du dazu?«
Ein Knacken war zu hören, dann ein Krachen, und dann gab das Dach unter Logens Füßen nach. Erschrocken versuchte er, sich an Ferro festzuhalten, und sie rutschte hilflos hinterdrein. Für einen Übelkeit erregenden Moment rauschte er heulend durch die Luft, und seine Hände griffen ins Leere. Schließlich krachte er auf seinen Rücken.
Logen bekam Staub in die Kehle und musste husten, schüttelte sich, bewegte sich unter Schmerzen. Er war in einem Raum, der nach dem hellen Tag draußen tiefschwarz wirkte. Staub rieselte durch das ausgefranste Loch im Dach über ihnen. Unter ihm war etwas Weiches. Ein Bett. Es war halb zusammengebrochen, sackte zu einer Seite ab, die Decken waren mit Staub und Mörtelresten bedeckt. Quer über seinen Beinen lag etwas. Ferro. Er lachte gurgelnd vor sich hin. Endlich mal wieder mit einer Frau im Bett. Leider ganz anders, als er sich das vorgestellt hatte.
»Verdammter blöder Rosig!«, fauchte sie, rutschte von ihm hinunter und rannte zur Tür, während kleine Stückchen Holz und Putz von ihrem staubigen Rücken fielen. Sie rüttelte am Türknauf. »Abgeschlossen! Es ist …« Logen drängte sich an ihr vorbei, riss die Tür aus den Angeln und stürzte in den Flur dahinter.
Ferro sprang über ihn hinweg. »Los, Rosig, los!« Von der Tür war seitlich eine handliche Latte abgesplittert, aus der am unteren Ende noch ein paar Nägel herausguckten. Logen riss sie an sich. Er rappelte sich auf, lief den Korridor ein paar Schritte hinunter, kam zu einer Kreuzung. Zu beiden Seiten erstreckte sich ein halbdunkler Flur. Kleine Fenster warfen scharf abgegrenzte Lichtflecken auf den Bodenbelag. Er konnte nicht sagen, welchen Weg Ferro gewählt hatte. Er wandte sich nach rechts und ging auf eine Treppe zu.
In dem dunklen Gang regte sich eine Gestalt, die sich vorsichtig auf ihn zu bewegte. Lang und dünn wie eine schwarze Spinne in der Düsternis, die weich auf den Fußballen auftrat. Ein Lichtstrahl traf auf hellrotes Haar.
»Du schon wieder«, sagte Logen und wog die Latte in seiner Hand.
»So ist es. Ich schon wieder.« Er hörte ein helles Klingen, sah Metall aufblitzen. Dann fühlte er, wie die Latte seinen Fingern entwunden wurde, sah, wie sie über die Schulter der Frau segelte und hinter ihr klappernd auf den Boden schlug. Wieder ohne Waffe, aber sie ließ ihm nicht allzu lange Zeit, um sich darüber Sorgen zu machen. Sie hielt etwas in der Hand, ein Messer vielleicht, und warf es nach ihm. Er duckte sich, und es zischte an seinem Ohr vorbei, dann riss sie den anderen Arm hoch, und irgendetwas fuhr ihm über das Gesicht, kurz unterhalb des Auges. Er zuckte zurück und stieß gegen die Wand, während er herauszubekommen versuchte, welche Art von Zauberei sie hier gegen ihn anwandte.
Es war wie ein metallenes Kreuz, das Ding in ihrer Hand, drei gekrümmte Klingen, eine davon mit einem Haken am Ende. Von dem Ring am Griff hing eine Kette, die in ihrem Ärmel verschwand.
Das Messerding schoss hervor, verfehlte um einen Zoll Logens Gesicht, weil er sich rechtzeitig duckte, traf stattdessen die Wand und schlug Funken, dann kehrte es wohlberechnet in ihre Hand zurück. Sie ließ es fallen, sodass es sanft hin und her schaukelte und über den Boden schabte, während sie leichtfüßig gegen Logen vorrückte. Dann machte sie eine ruckartige Bewegung mit ihrem Handgelenk, das Ding schoss Logen wieder entgegen, schlitzte ihm, als er auszuweichen versuchte, die Haut über der Brust auf und ließ Blutstropfen gegen die Mauer spritzen.
Er sprang auf sie zu, aber seine ausgebreiteten Arme bekamen nichts zu fassen. Es gab ein rasselndes Geräusch, und er fühlte, wie ihm die Beine weggezogen wurden; sein Knöchel verdrehte sich schmerzhaft, als er sich in der Kette verfing und sie an ihm vorbeihuschte. Er lag auf dem Bauch, versuchte sich wieder aufzurichten. Die Kette glitt unter seinem Hals hindurch. Er konnte noch gerade seine Hand darunter schieben, bevor sie sich straffte. Die Frau war nun über ihm, er fühlte ihr Knie in seinem Rücken, hörte ihren Atem an der Maske vorbeizischen, während sie zog, die Kette wurde enger und enger und schnitt tief in seine Handfläche ein.
Logen knurrte, kam allmählich auf die Knie und dann unsicher auf die Füße. Die Frau hing noch auf seinem Rücken, ihr ganzes Gewicht zerrte an ihm, und sie riss mit aller Kraft an der Kette. Logen fuchtelte mit seiner freien Hand herum, aber er bekam sie nicht zu fassen und konnte sie auch nicht abschütteln – sie hing an ihm wie eine Klette. Er konnte kaum noch atmen. Taumelnd ging er ein paar Schritte, dann ließ er sich nach hinten fallen.
»Uuuh«, hauchte die Frau in sein Ohr, als sein schwerer Körper sie unter sich begrub. Für einen kurzen Moment ließ die Spannung der Kette nach, und das reichte Logen, um sie zu lockern und seinen Kopf herauszuziehen. Frei. Er rollte zur Seite und umklammerte mit der linken Hand den Hals der Frau, begann zu drücken. Sie stieß mit den Knien nach ihm, schlug ihn mit ihren Fäusten, aber sein Gewicht lastete noch immer auf ihr, und die Schläge waren nur schwach. Sie keuchten, schnauften und krächzten einander an, tierische Laute, die Gesichter nur wenige Zoll voneinander entfernt. Ein paar Blutstropfen rannen von dem Schnitt auf seiner Wange und fielen auf ihre Maske. Ihre Hand schoss hoch und versuchte sein Gesicht zu erwischen, um ihm den Kopf zurückzudrücken. Ihr Finger bohrte sich in seine Nase.
»Ahhh!«, schrie er. Schmerz schoss durch seinen Kopf. Er ließ sie los und stand taumelnd auf, eine Hand auf das Gesicht gepresst. Sie kroch davon, hustete, versetzte ihm einen Schlag in die Rippen, sodass er sich zusammenkrümmte, aber er hielt noch immer die Kette fest und riss nun mit aller Kraft daran. Ihr Arm schoss nach vorn, sie schrie auf und prallte gegen ihn, und sein Knie traf sie in den Rippen und ließ sie nach Luft schnappen. Logen packte sie hinten an ihrem Hemd, hob sie halb vom Boden hoch und warf sie dann die Treppe hinunter.
Sie überschlug sich, rollte und kugelte nach unten, bis sie kurz vor dem Ende der Stufen auf der Seite liegen blieb. Logen fühlte sich versucht, hinunterzulaufen und der Sache ein Ende zu machen, aber er hatte keine Zeit. Sie war sicherlich nicht allein gewesen. Er drehte sich um und hinkte, seinen verdrehten Knöchel verfluchend, in die andere Richtung davon.
Von allen Seiten stürmten Geräusche auf ihn ein, hallten von irgendwoher über den Flur. Entferntes Rasseln und Krachen, Rufe und Schreie. Er sah ins Dunkel, humpelnd, nass geschwitzt, eine Hand gegen die Wand gepresst. Vorsichtig spähte er um eine Ecke, um zu sehen, ob die Luft rein war. Er fühlte etwas Kaltes an seinem Hals. Ein Messer.
»Noch am Leben?«, flüsterte ihm eine Stimme ins Ohr. »Du stirbst nicht so leicht, was, Rosig?« Ferro. Langsam schob er ihren Arm weg.
»Wo hast du das Messer her?« Er wünschte, er hätte auch eins.
»Hat er mir gegeben.« In den Schatten nahe der Wand lag eine zusammengekrümmte Gestalt, der Bodenbelag war mit dunklem Blut getränkt. »Hier lang.«
Ferro schlich den Flur hinunter, suchte Deckung in der Dunkelheit. Immer noch hörte er die Geräusche, unter ihnen, neben ihnen, überall um sie herum. Sie krochen eine Treppe hinunter, in einen düsteren Korridor, der mit dunklem Holz vertäfelt war. Ferro sprang von einem Schatten zum nächsten und kam schnell voran. Logen konnte ihr nur nachhumpeln, er zog ein Bein nach und versuchte nicht aufzuschreien, wenn er das Gewicht auf den verletzten Fuß verlagern musste.
»Da! Das sind sie!« Gestalten weiter hinten auf dem dunklen Flur. Er wandte sich um und wollte losrennen, aber Ferro streckte den Arm aus. Da kamen noch mehr aus der anderen Richtung. Links war eine große Tür, die einen Spalt breit offen stand.
»Hier hinein!« Logen schob sich hindurch, und Ferro huschte hinterdrein. Innen standen einige große Möbel, darunter ein Geschirrschrank, dessen oberer Teil aus Regalen bestand, auf denen Teller aufgereiht worden waren. Logen schnappte ihn sich an einer Seite und schob ihn vor die Tür, wobei einige der Teller herunterkrachten und auf dem Boden in Stücke zersprangen. Er lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Das würde sie aufhalten, zumindest für eine Weile.
Ein großer Raum mit hoher, gewölbter Decke. Zwei breite Fenster nahmen den größten Teil einer der holzgetäfelten Wände ein, ihnen gegenüber befand sich ein großer gemauerter Kamin. Dazwischen stand ein langer Tisch mit zehn Stühlen auf jeder Seite, gedeckt für eine Mahlzeit, komplett mit Besteck und Kerzenleuchtern. Ein großes Esszimmer, und es gab nur einen Weg hinein. Oder hinaus.
Logen hörte hinter der Tür gedämpfte Rufe. Der große Schrank erzitterte hinter seinem Rücken. Ein weiterer Teller fiel klappernd von dem Brett, auf dem er gestanden hatte, traf auf seine Schulter und zerbarst auf den Steinfliesen in viele kleine Stücke.
»Ein toller Plan, verdammte Scheiße«, zischte Ferro. Logens Füße rutschten weg, während er versuchte, den schwankenden Schrank gegen die Tür gedrückt zu halten. Sie eilte zum nächsten Fenster, kratzte an den Metallrähmchen, die die kleinen Scheiben einfassten, versuchte, ihre Fingernägel irgendwo hineinzubohren, aber es gab keinen Weg hinaus.
Logens Blick blieb an etwas hängen. Ein altes Langschwert, das als Wandschmuck über dem Kamin hing. Eine Waffe. Er schob den Schrank ein letztes Mal gegen die Tür und eilte dann darauf zu, packte den langen Griff mit beiden Händen und riss es aus seiner Halterung. Es war stumpf wie ein Pflug, die schwere Klinge rostfleckig, aber noch sehr solide. Ein Hieb mit diesem Schwert würde einen Mann nicht in zwei Hälften spalten, aber ihn auf alle Fälle zu Boden schlagen. Er wandte sich gerade rechtzeitig wieder um, als der Schrank nach vorn kippte und Geschirr über den ganzen Steinboden flog.
Dahinter drängten schwarzgekleidete Gestalten in den Raum, Maskierte. Der erste hielt eine hässlich aussehende Axt in Händen, der nächste ein Schwert mit kurzer Klinge. Ihm folgte ein Kerl mit dunkler Haut und goldenen Ringen in den Ohren. In jeder Hand trug er einen langen, gebogenen Dolch.
Diese Waffen waren nicht dafür gedacht, sie einem über den Kopf zu schlagen, es sei denn, um das Hirn herausspritzen zu lassen. Offenbar hatten sie es aufgegeben, Gefangene machen zu wollen. Das waren Mörderwaffen, zum Töten gedacht. Nun, umso besser, sagte Logen zu sich selbst. Wenn man eins von Logen Neunfinger sagen konnte, dann, dass er ein Mörder war. Er betrachtete die schwarz maskierten Männer, die über den umgekippten Schrank kletterten und dann vorsichtig an der gegenüberliegenden Wand Aufstellung nahmen. Er sah zu Ferro hinüber, die mit gebleckten Zähnen und gelb funkelnden Augen mit dem Messer in der Hand dastand. Er befühlte den Griff des gestohlenen Schwerts – schwer und brutal. Endlich mal das richtige Werkzeug für diese Art von Arbeit.
Wild brüllend sprang er dem nächsten Maskierten entgegen, das Schwert hoch über dem Kopf erhoben. Der Mann versuchte auszuweichen, aber die Klinge erwischte ihn an der Schulter und brachte ihn ins Trudeln. Ein anderer tauchte hinter ihm auf, schlug mit seiner Axt um sich, und Logen versuchte sich wegzuducken; er stöhnte auf, als er dabei den verletzten Knöchel belastete.
Heftig schlug er mit seinem langen Schwert um sich, aber es waren zu viele. Einer war auf den Tisch gestiegen und hatte sich so zwischen ihn und Ferro gedrängt. Etwas traf ihn im Rücken, und er stolperte, drehte sich, rutschte aus, hieb mit dem Schwert um sich und traf etwas Weiches. Jemand schrie, aber nun ging schon wieder der Kerl mit der Axt auf ihn los. Um ihn herum herrschte ein Durcheinander aus Masken und Stahl, aufeinander schlagenden, krachenden Waffen, Fluchen und Schreien, abgehacktem Atmen.
Logen schwang das Schwert, aber er war so müde, so zerschlagen, so verletzt. Das Schwert war schwer und wurde mit jedem Schlag schwerer. Die Masken tänzelten aus dem Weg, und die rostige Klinge knallte gegen die Wand, schlug ein großes Stück aus der Holzvertäfelung und biss in den Putz dahinter, sodass sie durch den harten Aufprall beinahe aus seiner Hand geschleudert worden wäre.
»Uff«, keuchte er, als ihm ein Mann das Knie in den Magen rammte. Irgendetwas traf ihn am Bein, und beinahe wäre er gestürzt. Er konnte jemanden hinter sich brüllen hören, aber es schien weit weg zu sein. Seine Brust schmerzte, in seinem Mund war ein bitterer Geschmack. Er war überall mit Blut besudelt. Überall. Und er konnte kaum noch atmen. Die Masken rückten vor, weiter und weiter und weiter, lächelnd und den Sieg vor Augen. Logen wich bis an den Kamin zurück, rutschte aus und fiel auf ein Knie.
Alle Dinge gehen einmal zu Ende.
Er konnte das alte Schwert nicht mehr heben. Es war nicht mehr genug Kraft in ihm. Nichts. Der Raum begann zu verschwimmen.
Alle Dinge gehen einmal zu Ende, aber manche liegen nur still da, vergessen …
Logen spürte ein kaltes Gefühl im Magen, ein Gefühl, das er seit langer Zeit nicht mehr gehabt hatte. »Nein«, flüsterte er, »ich bin frei von dir.« Aber es war zu spät. Zu spät …
… Es war Blut an ihm, aber das war gut. Es war immer Blut an ihm. Aber er kniete, und das war falsch. Der Blutige Neuner kniete vor niemandem. Seine Finger suchten nach den Fugen zwischen den Steinen des Kamins, krallten sich fest wie Baumwurzeln, zogen ihn hoch. Sein Bein schmerzte und er lächelte. Schmerz war der Brennstoff, der die Feuer nährte. Etwas bewegte sich vor ihm. Maskierte Männer. Feinde.
Leichen, demnach.
»Bist du verletzt, Nordmann?« Die Augen dessen, der ihm am nächsten stand, funkelten über die Maske hinweg, die leuchtende Klinge seiner Axt tanzte in der Luft. »Willst du schon aufgeben?«
»Verletzt?« Der Blutige Neuner warf den Kopf zurück und lachte. »Ich zeig dir, was verletzt bedeutet!« Er kam nach vorn, glitt unter der Axt durch, schlüpfrig wie ein Fisch im Wasser, und schwang die schwere Klinge in einem niedrigen Bogen. Sie krachte gegen das Knie des Mannes und drückte es nach hinten durch, fuhr wie eine Sichel in sein anderes Bein und riss es unter ihm weg. Der Maskierte stieß einen unterdrückten Schrei aus, als er sich auf den Fliesen wieder und wieder um sich selbst drehte und die zerschmetterten Beine haltlos zuckten.
Etwas bohrte sich in den Rücken des Blutigen Neuners, aber es war kein Schmerz. Es war ein Zeichen. Eine Botschaft in einer Geheimsprache, die nur er verstehen konnte. Es sagte ihm, wo der nächste tote Mann stand. Er wirbelte herum, und das Schwert folgte ihm in einem wilden, schönen, unaufhaltsamen Halbkreis. Es krachte gegen den Bauch seines Gegners, ließ den zusammenklappen, holte ihn von den Beinen und schleuderte ihn durch die Luft. Er prallte von der Wand neben dem Kamin zurück und krümmte sich auf dem Boden zusammen, während der Putz auf ihn niederrieselte.
Ein Messer kam zischend angeflogen und bohrte sich mit dumpfem Aufschlag in die Schulter des Blutigen Neuners. Der Schwarze, der die Ringe in den Ohren trug. Er hatte es geworfen. Er war auf der anderen Seite des Tisches, lächelnd und mit seinem Wurf zufrieden. Ein schrecklicher Fehler. Der Blutige Neuner legte nun auf ihn an. Ein weiteres Messer flog an ihm vorüber und traf scheppernd auf die Wand. Er sprang über den Tisch, und das Schwert folgte ihm.
Der schwarze Mann wich dem ersten Hieb aus und auch dem zweiten. Schnell und berechnend schlau war er, aber nicht schlau genug. Der dritte Schlag traf seine Flanke. Nur eine kurze Berührung. Nur ein Hauch. Er zertrümmerte ihm lediglich die Rippen und ließ ihn schreiend in die Knie brechen. Der letzte Hieb aber war dann besser, ein Kreis aus Fleisch und Eisen, das in seinen Mund schnitt, ihm fast den Kopf abriss und Blut gegen die Wände spritzen ließ. Der Blutige Neuner zog das Messer aus seiner Schulter und warf es auf den Boden. Blut lief aus der Wunde, durchtränkte sein Hemd und hinterließ einen großen, schönen, warmen roten Fleck.
Er fiel und verblich, wie Herbstlaub von einem Baum, kugelte über den Boden. Ein anderer Mann sprang vor, ließ an der Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte, ein Schwert mit kurzer Klinge durch die Luft pfeifen. Bevor er sich umdrehen konnte, war der Blutige Neuner über ihm, und seine linke Hand hatte die Fäuste des Schwertträgers schlangengleich gepackt. Er wehrte sich und versuchte sich zu befreien, aber es war sinnlos. Der Griff des Blutigen Neuners war so stark wie die Wurzeln der Berge, gnadenlos wie die Gezeiten. »Sie schicken solche wie dich, um gegen mich zu kämpfen?« Der Nordmann schleuderte den Mann gegen die Wand und drückte zu, quetschte ihm die Hände auf dem Griff seiner Waffe, bis die kurze Klinge geradewegs auf seine Brust deutete. »Eine verdammte Beleidigung!«, brüllte er und durchbohrte seinen Gegner mit dessen eigener Klinge.
Der Mann schrie und schrie hinter seiner Maske, und der Blutige Neuner lachte und drehte die Klinge in der Wunde um. Logen hätte er vielleicht leid getan, aber Logen war weit weg, und der Blutige Neuner hatte nicht mehr Mitleid als der Winter. Sogar noch weniger. Er hieb, stach zu und lächelte, und die Schreie erstickten und erstarben; dann ließ er den Leichnam auf die kalten Steine sinken. Seine Finger waren blutverschmiert, und er wischte sie an seiner Kleidung ab, an seinen Armen, an seinem Gesicht – so, wie es sein sollte.
Der am Kamin saß nun da, völlig erschlafft, den Kopf zurückgelehnt, Augen wie nasse Steine, und starrte an die Decke. Wieder Teil der Erde. Der Blutige Neuner zerteilte ihm mit einem Schwertstreich das Gesicht, nur um ganz sicher zu gehen. Besser, man sorgte für klare Verhältnisse. Der mit der Axt kroch auf die Tür zu, zog die verdrehten Beine über die Fliesen nach, keuchte und wimmerte dabei die ganze Zeit.
»Ruhe jetzt.« Die schwere Klinge krachte hinten auf den Schädel des Mannes und verspritzte sein Blut über den Steinfußboden.
»Mehr«, flüsterte er, und der Raum drehte sich um ihn, als er nach dem nächsten suchte, den er töten konnte. »Mehr!«, brüllte er und lachte, und die Wände lachten, und die Leichname lachten mit ihm. »Wo sind die anderen?«
Er sah eine dunkelhäutige Frau mit einer blutenden Schnittwunde im Gesicht und einem Messer in der Hand. Sie sah anders aus als die anderen, aber sie kam ihm dennoch gerade recht. Er lächelte, schlich voran und hob das Schwert mit beiden Händen. Sie sprang zur Seite, beobachtete ihn, achtete darauf, den Tisch zwischen ihnen zu behalten, mit harten gelben Augen wie ein Wolf. Eine winzige Stimme schien ihm zu sagen, dass sie auf seiner Seite war. Schade.
»Nordländer, was?«, fragte eine riesenhafte Gestalt von der Tür.
»Ja, wer will das wissen?«
»Der Steinbeißer.«
Er war wirklich groß, dieser Kerl, sehr groß und hart und wild. Das konnte man ihm ansehen, als er den Schrank mit seinem großen Stiefel zur Seite schob und knirschend über die zerbrochenen Teller auf ihn zukam. Aber den Blutigen Neuner beeindruckte das nicht – er war dafür geschaffen, solche Männer zu bezwingen. Tul Duru Donnerkopf war größer gewesen. Rudd Dreibaum härter. Der schwarze Dow zweimal so wild. Der Blutige Neuner hatte sie bezwungen, sie und viele weitere. Je größer, härter, wilder seine Gegner waren, desto schlimmer wurde es für sie, wenn sie besiegt wurden.
»Steinscheißer?«, lachte der Blutige Neuner. »Na und, du Arschloch? Du bist der Nächste, der stirbt, nicht mehr und nicht weniger!« Er reckte die linke Hand empor, bespritzt mit rotem Blut, spreizte drei Finger weit auseinander und grinste durch die Lücke hindurch, wo einmal der Mittelfinger gewesen war, vor langer Zeit. »Sie nennen mich den Blutigen Neuner.«
»Pah!« Der Steinbeißer riss sich die Maske herunter und warf sie zu Boden. »Lügner! Im Norden gibt es viele Männer, die einen Finger verloren haben. Sie sind nicht alle Neunfinger!«
»Nein. Nur ich.«
Das große Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Du verdammter Scheiß-Lügner! Du glaubst, du könntest dem Steinbeißer Angst einjagen mit einem Namen, der nicht dein eigener ist? Ich werde dir ein neues Arschloch einbrennen, du Wurm! Ich zeichne dich mit dem blutigen Kreuz! Ich werde dich wieder zu Schlamm werden lassen, du verdammter, feiger Lügner!«
»Mich töten?« Der Blutige Neuner lachte noch lauter als zuvor. »Ich bin es, der hier tötet, du Narr!«
Damit war das Reden vorbei. Steinbeißer kam mit einer Axt in einer und einem Streitkolben in der anderen Hand auf ihn zu, große, schwere Waffen, die er jedoch mit Leichtigkeit schwang. Der Streitkolben sauste durch die Luft, riss ein großes Loch in das Glas eines der Fenster. Die Axt fuhr herab, spaltete eine Bohle des Tisches, ließ die Teller in die Luft springen und die Kerzenleuchter umfallen. Der Blutige Neuner wich geschickt aus, hüpfend wie ein Frosch, wartete auf den richtigen Zeitpunkt.
Der Streitkolben verfehlte seine Schulter um einen Zoll, während er sich über den Tisch rollte, die Waffe krachte auf eine der großen Steinfliesen auf dem Boden, spaltete sie in der Mitte, sodass die Splitter durch die Luft wirbelten. Steinbeißer brüllte, schwang seine Waffen, zertrümmerte einen Stuhl, hieb ein großes Stück Stein aus dem Kamin, schlug ein tiefes Loch in die Wand. Seine Axt blieb für einen kurzen Augenblick im Holz stecken, und das Schwert des Blutigen Neuners zischte heran, brach den Stiel in splitternde Hälften und ließ dem Steinbeißer nur noch einen abgebrochenen Stock in seiner Pranke. Er schleuderte ihn von sich und hob den Streitkolben, schwang ihn mit noch mehr Kraft und brüllte dabei außer sich vor Wut.
Als sich die Waffe senkte, traf sie das Schwert des Blutigen Neuners kurz unterhalb des Kopfes und riss sie aus der großen Hand. Sie wirbelte durch die Luft und fiel mit lautem Krachen in eine Ecke, aber der Steinbeißer rückte vor und breitete seine großen Hände aus. Er war zu nahe, als dass sein Gegner das große Schwert hätte einsetzen können. Steinbeißer lächelte, als sich seine langen Arme um den Blutigen Neuner schlossen, ihn umfassten und festhielten. »Hab ich dich!«, brüllte er und drückte in bäriger Umarmung zu.
Ein schlimmer Fehler. Er hätte besser ein brennendes Feuer umarmt.
Knack!
Die Stirn des Blutigen Neuners krachte gegen seinen Mund. Der Griff des Steinbeißers ließ ein wenig nach, und der Neuner arbeitete mit seinen Schultern, bis er mehr Platz hatte, wühlte und drängte und wand sich wie ein Maulwurf in seinem Gang. Er riss den Kopf so weit zurück, wie es ging. Ein Bock beim Angriff. Die zweite Kopfnuss ließ die flache Nase des Steinbeißers aufplatzen. Er schnaufte, und die langen Arme ließen noch ein wenig lockerer. Die dritte brach ihm den Backenknochen. Die Arme sanken herunter. Die vierte zerschlug ihm den Kiefer. Jetzt war es der Blutige Neuner, der ihn festhielt, lächelnd, während er seine Stirn noch einmal gegen das zerschmetterte Gesicht schleuderte. Ein klopfender Specht, tack, tack, tack. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Die berstenden Schädelknochen hämmerten einen hübschen Rhythmus. Bei neun ließ er den Steinbeißer fallen. Der große Mann sackte zur Seite und brach auf dem Boden zusammen. Blut strömte aus seinem zerstörten Gesicht.
»Wie schmeckt dir das?«, lachte der Blutige Neuner, wischte sich Blut aus den Augen und verpasste dem matt daliegenden Körper des Steinbeißers noch ein paar Tritte. Der Raum begann sich um ihn zu drehen, verschwamm um ihn herum. Lachen. Lachen. »Wie … verdammt noch mal … schmeckt …« Er taumelte, blinzelte, schläfrig, flackerndes Lagerfeuer. »Nein … noch nicht …« Er fiel auf die Knie. Noch nicht. Es gab noch mehr zu tun, immer noch mehr.
»Noch nicht«, fauchte er, aber seine Zeit war vorüber …
… Logen schrie. Er stürzte. Schmerzen, überall. Seine Beine, seine Schulter, sein Kopf. Er heulte, bis er Blut in die Kehle bekam, dann hustete er, keuchte und wälzte sich herum, kroch über den Boden. Die Welt war verschwommen, verwischt. Er würgte Blut hoch und ließ es aus dem Mund rinnen, lange genug, um wieder mit dem Geheul zu beginnen. Eine Hand schloss sich über seinen Mund. »Hör auf mit dem verdammten Gewimmer, Rosig! Sofort, hast du mich verstanden?« Eine Stimme, die drängend in sein Ohr flüsterte. Eine fremde, harte Stimme. »Hör auf mit dem Geheul, oder ich lass dich zurück, kapiert? Du hast nur eine Wahl!« Die Hand löste sich. Die Luft schoss in einem hohen, klagenden Stöhnen zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen heraus, nun aber nicht mehr so laut.
Finger packten sein Handgelenk, zogen seinen Arm hoch. Er stöhnte auf, als die Bewegung seine Schulter erfasste. Er wurde über etwas Hartes geschleift. Folter. »Hoch, du Arschloch, ich kann dich nicht tragen! Hoch, sofort! Du hast nur eine Wahl, kapiert?«
Er wurde langsam hochgehievt, versuchte, mit den Beinen mitzuhelfen. Der Atem pfiff und rasselte in seiner Kehle, aber er schaffte es. Linker Fuß, rechter Fuß. Ganz leicht. Sein Knie knickte ein, Schmerz durchfuhr sein Bein. Er schrie wieder auf und stürzte, kroch über den Boden. Am besten einfach liegen blieben. Seine Augen schlossen sich.
Etwas traf ihn hart im Gesicht, wieder und wieder. Er stöhnte. Dann schob sich etwas unter seine Achsel und begann, ihn aufzurichten.
»Los, Rosig! Hoch mit dir, oder ich hau ab. Du hast nur eine Wahl, kapiert?«
Einatmen, ausatmen. Linker Fuß, rechter Fuß.
Langfuß war angespannt und besorgt, trommelte zunächst mit den Fingern auf der Lehne seines Sessels herum, zählte dann etwas an ihnen ab, schüttelte den Kopf und jammerte wegen der Gezeiten herum. Jezal blieb still, hoffte allen Erwartungen zum Trotz, dass die zwei Wilden vielleicht im Stadtgraben ertrunken waren und dass damit die ganze Angelegenheit abgesagt würde. Es wäre dann immer noch genug Zeit, nach Angland zu reisen. Vielleicht war noch nicht alles zu spät …
Er hörte, wie sich hinter ihm eine Tür öffnete, und seine Träume zerplatzten. Wieder überkam ihn das Elend, wurde aber diesmal von Überraschung und Entsetzen abgelöst, als er sich umdrehte.
Zwei zerlumpte Gestalten standen in der Tür, blut- und dreckverschmiert. Teufel womöglich, aus irgendeinem Tor der Hölle entflohen. Die gurkhisische Frau fluchte, als sie ins Zimmer trat. Neunfinger hatte einen Arm um ihre Schulter geschlungen, der andere hing herunter, Blut tropfte von seinen Fingerspitzen, der Kopf war ihm auf die Brust gesunken.
Sie wankten ein oder zwei Schritte weiter, dann verfing sich der stolpernde Fuß des Nordmanns an einem Stuhlbein, und sie stürzten zu Boden. Die Frau verzog verächtlich das Gesicht und schüttelte seinen schlaffen Arm ab, schob ihn weg und richtete sich wieder auf. Neunfinger wälzte sich langsam herum, stöhnte; eine tiefe Wunde klaffte in seiner Schulter und überströmte den Teppich mit Blut. Es war alles rot darin, wie frisches Fleisch in einer Metzgerei. Jezal schluckte, entsetzt und fasziniert zugleich.
»Beim Atem Gottes!«
»Sie haben uns verfolgt.«
»Was?«
»Wer hat euch verfolgt?«
Eine Frau huschte vorsichtig durch den Türrahmen, rothaarig, ganz in schwarz gekleidet und mit einer Maske über dem Gesicht. Eine Praktikalin, meldete Jezals betäubtes Hirn, aber er begriff nicht, wieso sie so zerschlagen aussah oder wieso sie so humpelte. Noch jemand drängte sich hinter ihr heran, ein Mann, der ein großes Schwert trug.
»Du kommst mit uns«, sagte die Frau.
»Versuch’s doch!« Maljinn spuckte sie an. Jezal sah mit Entsetzen, dass sie plötzlich ein Messer in den Händen hielt, noch dazu ein blutiges. Sie konnte doch nicht bewaffnet sein! Doch nicht hier!
In diesem Augenblick dämmerte ihm ganz langsam, dass er einen Degen hatte. Aber natürlich. Er fasste ungeschickt an den Knauf und zog die Waffe, in der unbestimmten Absicht, die gurkhisische Teufelin mit der flachen Seite der Klinge auf den Hinterkopf zu schlagen, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnte. Die Inquisition sollte sie seinetwegen gern haben, und die anderen auch. Leider verstanden die Praktikalen seine Geste falsch.
»Fallen lassen«, zischte die rothaarige Frau und funkelte ihn aus zusammengekniffenen Augen an.
»Das werde ich nicht tun!«, gab Jezal zurück, den es unglaublich beleidigte, dass sie offenbar glaubte, er sei auf der Seite dieser Schurken.
»Ähm …«, machte Quai.
»Aaaah«, stöhnte Neunfinger, griff ein blutverschmiertes Stück Teppich und zog es zu sich her, wobei der Tisch ein Stückchen über den Boden hüpfte.
Ein dritter Praktikal schob sich durch die Tür, an der rothaarigen Frau vorbei, mit einem schweren Streitkolben in der behandschuhten Hand. Eine unangenehm aussehende Waffe. Jezal stellte sich unwillkürlich vor, welche Auswirkungen sie auf seinen Schädel haben mochte, wenn sie im Zorn geschwungen wurde. Unsicher packte er den Knauf seines Degens etwas fester und spürte den schrecklichen Wunsch, jemand möge ihm sagen, was nun zu tun sei.
»Du kommst mit uns«, sagte die Frau wieder, als ihre beiden Freunde langsam ins Zimmer vorrückten.
»Ach du große Güte«, murmelte Langfuß und suchte Deckung hinter dem Tisch.
Dann wurde die Tür zum Bad mit so viel Macht aufgestoßen, dass sie gegen die Wand knallte. Da stand Bayaz, völlig nackt, und Seifenwasser tropfte an ihm herunter. Sein langsamer Blick glitt zunächst über Ferro, die mit zornerfülltem Gesicht und gezücktem Messer dastand, dann über Langfuß, der sich hinter dem Tisch versteckte, über Jezal mit seinem gezogenen Degen, Quai, der mit offenem Mund dastand, den wie ein Trümmerfeld daliegenden Neunfinger und schließlich über die drei schwarz maskierten Gestalten mit ihren einsatzbereiten Waffen.
Es entstand eine bedeutungsschwere Pause.
»Was, verdammt noch mal, geht hier vor?«, donnerte er und marschierte ins Zimmer. Das Wasser tropfte von seinem Bart, rann durch die gekräuselten weißen Haare auf seiner Brust und an seinen frei hängenden Nüssen herab. Es war ein seltsamer Anblick. Ein nackter alter Mann, der drei Praktikale der Inquisition herausforderte. Albern, aber niemand lachte. Es war etwas eigentümlich Erschreckendes an ihm, selbst ohne seine Kleidung und in derart tropfnassem Zustand. Es waren die Praktikalen, die vorsichtig rückwärts gingen und verwirrt, sogar verängstigt wirkten.
»Du kommst mit uns«, wiederholte die Frau, obwohl in ihrer Stimme nun ein leicht zweifelnder Ton mitschwang. Einer ihrer Begleiter trat Bayaz vorsichtig entgegen.
Jezal spürte ein komisches Gefühl in seinem Bauch. Ein Ziehen, ein Saugen, ein leeres, übles Gefühl. Es war, als stünde er wieder auf der Brücke, im Schatten des Hauses des Schöpfers. Nur schlimmer. Das Gesicht des Zauberers hatte sich furchtbar verhärtet. »Meine Geduld ist zu Ende.«
Wie eine Flasche, die aus großer Höhe herabfällt, zerbarst der vorderste Praktikal. Es gab keinen Donnerschlag, nur ein leises, morastiges Geräusch. Eben noch war er mit erhobenem Schwert auf den alten Mann zugegangen, unversehrt. Im nächsten Augenblick hatte er sich in tausend kleine Stückchen aufgelöst. Ein nicht genau zu bestimmendes Teil von ihm prallte mit feuchtem Klatschen gegen den Putz neben Jezals Kopf. Das Schwert fiel rasselnd zu Boden.
»Was haben Sie gesagt?«, grollte der Erste der Magi.
Jezals Knie zitterten. Ihm stand der Mund offen. Er fühlte sich schwach, von Übelkeit gepackt und innerlich fürchterlich leer. Sein Gesicht war blutbespritzt, aber er wagte nicht, sich die Tropfen abzuwischen. Stattdessen starrte er den nackten Alten an und konnte nicht glauben, was er da sah. Ihm war, als hätte er miterlebt, wie sich ein freundlicher alter Possenreißer binnen eines kurzen Augenblicks in einen brutalen Mörder verwandelt hatte, ohne auch nur im Geringsten zu zögern.
Die rothaarige Frau stand einen Augenblick da, bespritzt mit Blut und kleinen Fleisch- und Knochenstückchen, die Augen tellergroß aufgerissen, dann bewegte sie sich langsam rückwärts auf die Tür zu. Der andere Maskierte folgte ihr und stolperte in seiner Eile, den Raum zu verlassen, beinahe über Neunfingers Fuß. Alle anderen blieben bewegungslos stehen, wie Statuen. Jezal hörte eilige Schritte auf dem Gang draußen; die Praktikalen rannten um ihr Leben. Er beneidete sie beinahe. Sie, so schien es, konnten fliehen. Er war in diesem Albtraum gefangen.
»Wir müssen aufbrechen, sofort!«, bellte Bayaz und verzog wie von Schmerzen geplagt das Gesicht. »Sobald ich meine Hosen angezogen habe. Helfen Sie ihm, Langfuß!«, rief er dem Wegkundigen im Gehen zu. Der war tatsächlich einmal sprachlos und blinzelte nur. Dann kam er hinter dem Tisch hervor und beugte sich über den bewusstlosen Nordmann, riss ein Stück seines zerfetzten Hemdes ab, um es als Verband herzunehmen. Stirnrunzelnd hielt er inne, als sei er sich nicht sicher, wo er anfangen sollte.
Jezal schluckte. Er hielt den Degen noch in der Hand und schien nicht die nötige Kraft aufbringen zu können, um ihn wieder wegzustecken. Stückchen des unglücklichen Praktikalen waren über den ganzen Raum verteilt, klebten an den Wänden, an der Decke, an den Menschen. Jezal hatte noch nie zuvor jemanden sterben sehen, schon gar nicht auf derart schreckliche und unnatürliche Weise. Vermutlich hätte er entsetzt sein sollen, dachte er, aber stattdessen fühlte er eine geradezu überwältigende Erleichterung. Seine bisherigen Sorgen waren zu Kleinigkeiten geschrumpft. Er zumindest war noch am Leben.