VIELE GÖTTER

Ferro sah den großen Rosig mit zusammengekniffenen Augen an, und er starrte zurück. So ging es nun schon eine ganze Weile, nicht die ganze Zeit zwar, aber doch die meiste. Anstarren. Sie waren alle hässlich, diese weichen, weißen Geschöpfe, aber dieses hier war etwas Besonderes.

Hässlich.

Sie wusste, dass sie Narben hatte und wettergegerbte Haut von Sonne und Wind, die durch die Jahre in der Wildnis zusätzlich gelitten hatte, aber die blasse Haut von dem da sah aus, als sei sie ein Schild, der des Öfteren in der Schlacht eingesetzt worden war – zerschlagen, zerfurcht, zerrissen, zerbeult. Es war beinahe überraschend zu sehen, dass die Augen in einem so mitgenommenen Gesicht noch so lebendig waren, aber das waren sie, und sie beobachteten Ferro.

Sie war zu dem Schluss gekommen, dass er gefährlich war.

Nicht nur groß, sondern stark. Brutal stark. Vielleicht zweimal so schwer wie sie, und sein breiter Hals bestand nur aus Sehnen. Sie konnte die Kraft fühlen, die von ihm ausging. Es hätte sie nicht überrascht, wenn er sie mit einer Hand hätte hochhalten können, aber das bereitete ihr nicht allzu viele Sorgen. Er hätte sie dazu erst einmal erwischen müssen. Größe und Kraft machen einen Mann oft langsam.

Langsam und gefährlich, das geht nicht zusammen.

Narben machten ihr ebenfalls keine Angst. Sie bedeuteten nur, dass er in viele Kämpfe verwickelt gewesen war, sagten aber nichts darüber aus, dass er sie auch gewonnen hatte. Nein, es lag eher an anderen Dingen. Die Art, wie er saß – ruhig, aber nicht völlig entspannt. Allzeit bereit. Geduldig. Die Art, wie seine Augen hin und her glitten – schlau, vorsichtig, erst zu ihr, dann über alles andere in diesem Zimmer, dann wieder zurück zu ihr. Dunkle Augen, beobachtend, nachdenklich. Abschätzend. Dicke Adern auf seinen Handrücken, aber lange Finger, kluge Finger, mit Dreckrändern unter den Nägeln. Ein Finger fehlte. Ein weißer Stummel. Ihr gefiel das alles überhaupt nicht. Roch nach Gefahr. Dem da würde sie nicht gern unbewaffnet gegenübertreten.

Aber sie hatte ihr Messer dem Rosig auf der Brücke gegeben. Dabei war sie kurz davor gewesen, ihn abzustechen, hatte sich aber in letzter Minute anders entschieden. Etwas in seinen Augen hatte sie an Aruf erinnert, bevor die Gurkhisen seinen Kopf auf einen Speer gespießt hatten. Traurig und gleichmütig, als ob er sie verstand. Als ob sie ein Mensch war und kein Ding. Im letzten Augenblick hatte sie sich überwunden und die Klinge weggegeben. Hatte zugelassen, dass man sie hierher führte.

Wie blöd!

Sie bereute das jetzt bitterlich, aber sie würde auf jede andere Art kämpfen, die ihr blieb, wenn sie musste. Die meisten Menschen erkennen nicht, dass die Welt voller Waffen ist. Dinge, die man werfen oder die man auf seine Feinde schleudern kann. Dinge, die man zerbrechen, oder Dinge, die man als Keulen verwenden kann. Gedrehte Tuchstücke, mit denen man andere erwürgen kann. Erde, die man seinen Feinden ins Gesicht werfen kann. Und wenn alles nichts nützte, würde sie ihm die Kehle aus dem Hals beißen. Sie zog ihre Lippen zurück und zeigte ihm ihre Zähne, um zu beweisen, dass sie das konnte, aber er achtete nicht darauf. Saß bloß da, sah ihr zu. Still, ruhig, hässlich und gefährlich.

»Scheiß-Rosigs«, zischte sie leise.

Der Dünne hingegen schien überhaupt nicht gefährlich zu sein. Kränklich und mit langem Haar wie eine Frau. Ungelenk und verlegen, fuhr sich dauernd mit der Zunge über die Lippen. Hin und wieder warf er ihr einen verstohlenen Blick zu, sah dann aber sofort weg, wenn sie finster zurückschaute, schluckte, und die klumpige Ausbuchtung an seinem Hals zuckte dann rauf und runter. Er schien verängstigt, keine Bedrohung, aber Ferro behielt auch ihn im Augenwinkel, während sie den großen Kerl ansah. Besser, ihn nicht völlig außer Acht zu lassen.

Das Leben hatte ihr beigebracht, stets auf Überraschungen gefasst zu sein.

Damit war nur noch der Alte übrig. Sie traute niemandem von diesen Rosigs, aber dem hier am allerwenigsten. Viele tiefe Furchen in seinem Gesicht, um die Augen, um die Nase. Grausame Furchen. Harte, schwere Knochen unter seinen Wangen. Große, breite Hände, weiße Härchen auf den Handrücken. Wenn sie einen der drei würde töten müssen, würde sie, so gefährlich der Große auch aussah, als Erstes den Kahlkopf angreifen. Er hatte den Blick eines Sklavenhändlers, wie er sie musterte, von oben bis unten. Ein kalter Blick, der abschätzte, was sie wert war.

Arschloch.

Bayaz hatte Yulwei ihn genannt, und die beiden schienen sich gut zu kennen. »Nun, Bruder«, sagte der kahle Rosig auf Kantesisch, obwohl klar war, dass die beiden nicht verwandt waren, »wie steht es im großen Imperium von Gurkhul?«

Yulwei seufzte. »Nur ein Jahr ist es her, seit er die Krone an sich riss, aber Uthman hat die letzten Rebellen besiegt und die Statthalter an die kurze Leine gelegt. Schon jetzt fürchtet man den jungen Imperator mehr als je seinen Vater. Uthman-ul-Dosht nennen ihn seine Soldaten, und sie sagen es mit Stolz. Beinahe ganz Kanta ist in seiner Hand. Er herrscht über alle Länder am Südlichen Meer.«

»Abgesehen von Dagoska.«

»Das stimmt, aber er hat bereits ein Auge darauf geworfen. Seine Armeen ziehen sich um die Halbinsel zusammen, und seine Spione sind hinter Dagoskas großen Mauern höchst aktiv. Nun, da im Norden Krieg herrscht, wird es nicht mehr lange dauern, bis er den Zeitpunkt für gekommen hält, die Stadt zu belagern, und wenn das geschieht, glaube ich nicht, dass sie ihm lange Widerstand bieten kann.«

»Bist du sicher? Die Union beherrscht immer noch die Meere.«

Besorgnis zog über Yulweis Gesicht. »Wir haben Schiffe gesehen, Bruder. Viele große Schiffe. Die Gurkhisen haben eine Flotte gebaut. Eine sehr mächtige, im Geheimen. Sie müssen schon vor Jahren, während des letzten Krieges, damit begonnen haben. Ich fürchte, die Union wird die Meere nur noch für kurze Zeit beherrschen.«

»Eine Flotte? Ich hatte gehofft, es blieben noch ein paar weitere Jahre für Vorbereitungen.« Der kahle Rosig klang grimmig. »Die Umsetzung meiner Pläne wird damit nur umso dringender.«

Das ganze Geschwätz langweilte sie. Sie war es gewohnt, immer in Bewegung zu sein, stets einen Schritt voraus zu sein, und sie hasste es, stillzustehen. Wer zu lange an einem Ort bleibt, den entdecken die Gurkhisen. Sie legte keinen Wert darauf, hier zu sitzen wie ein Ausstellungsstück, das diese komischen Rosigs anstarren konnten. Daher wanderte sie durch den Raum, während die beiden alten Männer endlos weiter viele Worte machten, blickte finster in die Runde und saugte an ihren Zähnen. Sie schwenkte die Arme hin und her. Sie trat gegen die abgeschabten Dielenbretter. Sie piekte gegen die Wandbehänge, sah dahinter, ließ die Finger über die Kanten der Möbel gleiten, schnalzte mit der Zunge und schlug die Zähne aufeinander.

Machte alle anderen nervös.

Sie kam an dem großen hässlichen Rosig in dem Sessel vorbei, fast nahe genug, um seine vernarbte Haut mit den fuchtelnden Händen zu berühren. Nur um ihm zu zeigen, dass sie sich von seiner Größe, seinen Narben oder sonst was nicht beeindrucken ließ. Dann spazierte sie zu dem Nervösen hinüber. Dem dürren Rosig mit den langen Haaren. Er schluckte, als sie sich näherte.

»Sssssss!«, zischte sie ihn an. Er murmelte etwas und schlurfte davon, und sie trat an das offene Fenster, wo er zuvor gestanden hatte. Dann sah sie hinaus und wandte dem Zimmer dabei den Rücken zu.

Nur um den Rosigs zu zeigen, dass sie ihr scheißegal waren.

Draußen vor dem Fenster lagen Gärten. Bäume, Pflanzen, große, sorgsam angelegte Rasenflächen. Grüppchen von dicken, schwitzenden, blassen Männern und Frauen aalten sich in der Sonne auf dem gepflegt geschnittenen Gras und stopften sich mit Essen voll. Kippten Getränke in sich hinein. Sie sah verächtlich auf sie hinunter. Fette, hässliche, faule Rosigs, ohne Gott, gefräßig und faul.

»Gärten«, fauchte sie abfällig.

In Uthmans Palast hatte es Gärten gegeben. Sie hatte immer auf sie hinunter gesehen, aus dem winzigen Fenster ihres Zimmers. Ihrer Zelle. Lange, bevor er Ulman-ul-Dosht wurde. Als er nur der jüngste Sohn des Imperators gewesen war. Und sie zu seinen vielen Sklaven zählte. Seine Gefangene war. Ferro beugte sich vor und spuckte aus dem Fenster.

Sie hasste Gärten.

Sie hasste Städte an sich. Orte der Sklaverei, Angst, Abwertung. Ihre Mauern waren Gefängnismauern. Je schneller sie diesen verfluchten Ort wieder würde verlassen können, desto glücklicher würde sie sein. Oder zumindest weniger unglücklich. Sie wandte sich vom Fenster ab und zog wieder ein grimmiges Gesicht. Sie alle starrten sie an.

Der Alte, der Bayaz hieß, sprach als Erster. »Da hast du wirklich etwas sehr Bemerkenswertes entdeckt, Bruder. Sie würde man auch in einer großen Menschenmenge sicher nicht übersehen, oder? Bist du sicher, dass sie das ist, wonach ich suche?«

Yulwei sah sie einen Augenblick an. »So sicher, wie ich da sein kann.«

»Ich stehe direkt hier«, knurrte sie, aber der kahle Rosig redete weiter, als ob er sie gar nicht hörte.

»Spürt sie Schmerz?«

»Nur sehr wenig. Unterwegs hat sie mit einem Verzehrer gekämpft.«

»Tatsächlich?« Bayaz kicherte in sich hinein. »Wie schwer hat er sie verletzt?«

»Es war ziemlich schlimm, aber nach zwei Tagen konnte sie wieder laufen, und nach einer Woche waren die Wunden verheilt. Sie hat keinen Kratzer davon zurückbehalten. Das ist nicht normal.«

»Wir haben beide zu unserer Zeit eine Menge Dinge gesehen, die nicht normal sind. Wir müssen sicher gehen.« Der Kahlkopf griff in seine Tasche. Ferro beobachtete misstrauisch, wie er seine Faust wieder hervorzog und sie auf den Tisch legte. Als er sie wegnahm, lagen zwei glatte, polierte Steine auf der Holzplatte.

Der kahle Mann beugte sich vor. »Sag mir, Ferro, welcher davon ist der blaue Stein?«

Sie sah erst ihn an, mit brennendem Blick, dann die Steine. Es gab keinen Unterschied zwischen ihnen. Alle hatten nun die Augen auf sie gerichtet, noch mehr als zuvor, und sie biss die Zähne zusammen.

»Der da.« Sie deutete auf den Stein links.

Bayaz lächelte. »Genau die Antwort, auf die ich gehofft habe.« Ferro zuckte die Achseln. Glück gehabt, dachte sie, dass sie auf den richtigen getippt hatte. Dann fiel ihr der Gesichtsausdruck des großen Rosigs auf. Er sah die beiden Steine an, als ob er etwas nicht begriff.

»Sie sind beide rot«, sagte Bayaz. »Du siehst überhaupt keine Farben, oder, Ferro?«

Hatte der kahle Rosig sie also hereingelegt. Sie war sich nicht sicher, wie er das mit den Farben hatte wissen können, aber es gefiel ihr nicht. Niemand legt Ferro Maljinn herein. Sie fing an zu lachen. Ein raues, hässliches, ungeübtes Gurgeln.

Dann sprang sie über den Tisch.

Gerade erst malte sich Erstaunen auf dem Gesicht des alten Rosigs ab, als ihre Faust auch schon auf seine Nase krachte. Er stieß ein Grunzen aus, dann kippte sein Stuhl nach hinten, und er schlug auf den Boden. Sie kämpfte sich über den Tisch, um ihn zu erwischen, aber Yulwei packte sie am Bein und zerrte sie zurück. Ihre Hände verfehlten den Hals des kahlen Drecksacks nur knapp und rissen stattdessen den Tisch um, sodass die beiden Steine über die Fliesen kullerten.

Sie befreite ihr Bein aus Yulweis Griff und setzte dem alten Rosig nach, der sich gerade aufrappelte, aber Yulwei bekam sie am Arm zu fassen und hielt sie wieder fest, während er immer wieder »Frieden!« brüllte. Zum Dank bekam er dabei ihren Ellenbogen ins Gesicht und taumelte gegen die Wand, während sie auf ihm landete. Aber schon war sie wieder auf den Füßen und setzte dazu an, den kahlen Drecksack aufs Neue anzugreifen.

Inzwischen war allerdings auch der große Kerl aufgestanden und kam auf sie zu, beobachtete sie aber zunächst nur. Ferro lächelte ihn an, die Hände zu Fäusten geballt. Gleich würde sie wissen, wie gefährlich er tatsächlich war.

Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu.

Dann hob Bayaz den Arm und hielt ihn zurück. Die andere Hand hatte er gegen seine Nase gepresst, um den Blutfluss zum Versiegen zu bringen. Er lachte leise.

»Sehr gut!«, sagte er dann und hustete. »Sehr wild, und auch verdammt schnell. Zweifelsohne bist du genau das, wonach wir suchen! Ich hoffe, du nimmst meine Entschuldigung an, Ferro.«

»Wofür?«

»Für meine schrecklichen Manieren.« Er wischte sich das Blut von der Unterlippe. »Ich hatte das wirklich verdient, aber ich musste sicher gehen. Es tut mir leid. Bin ich entschuldigt?« Er sah jetzt irgendwie anders aus, obwohl sich nichts verändert hatte. Freundlich, rücksichtsvoll, ehrlich. Als ob es ihm wirklich leid täte. Aber es brauchte wesentlich mehr, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Viel mehr.

»Werden wir noch sehen«, zischte sie.

»Das ist alles, worum ich dich bitte. Und darum, dass du mir und Yulwei einen Augenblick gestattest, einige … Angelegenheiten zu klären. Angelegenheiten, die am besten unter vier Augen besprochen werden.«

»Das ist in Ordnung, Ferro«, sagte Yulwei, »sie sind Freunde.« Sie war sich verdammt sicher, dass diese Kerle nicht ihre Freunde waren, aber sie ließ es zu, dass er sie hinter den beiden Rosigs aus dem Zimmer schob. »Versuch aber bitte, sie nicht umzubringen.«

Dieser Raum war ganz ähnlich wie der andere. Sie mussten ziemlich reich sein, diese Rosigs, auch wenn sie nicht so aussahen. Riesengroßer Kamin, aus einem dunklen, geäderten Stein gebaut. Kissen, weiches Tuch rund um die Fenster, bedeckt mit Blumen und Vögeln in winzigkleinen Stichen. Hier hing auch das Gemälde eines streng dreinblickenden Mannes mit einer Krone auf dem Kopf, der grimmig auf Ferro hinuntersah. Sie sah ebenso grimmig zurück.

Luxus.

Ferro hasste Luxus sogar noch mehr als Gärten.

Luxus bedeutete Gefangenschaft, mehr noch sogar als die Gitter eines Käfigs. Weich gepolsterte Möbel verrieten mehr Gefahr als Waffen. Harter Boden und kaltes Wasser, das war alles, was sie brauchte. Weiche Dinge machen dich weich, und das wollte sie auf keinen Fall zulassen.

Da war noch ein anderer Mann, der hier mit ihnen wartete, der mit den Händen hinter dem Rücken immer wieder im Kreis ging, als ob er es nicht mochte, zu lange still stehen zu bleiben. Kein richtiger Rosig, seine lederartige Haut lag in ihrem Farbton irgendwo zwischen dem der Rosigs und ihrem. Sein Kopf war rasiert, wie bei einem Priester. Ferro gefiel das nicht.

Priester hasste sie am meisten von allen.

Seine Augen leuchteten jedoch auf, als er sie entdeckte, obwohl sie ihn so böse ansah, und er eilte zu ihr hinüber. Ein komischer kleiner Mann in von der Reise abgeschabter Kleidung, dessen Glatze gerade an Ferros Mund heranreichte. »Ich bin Bruder Langfuß«, seine Hände fuchtelten wild herum, »vom großen Orden der Wegkundigen.«

»Schön für dich.« Ferro wandte ihm ihre Schulter zu und gab sich alle Mühe, ein Wort dessen zu erlauschen, was die beiden Alten hinter der Tür besprachen, aber Langfuß ließ sich nicht abschütteln.

»Und wie schön! Ja, ja, das ist es ganz bestimmt! Gott hat mich wirklich gesegnet! Ich bin sicher, dass niemand in der ganzen Geschichte der Menschheit je so gut für seinen Beruf geeignet war wie ich, Bruder Langfuß, für die ehrenvolle Wissenschaft der Wegkunde! Von den schneebedeckten Bergen im fernen Norden zu den sonnenüberfluteten Sandflächen des äußersten Südens, die ganze Welt ist mein Zuhause, wahrlich!«

Er lächelte sie voll Übelkeit erregender Selbstzufriedenheit an. Ferro ignorierte ihn. Die zwei Rosigs, der große und der ausgemergelte, redeten auf der anderen Seite des Zimmers miteinander. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die sie nicht verstand. Klang wie Schweinegrunzen. Vielleicht redeten sie über sie, aber ihr war das gleich. Sie gingen zu einer anderen Tür hinaus und ließen sie mit dem Priester allein, der noch immer mit den Lippen wackelte.

»Es gibt wenige Nationen innerhalb des Weltenrunds, denen ich, Bruder Langfuß, ein Fremder bin, aber dennoch kann ich nicht bestimmen, wo Eure Wurzeln liegen.« Er hielt erwartungsvoll inne, aber Ferro sagte nichts. »Ihr hättet lieber, dass ich rate? Und tatsächlich, es ist ja ein Rätsel. Lasst mich überlegen … Eure Augen haben dieselbe Form wie die der Menschen im weit entfernten Suljuk, wo die schwarzen Berge steil von der schimmernden See aufragen, ja, das tun sie, und dennoch ist Eure Haut …«

»Hör auf zu quatschen, du Wichser.«

Der Mann brach mitten im Satz ab, hüstelte und entfernte sich hastig, sodass Ferro sich nun den Stimmen hinter der Tür widmen konnte. Sie lächelte in sich hinein. Das Holz war dick und dämpfte die Worte sehr, aber die beiden Alten hatten nicht mit der Schärfe ihrer Ohren gerechnet. Sie sprachen immer noch Kantesisch. Jetzt, da dieser idiotische Wegkundige die Klappe hielt, konnte sie jedes Wort verstehen, das Yulwei sagte.

»… Khalul bricht das Zweite Gebot, und deswegen darfst du das Erste brechen? Das gefällt mir nicht, Bayaz! Juvens hätte das nie gestattet!« Ferro runzelte die Stirn. Es schwang ein seltsamer Ton in Yulweis Stimme mit. Angst. Das Zweite Gebot. Davon hatte er zu den Verzehrern gesprochen, wie Ferro sich erinnerte. Es ist verboten, das Fleisch von Menschen zu verzehren.

Als Nächstes sprach der kahle Rosig. »Das Erste Gebot ist ein Widerspruch in sich. Alle Magie kommt von der Anderen Seite, selbst unsere. Sobald du irgendetwas änderst, berührst du die Unterwelt, sobald du etwas erschaffst, borgst du dir von der Anderen Seite, und all das hat seinen Preis.«

»Aber dieser Preis ist vielleicht zu hoch! Es ist etwas Verfluchtes, dieser Samen, eine verfluchte Sache. Nichts als Chaos erwächst daraus! Die Söhne des Euz waren so gewaltig in ihrer Weisheit und ihrer Macht, und dieser Samen führte zu ihrem Niedergang, für sie alle, auf verschiedene Weise. Bist du weiser als Juvens, Bayaz? Bist du durchtriebener als Kanedias? Bist du stärker als Gulstrod?«

»Nein, nichts davon, Bruder, aber sag mir … wie viele Verzehrer hat Khalul geschaffen?«

Eine lange Pause. »Ich weiß es nicht genau.«

»Wie viele?«

Wieder eine Pause. »Vielleicht zweihundert. Vielleicht mehr. Die Priesterschaft durchkämmt den ganzen Süden nach Männern und Frauen, die geeignet erscheinen. Schneller und schneller erschafft er sie jetzt, aber die meisten sind jung und schwach.«

»Zweihundert oder mehr, und ihre Zahl wächst ständig. Viele sind vielleicht schwach, aber es sind welche unter ihnen, die dir oder mir vielleicht entgegentreten können. Jene, die in der Alten Zeit Khaluls Schüler waren – der eine, den sie den Ostwind nennen, und die verdammten, verfluchten Zwillinge.«

»Verdammt seien diese dreckigen Weiber!« Yulwei stöhnte.

»Gar nicht zu reden von Mamun, mit dessen Lügen dieses Chaos begann.«

»Die Wurzel all dieser Übel liegt in einer Zeit, als er noch nicht geboren war, das weißt du, Bayaz. Aber dennoch, Mamun war in den Wüsten Landen. Ich fühlte, dass er in der Nähe war. Er ist furchtbar stark geworden.«

»Du weißt, dass ich Recht habe. Unsere Zahl dagegen wächst in der Zwischenzeit kaum.«

»Ich dachte, dieser Quai sei recht viel versprechend?«

»Wir brauchten Hunderte wie ihn und zwanzig Jahre, um sie auszubilden. Dann hätten wir vielleicht gleiche Bedingungen. Nein, Bruder, nein. Wir müssen Feuer gegen Feuer einsetzen.«

»Selbst wenn das Feuer dich und die ganze Schöpfung zu Asche verbrennt? Lass mich nach Sarkant gehen. Khalul kommt vielleicht zur Vernunft …«

Lachen. »Er hat die halbe Welt versklavt! Wann wachst du endlich auf, Yulwei? Wenn er auch den Rest beherrscht? Ich kann es mir nicht leisten, dich zu verlieren, Bruder!«

»Vergiss nicht, Bayaz, es gibt Schlimmere als Khalul. Viel Schlimmere.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern, und Ferro musste sich alle Mühe geben, um etwas zu verstehen. »Die Geheimnisverräter hören stets zu …«

»Genug, Yulwei! Es ist besser, nicht einmal daran zu denken!« Ferro runzelte die Stirn. Was war das für ein Unsinn? Geheimnisverräter? Was für Geheimnisse?

»Besinne dich darauf, was Juvens dir sagte, Bayaz. Hüte dich vor Stolz. Du hast die Hohe Kunst angewandt. Ich weiß es. Ich sehe einen Schatten auf dir.«

»Zum Teufel mit deinen Schatten! Ich tat, was ich tun musste! Vergiss nicht, was Juvens dir sagte, Yulwei. Man kann nicht auf ewig zusehen. Wir haben nicht mehr viel Zeit, und ich werde nicht länger nur als Beobachter dabeistehen. Ich bin der Erste. Es ist meine Entscheidung.«

»Bin ich dir nicht stets gefolgt, wohin du mich führtest? Immer, selbst dann, wenn mein Gewissen dagegen sprach?«

»Und habe ich dich je falsch geführt?«

»Das bleibt abzuwarten. Du bist der Erste, Bayaz, aber du bist nicht Juvens. Es ist meine Aufgabe, deine Entscheidungen infrage zu stellen, meine und auch die von Zacharus. Ihm wird das noch weniger gefallen als mir. Viel weniger.«

»Es muss getan werden.«

»Aber andere werden den Preis bezahlen, so wie immer. Dieser Nordmann, Neunfinger, kann mit den Geistern reden?«

»Ja.« Ferro verzog das Gesicht. Der neunfingrige Rosig sah so aus, als ob er kaum mit anderen Menschen reden könnte.

»Und wenn du den Samen findest«, ertönte Yulweis Stimme hinter der Tür, »dann soll Ferro ihn tragen?«

»Sie hat das rechte Blut, und irgendjemand muss es tun.«

»Dann sei vorsichtig, Bayaz. Ich kenne dich, vergiss das nicht. Wenige kennen dich besser als ich. Gib mir dein Wort, dass du auf sie Acht geben wirst, auch nachdem sie dir nützlich war.«

»Ich werde besser auf sie Acht geben als auf meine eigene Tochter.«

»Achte besser auf sie als auf die Tochter des Schöpfers, dann werde ich zufrieden sein.«

Langes Schweigen. Ferro mahlte ihre Kiefer gegeneinander, während sie über das Gehörte nachdachte. Juvens, Kanedias, Zacharus – diese seltsamen Namen bedeuteten ihr nichts. Und was war das für ein Samen, der die ganze Schöpfung zu Asche verbrennen konnte? Sie wollte mit so etwas nichts zu tun haben, dessen war sie sich sicher. Ihr Platz war im Süden, wo sie die Gurkhisen mit Waffen angreifen konnte, die sie verstand.

Die Tür öffnete sich, und die beiden alten Männer traten ein. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der eine dunkelhäutig, hochgewachsen, knochig und mit langem Haar, der andere weißhäutig, untersetzt und kahl. Sie sah sie misstrauisch an. Es war der Weiße, der zuerst sprach.

»Ferro, ich habe dir ein Angebot zu …«

»Ich gehe nicht mit dir, närrischer Rosig.«

Ganz kurz zog ein Schatten der Verärgerung über das Gesicht des Kahlkopfs, aber er hatte sich schnell wieder im Griff. »Wieso nicht? Was sonst hast du zu tun, was keinen Aufschub duldet?«

Darüber musste sie keine Sekunde nachdenken. »Rache.« Ihr Lieblingswort.

»Ah. Ich verstehe. Du hasst die Gurkhisen?«

»Ja.«

»Sie schulden dir noch etwas, für das, was sie dir angetan haben?«

»Ja.«

»Dafür, dass sie deine Familie, dein Volk, dein Land geraubt haben?«

»Ja.«

»Dafür, dass sie dich versklavt haben«, flüsterte er. Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und fragte sich, woher er so viel über sie wusste, und ob sie nicht noch einmal über ihn herfallen sollte. »Sie haben dich beraubt, Ferro, sie haben dir alles weggenommen. Sie haben dir dein Leben gestohlen. Wenn ich an deiner Stelle wäre … wenn ich gelitten hätte so wie du … dann gäbe es nicht genug Blut im ganzen Süden, um mich zufrieden zu stellen. Ich würde jeden gurkhisischen Soldaten tot sehen wollen, bevor ich Ruhe fände. Ich würde jede gurkhisische Stadt brennen sehen wollen, bevor ich Ruhe fände. Ich würde ihren Imperator vor seinem eigenen Palast in einem Käfig verrotten sehen wollen, bevor ich Ruhe fände!«

»Ja!«, fauchte sie mit einem wilden Lächeln auf ihrem Gesicht. Jetzt sprach er ihre Sprache. Yulwei hatte niemals so gesprochen – vielleicht war dieser alte Rosig doch gar nicht so übel. »Du verstehst mich! Deswegen muss ich zurück in den Süden!«

»Nein, Ferro.« Jetzt war es der Kahlkopf, der grinste. »Du verstehst noch nicht, welche Möglichkeit ich dir biete. Der Imperator ist es im Grunde nicht, der in Kanta herrscht. So mächtig er auch scheint, so tanzt er doch nach der Pfeife eines anderen, der stets im Hintergrund bleibt. Khalul nennt man ihn.«

»Der Prophet.«

Bayaz nickte. »Wenn du einen Schnitt abbekommst, hasst du dann das Messer oder den, der es schwingt? Der Imperator, die Gurkhisen – sie sind nur Khaluls Werkzeuge, Ferro. Die Herrscher kommen und gehen, aber der Prophet ist stets da, hinter ihnen. Flüsternd. Drängend. Befehlend. Er ist es, der dir all das angetan hat.«

»Khalul … ja.« Die Verzehrer hatten diesen Namen genannt. Khalul. Der Prophet. Der Palast des Imperators wimmelte vor Priestern, das wusste jeder. Die Paläste der Statthalter auch. Priester, sie waren überall, sie schwärmten aus wie Insekten. In den Städten, den Dörfern, unter den Soldaten, überall verbreiteten sie ihre Lügen. Flüsternd. Drängend. Befehlend. Yulwei war seinem Gesicht nach nicht zufrieden mit der Wendung der Dinge, aber Ferro wusste, dass der alte Rosig recht hatte. »Ja, das verstehe ich.«

»Hilf mir, und ich verhelfe dir zu deiner Rache, Ferro. Echter Rache. Nicht ein toter Soldat oder zehn, sondern Tausende. Zehntausende! Vielleicht der Imperator selbst, wer weiß?« Er zuckte die Achseln und wandte sich halb von ihr ab. »Dennoch, ich kann dich nicht zwingen. Geh zurück in die Wüsten Lande, wenn du willst – versteck dich, flieh und grab dich wie eine Ratte in den Sand. Wenn dich das glücklich macht. Wenn das deine ganze Rache ist. Die Verzehrer wollen dich jetzt haben. Khaluls Kinder. Ohne uns werden sie dich erwischen, eher früher als später. Dennoch, die Entscheidung liegt bei dir.«

Ferro runzelte die Stirn. All die Jahre in der Wildnis, in denen sie mit Klauen und Zähnen gekämpft hatte, immer auf der Flucht, hatten ihr nichts gebracht. Keine Rache, die dieses Wort wirklich verdient hätte. Wenn Yulwei nicht gewesen wäre, wäre sie schon längst erledigt. Weiße Knochen in der Wüste. Fleisch in den Mägen der Verzehrer. Im Käfig vor dem Palast des Imperators.

Verfaulend.

Sie konnte nicht nein sagen, und das wusste sie, aber es gefiel ihr nicht. Dieser alte Mann wusste genau, was er ihr anbot. Sie hasste es, keine Wahl zu haben.

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie.

Wieder zog ein kurzer Schatten der Verärgerung über das Gesicht des kahlen Rosigs und wurde schnell überspielt. »Dann denke darüber nach, aber nicht für lange. Die Soldaten des Imperators ziehen sich zusammen, und es bleibt nicht mehr viel Zeit.« Er verließ das Zimmer durch dieselbe Tür wie die anderen und ließ sie mit Yulwei allein.

»Ich mag diese Rosigs nicht«, sagte sie so laut, dass der Alte es draußen auf dem Korridor hören musste, und fuhr dann leiser fort: »Müssen wir mit ihnen gehen?«

»Du musst. Ich muss in den Süden zurückkehren.«

»Was?«

»Irgendjemand muss ein Auge auf die Gurkhisen haben.«

»Nein!«

Yulwei musste lachen. »Zweimal hast du versucht, mich zu töten. Einmal hast du versucht, von mir wegzulaufen, aber jetzt, da ich dich allein lasse, willst du, dass ich bleibe? Dich kann man wirklich nicht begreifen, Ferro.«

Sie runzelte die Stirn. »Der Kahlkopf sagt, er kann mir zu meiner Rache verhelfen. Lügt er?«

»Nein.«

»Dann muss ich mit ihm gehen.«

»Ich weiß. Deswegen habe ich dich hierher gebracht.«

Ihr fiel nichts ein, was sie jetzt hätte sagen können. Sie sah zu Boden, aber Yulwei überraschte sie, indem er plötzlich vortrat. Ferro hob die Hand, um einen Schlag abzuwehren, aber stattdessen legte er die Arme um sie und drückte sie fest. Ein komisches Gefühl. Jemand anderem so nah zu sein. Warm. Dann machte Yulwei einen Schritt zurück, eine Hand auf ihrer Schulter. »Wandle auf den Fußspuren Gottes, Ferro Maljinn.«

»Hm. Sie haben hier keinen Gott.«

»Du könntest eher sagen, sie haben hier viele.«

»Viele?«

»Ist es dir nicht aufgefallen? Hier betet jedermann sich selbst an.« Sie nickte. Das schien der Wahrheit recht nahe zu kommen. »Sei vorsichtig, Ferro. Und höre auf Bayaz. Er ist der Erste meines Ordens, und es gibt nur wenige, die so weise sind wie er.«

»Ich traue ihm nicht.«

Yulwei beugte sich näher zu ihr. »Ich habe dir nicht gesagt, du sollst ihm vertrauen.« Dann lächelte er und wandte sich um. Sie sah ihn langsam zur Tür gehen und dann hinaus auf den Flur. Sie hörte seine nackten Füße sanft auf die Fliesen tappen und die Armreifen leise klimpern.

Er ließ sie allein mit dem Luxus und den Gärten und den Rosigs.