SCHARFE KLINGEN
Es war ein wunderschöner Frühlingstag in Adua, die Sonne schien freundlich durch die Zweige der Duftzeder und warf einen unregelmäßigen Schatten auf die Spieler, die darunter saßen. Eine angenehme Brise strich über den Hof, und daher hielten die Männer ihre Karten vorsichtig fest und hatten die, die auf dem Tisch lagen, mit Gläsern oder Münzen beschwert. Vögel zwitscherten in den Bäumen, das Klappern der Schere eines Gärtners drang von der anderen Seite der Rasenfläche zu ihnen herüber und hallte sanft von den weißen, hohen Gebäuden wider, die den viereckigen Innenhof begrenzten. Welche Vorfreude die Spieler angesichts der großen Geldsumme in der Mitte des Tisches empfanden, hing natürlich davon ab, welches Blatt sie in den Händen hielten.
Hauptmann Jezal dan Luthar fand den Anblick fantastisch. Seit er ins Regiment der Königstreuen eingetreten war, hatte er entdeckt, dass er ein geradezu unheimliches Gespür für dieses Spiel besaß – ein Talent, das er weidlich genutzt hatte, um seinen Kameraden große Summen abzunehmen. Er brauchte das Geld natürlich nicht, schließlich stammte er aus einer ausgesprochen wohlhabenden Familie, aber auf diese Weise war es ihm gelungen, sparsam zu erscheinen, während er gleichzeitig aus dem Vollen schöpfte. Jedes Mal, wenn Jezal einige Tage zu Hause verbrachte, langweilte sein Vater alle in seiner Nähe damit, wie gut er seine Gelder angelegt hatte; seinem Sohn hatte er schließlich vor einem halben Jahr ein Hauptmannspatent gekauft. Jezals Brüder waren darüber nicht begeistert gewesen. Ja, das Geld war ganz sicher nützlich, und davon abgesehen gab es nichts Spaßigeres, als einen seiner engsten Freunde zu demütigen.
Jezal hatte es sich mit ausgestrecktem Bein in einer halb sitzenden, halb liegenden Position auf seiner Bank gemütlich gemacht und ließ seine Augen über die anderen Spieler wandern. Major West hatte seinen Stuhl so weit auf die beiden hinteren Beine gekippt, dass zu fürchten stand, er werde jeden Augenblick umfallen. Er hielt sein Glas gegen die Sonne und bewunderte, wie sich das Licht in der bernsteinfarbenen, hochprozentigen Flüssigkeit brach. Um seinen Mund lag ein leichtes, geheimnisvolles Lächeln, das zu sagen schien: »Ich bin zwar kein Edelmann und stehe gesellschaftlich gesehen möglicherweise unter euch, aber ich habe einmal das Turnier gewonnen und mir das Wohlwollen des Königs auf dem Schlachtfeld erkämpft. Das macht mich zum Höherstehenden, also solltet ihr Kinder besser tun, was ich sage.« Er war allerdings schon ausgestiegen und ohnehin, wie Jezal fand, mit seinem Geld ein bisschen zu vorsichtig.
Leutnant Kaspa hingegen saß vornüber gebeugt mit finsterer Miene da und kratzte sich den sandfarbenen Bart, während er in sein Blatt starrte, als lese er dort eine komplizierte Rechnung, die er nicht verstand. Er war ein gut gelaunter junger Mann, allerdings ohne einen Funken Talent fürs Glücksspiel, der sich jedes Mal sehr dankbar zeigte, wenn Jezal ihn von seinem eigenen Geld etwas zu trinken spendierte. Dennoch konnte er es sich leisten zu verlieren: Sein Vater war einer der größten Landbesitzer in der Union.
Jezal hatte oft schon beobachtet, dass leicht dumme Menschen sich in schlauer Gesellschaft noch dümmer verhielten. Sobald sie erkannt hatten, dass sie ohnehin nicht mehr die Oberhand gewinnen würden, bemühten sie sich um die Stellung des liebenswerten Idioten, vermochten sich so aus Streitereien herauszuhalten, die sie ohnehin nicht für sich entscheiden würden, und wurden daher von jedermann gemocht. Kaspas mühsam konzentrierte Miene vermittelte daher: »Ich bin nicht der Schlauste, aber ehrlich und liebenswert. Klugheit wird ohnehin überschätzt. Oh, und ich bin sehr, sehr reich, daher mag mich sowieso jeder.«
»Ich glaube, ich gehe mit«, sagte Kaspa und warf einen kleinen Stapel Silbermünzen auf den Tisch. Sie rollten in verschiedene Richtungen auseinander und glänzten mit lustigem Klingeln in der Sonne. Jezal rechnete die Gesamtsumme im Kopf zusammen. Reichte das schon für eine neue Uniform? Kaspa wurde schnell ein wenig unruhig, wenn er ein gutes Blatt auf der Hand hatte, und er zitterte jetzt nicht im Geringsten. Dass er sie täuschte, konnte Jezal sich kaum vorstellen; vermutlich langweilte er sich jetzt nur, weil er die Runde noch aussitzen musste. Jezal zweifelte nicht im Geringsten daran, dass er wie ein billiges Zelt in sich zusammenfallen würde, wenn die nächsten Einsätze genannt werden mussten.
Leutnant Jalenhorm zog ein verärgertes Gesicht und schleuderte seine Karten auf den Tisch. »Heute habe ich wirklich ein Scheißblatt!«, grollte er. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, ließ die breiten Schultern schlecht gelaunt hängen, als wollte er sagen: »Ich bin stark und männlich und leicht erzürnt, also sollte mich jedermann mit Respekt behandeln.« Und gerade diesen Respekt blieb Jezal ihm am Kartentisch stets schuldig. Ein leicht reizbares Naturell mochte im Kampf von Nutzen sein – wenn es um Geld ging, war es von Nachteil. Es war schade, dass er kein besseres Blatt gehabt hatte, sonst wäre es Jezal vielleicht gelungen, ihm die Hälfte seines Solds abzuknöpfen. Jalenhorm leerte sein Glas und griff nach der Flasche.
Damit blieb nur noch Brint, der Jüngste und am wenigsten Vermögende von ihnen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wirkte dabei gleichzeitig vorsichtig und ein wenig verzweifelt, wie um auszudrücken: »Ich bin nicht jung und auch nicht arm. Ich kann es mir leisten, dieses Geld zu verlieren. Ich bin genauso wichtig wie ihr anderen.« Er hatte heute sehr viel Geld dabei; vielleicht hatte er gerade seine Unterstützung von zu Hause erhalten. Möglicherweise musste er von dieser Summe die nächsten Monate leben. Jezal legte es drauf an, ihm dieses Geld wegzunehmen und es beim Saufen und Huren zu verschwenden. Er musste sich zusammenreißen, damit er bei diesem Gedanken nicht kicherte. Das konnte er immer noch, wenn er die Runde gewonnen hatte. Brint lehnte sich zurück und überlegte sorgfältig. Da es so aussah, als brauche er für seine Entscheidung noch eine Weile, nahm Jezal seine Pfeife vom Tisch auf.
Er zündete sie an der Lampe an, die extra zu diesem Zweck vorgehalten wurde, und blies gezackte Rauchringe zu den Ästen der Zeder hinauf. Im Rauchen war er leider nicht halb so gut wie beim Kartenspielen, und so waren die meisten Ringe nur hässliche Fetzen gelbbraunen Dampfs. Wenn er ganz ehrlich war, dann rauchte er nicht einmal gern; es wurde ihm sogar ein wenig übel davon. Aber es war sehr in Mode und auch sehr teuer, und Jezal sah überhaupt nicht ein, auf etwas zu verzichten, das in Mode war, nur weil es ihm nicht gefiel. Davon abgesehen hatte ihm sein Vater, als er das letzte Mal in der Stadt gewesen war, eine wunderschöne Elfenbeinpfeife gekauft, die ihm sehr gut zu Gesicht stand. Seine Brüder waren davon auch nicht begeistert gewesen, erinnerte er sich jetzt.
»Ich gehe mit«, sagte Brint.
Jezal schwang sein Bein von der Bank. »Dann erhöhe ich um einhundert Mark oder so.« Er schob seinen gesamten Münzstapel in die Mitte des Tisches. West zog die Luft durch die Zähne ein. Eine Münze fiel vom Stapel herunter, landete auf ihrem Rand und rollte auf dem Holz entlang. Sie fiel mit jenem unverwechselbaren Geräusch klingenden Geldes auf den Steinboden. Der Kopf des Gärtners, der auf der anderen Seite der Grünfläche beschäftigt war, fuhr unwillkürlich herum, bevor er sich wieder dem Rasenschnitt zuwandte.
Kaspa schob seine Karten von sich, als ob sie an seinen Fingern brannten, und schüttelte den Kopf. »Verdammt, ich bin beim Kartenspiel einfach zu dämlich«, beklagte er sich und lehnte sich gegen den rissigen braunen Stamm des Baumes.
Jezal starrte Leutnant Brint an und lächelte leicht dabei, ohne sich jedoch irgendetwas anmerken zu lassen. »Er täuscht Sie«, brummte Jalenhorm, »lassen Sie sich nicht an der Nase herumführen, Brint.«
»Tun Sie’s nicht, Leutnant«, warnte West, aber Jezal wusste, Brint würde es tun. Er musste es so aussehen lassen, als ob er sich den Verlust leisten konnte. Und tatsächlich: Brint zögerte nicht, er schob all die Münzen vor ihm mit nachlässiger Geste in die Mitte. Geld, von dem sie alle wussten, dass er nicht darauf verzichten konnte.
»Das sind auch ungefähr hundert.« Brint gab sein Möglichstes, vor den älteren Offizieren gelassen zu klingen, aber dennoch schwang in seiner Stimme ein charmanter Hauch von Hysterie mit.
»Das sollte reichen«, sagte Jezal, »wir sind hier ja unter Freunden. Was haben Sie, Leutnant?«
»Ich habe Erde.« Es lag ein fiebriger Glanz in Brints Augen, als er den anderen seine Karten zeigte.
Jezal genoss die angespannte Atmosphäre. Er zog ein Gesicht, zuckte die Achseln, hob die Augenbrauen. Dann kratzte er sich nachdenklich am Kopf, und dabei beobachtete er, wie sich Brints Gesichtsausdruck veränderte, je nachdem, welchen er selbst aufsetzte. Hoffnung, Verzweiflung, Hoffnung, Verzweiflung. Endlich legte Jezal seine Karten auf den Tisch. »Ach, ist es denn zu glauben. Ich habe schon wieder Sonnen.«
Brints Gesicht bot ein köstliches Schauspiel. West seufzte und schüttelte den Kopf. Jalenhorm blickte grimmig drein. »Ich war sicher, er täuscht«, sagte er.
»Wie macht er das?«, wollte Kaspa wissen, der die verirrte Münze wieder auf den Tisch warf.
Jezal zuckte die Schultern. »Es kommt nur auf die Spieler an, überhaupt nicht auf die Karten.« Er sammelte den Haufen Münzen ein, während Brint ihm mit zusammengebissenen Zähnen und bleichem Gesicht zusah. Sie rutschten mit angenehmem Klingeln in seinen Beutel. Jedenfalls war es für Jezal ein höchst angenehmes Geräusch. Ein Geldstück rollte vom Tisch und blieb neben Brints Stiefel liegen. »Könnten Sie mir diese eine wohl aufheben, Leutnant?«, fragte Jezal mit süßlichem Lächeln.
Brint stand hastig auf, stieß gegen den Tisch, ließ das Geld und die Gläser wackeln und rasseln. »Ich habe noch was zu tun«, erklärte er mit belegter Stimme und drängte sich dann grob an Jezal vorbei, schubste ihn gegen den Baum und marschierte auf das nächstliegende Gebäude zu. Mit hängendem Kopf verschwand er im Offiziersquartier.
»Haben Sie das gesehen?« Jezal wurde mit jedem Augenblick, der verstrich, ungehaltener. »Mich einfach so anzurempeln, das ist doch verdammt unhöflich! Wo ich noch dazu sein Vorgesetzter bin! Ich hätte gute Lust, ihn deswegen zu melden!« Das ungeliebte Stichwort ›melden‹ löste jedoch deutlich geäußerte Missbilligung aus. »Na schön, dann ist er eben nur ein schlechter Verlierer!«
Jalenhorm sah mit gefurchter Stirn streng zu ihm hinüber. »Sie sollten ihn nicht so hart rannehmen. Er ist nicht reich. Er kann es sich nicht leisten zu verlieren.«
»Nun, wenn er sich das nicht leisten kann, sollte er eben nicht spielen!«, fauchte Jezal verärgert. »Wer hat ihm denn gesagt, ich würde Sie täuschen? Da sollten Sie besser auch Ihre große Klappe halten!«
»Er ist hier neu«, sagte West, »er möchte einfach dazugehören. Waren Sie nicht auch mal neu?«
»Für wen halten Sie sich, für meinen Vater?« Jezal konnte sich nur allzu schmerzhaft daran erinnern, wie es war, der Neue zu sein, und diese Erinnerung beschämte ihn ein wenig.
Kaspa machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich leihe ihm ein bisschen was, keine Sorge.«
»Das wird er nicht annehmen«, sagte Jalenhorm.
»Nun, das ist seine Sache.« Kaspa schloss die Augen und wandte sein Gesicht der Sonne zu. »Ist das heiß. Der Winter ist wirklich vorbei. Muss wohl schon nach Mittag sein.«
»Scheiße!« Jezal packte hastig seine Sachen zusammen. Der Gärtner hörte mit dem Rasenschneiden auf und sah zu ihnen herüber. »Wieso haben Sie nichts gesagt, West?«
»Wer bin ich denn, Ihr Vater?«, fragte der Major zurück. Kaspa kicherte.
»Schon wieder zu spät«, kommentierte Jalenhorm und blies die Backen auf. »Da wird der Lord Marschall aber gar nicht zufrieden sein!«
Jezal schnappte sich seine Fechteisen und rannte zur entgegengesetzten Seite der Grünfläche. Major West folgte ihm. »Kommen Sie schon!«, brüllte Jezal.
»Ich bin direkt hinter Ihnen, Herr Hauptmann«, rief West. »Direkt hinter Ihnen.«
»Vorwärts, Jezal, stoßen, zustoßen!«, bellte Lord Marschall Varuz und schlug ihm mit dem Stock auf den Arm.
»Au!«, schrie Jezal auf und hob die Metallstange wieder höher.
»Ich will sehen, dass Sie den rechten Arm bewegen, Herr Hauptmann, dass er wie eine Schlange hin und her zuckt! Ich möchte von der Geschwindigkeit Ihrer Hände geblendet werden!«
Jezal vollführte einige weitere ungeschickte Ausfälle mit der unhandlichen Eisenstange. Es war reine Folter. Die Finger, das Handgelenk, der Unterarm und die Schulter brannten vor Anstrengung. Er war bis auf die Haut durchgeschwitzt, und der Schweiß flog in dicken Tropfen von seinem Gesicht. Marschall Varuz winkte angesichts seiner schwächlichen Bemühungen ab. »Jetzt schlagen Sie! Schlagen Sie mit der Linken!«
Mit all der Kraft seines linken Arms schwang Jezal den großen Schmiedehammer nach dem Kopf des alten Mannes. Er war selbst an einem guten Tag kaum in der Lage, das verdammte Ding auch nur hochzuheben. Marschall Varuz trat leichtfüßig zur Seite und versetzte ihm mit seinem Stock einen Schlag ins Gesicht.
»Auu!«, heulte Jezal und stolperte zurück. Er versuchte, den Hammer anders zu greifen, der ihm daraufhin auf den Fuß fiel. »Aaaargh!« Die Eisenstange knallte auf den Boden, als er sich unwillkürlich nach vorn beugte, um an seine protestierenden Zehen zu fassen. Er fühlte einen stechenden Schmerz, als Varuz ihm einen Streich auf den Hintern verpasste; der scharfe Knall war über den ganzen Hof zu hören. Jezal fiel vornüber aufs Gesicht.
»Das ist erbärmlich!«, brüllte der alte Mann. »Sie machen mich hier vor Major West lächerlich!« Der Major hatte seinen Stuhl wieder nach hinten gekippt und zitterte vor unterdrücktem Lachen. Jezal starrte auf die makellos polierten Stiefel des Marschalls und hatte keine Eile, wieder auf die Füße zu kommen.
»Aufstehen, Hauptmann Luthar!«, donnerte Varuz. »Zumindest meine Zeit ist kostbar!«
»Schon gut, schon gut!« Jezal richtete sich mühsam wieder auf und stand schwankend in der heißen Sonne. Der Schweiß lief ihm in Strömen herunter, und er rang nach Luft.
Varuz trat nahe an ihn heran und schnupperte seinen Atem. »Haben Sie heute schon getrunken?«, fragte er mit gesträubtem grauem Schnurrbart. »Und gestern Nacht wohl auch, nicht wahr!« Jezal antwortete nicht. »Na schön, wenn Sie es nicht anders haben wollen! Wir haben hier Arbeit vor uns, Hauptmann Luthar, und die kann ich nicht allein erledigen! Vier Monate sind es bis zum Turnier, ich habe nur noch vier Monate, um einen Meisterfechter aus Ihnen zu machen!«
Varuz wartete auf eine Antwort, aber Jezal fiel keine ein. Er machte das alles im Grunde nur seinem Vater zuliebe, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, dass der alte Soldat das nicht hören wollte, und er hatte keine Lust, noch einen Schlag abzubekommen. »Bah!«, bellte Varuz Jezal ins Gesicht und wandte sich, den Stock fest in beiden Händen über dem Rücken, von ihm ab.
»Marschall Var…«, begann Jezal, aber noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, war Varuz wieder herumgewirbelt und hatte ihm einen hässlichen Stoß in den Magen versetzt.
»Gargh«, gurgelte Jezal, als er in die Knie ging. Varuz sah auf ihn hinunter.
»Sie werden jetzt ein bisschen für mich laufen, Herr Hauptmann.«
»Aaargh.«
»Sie werden von hier bis zum Kettenturm rennen. Dort laufen Sie den Turm nach oben bis zur Brustwehr. Wir werden wissen, wann Sie dort ankommen, denn der Major und ich werden eine angenehme Runde Vierseits drüben auf dem Dach spielen«, er deutete auf das sechsstöckige Gebäude hinter ihm, »und von dort aus hat man die Turmspitze prächtig im Blick. Ich werde Sie mit meinem Fernrohr genau erkennen können, also kommen Sie ja nicht wieder auf den Gedanken zu mogeln!« Mit diesen Worten schlug er Jezal auf den Kopf.
»Au«, sagte Jezal und rieb sich die schmerzende Stelle.
»Nachdem Sie sich oben auf dem Dach gezeigt haben, laufen Sie zurück. Sie laufen so schnell Sie können, und darauf kann ich mich verlassen, denn falls Sie noch nicht wieder da sein sollten, wenn wir unsere Partie beendet haben, dürfen Sie noch einmal loslaufen.« Jezal zuckte zusammen. »Major West ist ein äußerst erfahrener Spieler im Vierseits, also sollte ich wohl eine halbe Stunde brauchen, um ihn zu besiegen. Ich würde vorschlagen, Sie machen sich auf den Weg.«
Jezal sprang auf die Füße und lief durch den Torbogen auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs, während er wilde Verwünschungen murmelte.
»Sie werden schon ein bisschen schneller machen müssen, Hauptmann!«, rief Varuz ihm nach. Jezals Beine schienen wie aus Blei zu sein, aber er zwang sich zu einer schnelleren Gangart.
»Hoch mit den Knien!«, brüllte Major West gut gelaunt.
Jezal stolperte durch die Einfahrt an dem grinsenden Wachmann vorbei, der an der Tür saß, und hinaus auf die breite Prachtstraße, die dahinter lag. Er lief an den efeubewachsenen Mauern der Universität entlang und verfluchte Varuz und West zwischen seinen keuchenden Atemzügen; dann trabte er am beinahe fensterlosen, gewaltigen Haus der Befragungen vorbei, dessen schweres Tor fest geschlossen war. Er begegnete einigen farblosen Schreiberlingen, die hier oder dort entlangwuselten, aber im Agriont war es um diese nachmittägliche Stunde ruhig, und er sah niemanden von Bedeutung, bevor er den Park erreichte.
Drei junge Damen der Gesellschaft saßen im Schatten der breit ausufernden Weide am See, bewacht von einer ältlichen Anstandsdame. Jezal beschleunigte sofort seinen Schritt und setzte statt der gequälten Miene schnell ein nonchalantes Lächeln auf.
»Meine Damen«, grüßte er, als er vorbeieilte. Er hörte, wie sie miteinander kicherten, und beglückwünschte sich still, aber sobald sie ihn nicht mehr sehen konnten, fiel er in den alten Trab zurück.
»Verdammt sei dieser Varuz«, brummte er zu sich selbst. Als er auf den Weg der Könige einbog, war aus seinem Lauf allenfalls noch ein mäßig schneller Schritt geworden, aber sogleich musste er das Tempo wieder steigern. Kronprinz Ladisla stand keine zwanzig Schritt von ihm entfernt, umgeben von seinem zahlreichen, bunt gekleideten Gefolge.
»Hauptmann Luthar!«, rief Seine Hoheit, während das Sonnenlicht sich auf seinen protzigen goldenen Knöpfen brach, »laufen Sie, was Sie können! Ich habe beim Turnier tausend Mark auf Sie gesetzt!«
Jezal wusste aus verlässlicher Quelle, dass der Prinz vielmehr zweitausend Mark auf Bremer dan Gorst gewettet hatte, aber er verbeugte sich dennoch so tief, wie es ihm im Weiterlaufen möglich war. Die Dandys der Entourage des Prinzen spendeten Beifall und riefen seiner sich allmählich entfernenden Rückseite halbherzige Ermunterungen nach. »Vollidioten«, zischte Jezal leise, der nur zu gern einer von ihnen gewesen wäre.
Er lief an den riesigen steinernen Standbildern der Hochkönige der letzten vierhundert Jahre vorbei, denen auf der anderen Seite ein wenig kleinere Statuen ihrer treuen Gefolgsleute gegenüberstanden. Bevor er zum Marschallsplatz einbog, nickte er dem großen Magus Bayaz zu, aber der Zauberer starrte so grimmig und missbilligend wie immer zurück, wobei die weiße Spur Taubendreck, die seine steinerne Wange zierte, die Ehrfurcht gebietende Wirkung seines Blicks nur wenig minderte.
Da der Offene Rat gegenwärtig tagte, war der Platz beinahe verlassen, und Jezal trottete hinüber zum Tor der Heereshallen. Ein grobschlächtiger Feldwebel nickte ihm zu, als er an ihm vorbeiging, und Jezal fragte sich, ob er wohl zu seiner eigenen Kompanie gehörte – die einfachen Soldaten sahen irgendwie alle gleich aus. Er übersah den Mann und lief zwischen den hohen weißen Gebäuden weiter.
»Na wunderbar«, murmelte er dann. Jalenhorm und Kaspa saßen an der Tür zum Kettenturm, rauchten Pfeife und lachten. Diese Drecksäcke mussten gewusst haben, dass er hier entlangkommen würde.
»Für Ruhm und Ehre!«, bellte Kaspa und rasselte mit seinem Degen in der Scheide, als Jezal vorbeilief. »Lassen Sie den Lord Marschall nicht warten!«, rief er ihm nach, und Jezal hörte, wie Jalenhorm vor Lachen brüllte.
»Verdammte Idioten«, keuchte er, während er die Tür mit der Schulter aufdrückte. Sein Atem ging in schweren Stößen, als er die steile Wendeltreppe in Angriff nahm. Der Turm war einer der höchsten des ganzen Agrionts und zählte insgesamt zweihunderteinundneunzig Stufen. »Verdammte Treppen!«, fluchte er. Als er die hundertste Stufe erreicht hatte, brannten seine Beine, und seine Brust hob und senkte sich heftig. Als er die zweihundertste erreichte, war er ein Wrack. Er ging die restliche Strecke; jeder Schritt war reine Folter, und schließlich taumelte er aus einer kleinen Luke hinaus aufs Dach und lehnte sich gegen die Brüstung, in die plötzliche Helligkeit blinzelnd.
Richtung Süden breitete sich die Stadt unter ihm aus, ein endloser Teppich weißer Häuser erstreckte sich entlang der glitzernden Bucht. Auf der anderen Seite, wo sich der Agriont erstreckte, bot sich ihm ein sogar noch beeindruckenderer Blick. Ein großes Durcheinander erhabener Gebäude türmte sich dort auf, unterbrochen von grünen Rasenflächen und großen Bäumen, umgeben von einem breiten Wehrgraben und der hohen Mauer, die von hundert erhabenen Türmen gekrönt war. Der Weg der Könige verlief wie ein Schnitt mitten durch das Zentrum und führte auf das Fürstenrund zu, dessen Bronzekuppel in der Sonne glänzte. Die hohen Turmspitzen der Universität erhoben sich dahinter, und noch weiter entfernt dräute das düstere, gewaltige Haus des Schöpfers, das alles andere überragte wie ein dunkler Berg und seinen langen Schatten auf die Bauwerke unter ihm warf.
Jezal bildete sich ein, dass er Marschall Varuz’ Fernrohr in der Sonne blinken sah. Er fluchte erneut und machte sich auf den Rückweg.
Als Jezal das Dach erreicht hatte, stellte er zu seiner großen Erleichterung fest, dass noch immer ein paar weiße Steine auf dem Spielbrett lagen.
Marschall Varuz funkelte ihn an. »Sie haben wirklich großes Glück. Der Major hat sich sehr energisch gewehrt.« Ein Lächeln zog über Wests Gesicht. »Irgendwie haben Sie sich wohl seinen Respekt verdient, auch wenn Ihnen das bei mir noch nicht gelungen ist.«
Jezal beugte sich nach vorn, die Hände auf den Knien, holte tief Atem und ließ Schweiß auf den Boden tropfen. Varuz nahm einen länglichen Koffer vom Tisch, ging zu Jezal hinüber und klappte ihn auf. »Zeigen Sie uns Ihre Figuren.«
Jezal nahm die kurze Klinge in seine linke und die lange Klinge in die rechte Hand. Nach dem schweren Eisen fühlten sie sich nun federleicht an. Marschall Varuz trat einen Schritt zurück. »Fangen Sie an.«
Jezal stürzte sich in die erste Figur, den rechten Arm ausgestreckt, den linken nahe am Körper. Die Klingen pfiffen und zischten durch die Luft und funkelten in der Sonne, während Jezal mit wohlgeübter Leichtigkeit von einer vertrauten Körperhaltung zur nächsten überging. Schließlich war er fertig und ließ beide Waffen sinken.
Varuz nickte. »Der Hauptmann hat flinke Hände, nicht wahr?«
»Wirklich hervorragend«, sagte Major West mit breitem Lächeln. »Er ist um einiges besser, als ich es je war.«
Der Lord Marschall war weniger beeindruckt. »Sie haben die Knie in der dritten Figur zu sehr gebeugt, in der vierten müssen Sie sich um mehr Reichweite mit dem linken Arm bemühen, aber sonst«, er machte eine Pause, »war das ganz passabel.« Jezal atmete erleichtert auf. Das war ein großes Lob.
»Ha!«, rief der alte Mann und schlug ihm mit der Schmalseite des Koffers gegen die Rippen. Jezal sank auf den Boden und bekam kaum noch Luft. »Ihre Reflexe müssen Sie aber noch trainieren, Hauptmann. Sie sollten stets auf der Hut sein. Jederzeit. Wenn Sie Klingen in der Hand haben, sollten Sie sie verdammt noch mal hoch halten.«
»Ja, Herr Marschall«, krächzte Jezal.
»Ihr Durchhaltevermögen ist zudem erbärmlich, Sie schnappen ja nach Luft wie ein Karpfen. Ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass Bremer dan Gorst jeden Tag zehn Meilen läuft und danach kaum verschwitzt ist.« Marschall Varuz beugte sich über ihn. »Von nun an werden Sie das auch so halten. O ja. Einen Rundlauf um den Agriont jeden Morgen um sechs, danach eine Stunde Zweikampf gegen Major West, der sich freundlicherweise bereit erklärt hat, als Ihr Partner zur Verfügung zu stehen. Ich bin überzeugt, dass er Sie auf all Ihre Schwächen in Ihrer Technik aufmerksam machen wird.«
Jezal blickte gequält drein und rieb sich die schmerzenden Rippen. »Was Ihre Sauferei angeht, damit ist ab sofort Schluss. Ich habe nichts dagegen, wenn man sich zu gegebener Zeit amüsiert, aber dazu werden Sie nach dem Turnier noch genug Gelegenheit haben – vorausgesetzt, dass Sie gewinnen. Bis dahin müssen wir uns einer untadeligen Lebensweise befleißigen. Haben Sie mich verstanden, Hauptmann Luthar?« Er beugte sich noch weiter herunter und sprach jedes Wort mit großer Sorgfalt aus. »Eine. Untadelige. Lebensweise. Herr Hauptmann.«
»Ja, Herr Marschall«, murmelte Jezal.
Sechs Stunden später war er besoffen wie ein Schwein. Mit irrem Gelächter taumelte er auf die Straße, während sich die Welt vor seinen Augen drehte. Die kalte Luft traf ihn hart im Gesicht, die kleinen hässlichen Gebäude wankten und schwankten, die schlecht beleuchtete Straße neigte sich wie ein sinkendes Schiff. Jezal kämpfte heldenhaft gegen den Drang, sich zu übergeben, tat einen unsicheren Schritt auf die Straße hinaus und wandte sein Gesicht zur Tür. Verschwommenes helles Licht und lautes Gelächter drangen wie in Wellen zu ihm heraus. Ein unscharfer Schatten flog ihm aus der Taverne entgegen und schlug gegen seine Brust. Jezal rang verzweifelt mit ihm, dann stürzte er und schlug mit einem Aufprall auf den Boden, der jeden einzelnen Knochen in seinem Körper erschütterte.
Für einen Augenblick war alles schwarz um ihn herum. Dann merkte er, dass er im Dreck lag, halb begraben unter Kaspa. »Verdammt!«, gurgelte er, wobei ihm die Zunge dick und unbeweglich im Mund lag. Er schob den kichernden Leutnant mit dem Ellenbogen von sich weg, rollte sich auf Hände und Füße und stand mit einem Ruck auf, während die Straße wie eine Wippe um ihn herum schwankte. Kaspa lag auf dem Rücken auf der schlammigen Straße, erstickte fast vor Lachen und war umgeben von einem Dunst aus billigem Fusel und kaltem Rauch. Halbherzig versuchte Jezal, den Schmutz von seiner Uniform zu bürsten. Auf seiner Brust war ein großer nasser Fleck, der nach Bier roch. »Verdammt!«, murmelte er wieder. Wann war denn das passiert?
Dann wurde er gewahr, dass auf der anderen Straßenseite Rufe und Gebrüll erschallten. Zwei Männer rangelten in einem Hauseingang miteinander. Jezal kniff die Augen zusammen und versuchte, im Dämmerlicht etwas zu erkennen. Ein großer Kerl hatte einen gut gekleideten Herrn gepackt und schien ihm die Hände auf dem Rücken zusammenbinden zu wollen. Nun zog er ihm eine Art Sack über den Kopf. Jezal zwinkerte ungläubig. Das hier war zwar nicht die anständigste Gegend, aber das war nun doch ein bisschen stark.
Die Tür der Taverne flog auf, und West und Jalenhorm kamen heraus, in eine trunkene Unterhaltung vertieft, in der es um irgendeine Schwester ging. Helles Licht strahlte über die Straße hinweg und beleuchtete grell die beiden kämpfenden Männer. Der große war ganz in Schwarz gekleidet, und der untere Teil seines Gesichts war von einer Maske verdeckt. Er hatte weißes Haar, weiße Augenbrauen und eine milchweiße Haut. Jezal starrte den weißen Teufel auf der anderen Straßenseite an, und der starrte mit zusammengekniffenen rosa Augen zurück.
»Hilfe!« Das war der Herr mit dem Sack über dem Kopf, der da mit angstvoller Stimme schrie. »Hilfe, ich werde …« Der weiße Mann versetzte ihm einen hässlichen Schlag gegen die Körpermitte, und er klappte mit einem Aufstöhnen zusammen.
»Ihr da!«, brüllte West.
Jalenhorm eilte bereits über die Straße.
»Was?«, fragte Kaspa, der, auf die Ellenbogen gestützt, noch immer auf der Straße lag.
Jezals Verstand watete wie durch Schlamm, aber seine Füße schienen Jalenhorm folgen zu wollen, also stolperte er ihnen hinterher, während ihm allmählich richtig übel wurde. West kam ihnen nach. Der weiße Geist fuhr zusammen und drängte sich vor seinen Gefangenen. Ein weiterer Mann trat nun mit schnellem Schritt aus den Schatten, groß und dünn, ebenfalls schwarz gekleidet und maskiert, aber mit langem, fettigem Haar. Er hob eine behandschuhte Hand.
»Meine Herren«, sagte er mit weinerlicher, sehr gewöhnlicher Stimme, die von seiner Maske gedämpft wurde, »meine Herren, ich bitte Sie, wir sind im Auftrag des Königs hier!«
»Die Aufträge des Königs werden bei Tag erledigt«, knurrte Jalenhorm.
Die Maske des Neuankömmlings zuckte leicht, als er lächelte. »Deswegen braucht er uns für die nächtlichen Unternehmungen, was, mein Freund?«
»Wer ist dieser Mann?« West deutete auf den Herrn mit dem Sack über dem Kopf.
Der Gefangene begann wieder zu zappeln. »Ich bin Sepp dan – uff!« Das weiße Monstrum hatte ihn mit einem schweren Fausthieb ins Gesicht zum Schweigen gebracht, und er sank reglos zu Boden.
Jalenhorm legte die Hand auf den Knauf seines Degens, die Zähne zusammengebissen, und der weiße Geist sprang mit beängstigender Geschwindigkeit auf ihn zu. Aus der Nähe war er sogar noch riesiger, fremdartiger und erschreckender.
Jalenhorm trat unwillkürlich einen Schritt zurück, kam auf dem unebenen Straßenbelag ins Straucheln und fiel krachend auf den Rücken. In Jezals Kopf pochte es.
»Zurück!«, bellte West. Sein Degen schoss mit leisem Singen aus der Scheide.
»Fffaaaa!«, zischte das Monstrum und ballte die Fäuste, die wie weiße Felsbrocken wirkten.
»Aaargh«, gurgelte der Mann mit dem Sack über dem Kopf.
Jezal schlug das Herz bis zum Hals. Er sah den dünnen Mann an. Die Augen des Mannes lächelten zurück. Wie konnte jemand in einem solchen Augenblick lächeln? Überrascht stellte Jezal fest, dass der andere ein langes, hässliches Messer in der Hand hielt. Wo hatte er das so schnell her? Betrunken griff er nach seinem Degen.
»Major West!« Eine Stimme drang aus den Schatten auf die Straße. Jezal hielt unschlüssig inne, die Klinge halb herausgezogen. Jalenhorm kam taumelnd wieder auf die Füße. Seine Uniform war auf dem Rücken schlammverkrustet. Er zog seinen Degen. Das bleiche Monstrum starrte sie ohne zu blinzeln an und trat nicht einmal um eine Handbreit zurück.
»Major West«, sagte die Stimme wieder und war nun begleitet von einem klickenden, scharrenden Geräusch. West war bleich geworden. Eine Gestalt löste sich aus den Schatten; sie hinkte stark, und ein Stock tappte durch den Schmutz. Ein breitkrempiger Hut verdeckte den oberen Teil des Gesichts, aber der Mund war zu einem seltsamen Lächeln verzerrt. Mit einer plötzlichen Welle von Übelkeit erkannte Jezal, dass diesem Mann die vier Vorderzähne fehlten. Er schlurfte ihnen entgegen, ohne auf die gezogenen Klingen zu achten, und bot West seine freie Hand.
Der Major schob seinen Degen langsam wieder in die Scheide, nahm die Hand und schüttelte sie schlaff. »Oberst Glokta?«, fragte er mit heiserer Stimme.
»Zu Ihren Diensten, obwohl ich nicht mehr beim Heer bin. Inzwischen diene ich der Königlichen Inquisition.« Er hob langsam den Arm und lüftete den Hut. Sein Gesicht war todesbleich, von tiefen Furchen durchzogen, und sein kurz geschorenes Haar war an vielen Stellen ergraut. Die Augen waren von tiefen, dunklen Ringen umlagert und starrten sie fieberhell an, das linke auffällig schmaler als das rechte, mit gerötetem Rand und feucht schimmernd. »Und dies sind meine Assistenten, die Praktikalen Severard«, der Hochaufgeschossene verbeugte sich spöttisch, »und Frost.«
Das weiße Monstrum riss den Gefangenen mit einer Hand in die Höhe. »Halt«, sagte Jalenhorm und trat vor, aber der Inquisitor legte ihm sanft die Hand auf den Arm.
»Dieser Mann ist Gefangener der Inquisition Seiner Majestät, Leutnant Jalenhorm.« Der große Offizier stutzte, dass er derart beim Namen genannt wurde. »Mir ist bewusst, dass Sie aus den edelsten Motiven handeln, aber er ist ein Verbrecher, ein Verräter. Ich habe einen Haftbefehl gegen ihn, den Erzlektor Sult persönlich unterschrieben hat. Er ist Ihrer Unterstützung wirklich überhaupt nicht würdig, glauben Sie mir.«
Jalenhorm verzog das Gesicht und starrte mit Unheil verkündendem Blick auf Praktikal Frost. Der bleiche Teufel wirkte erschrocken. Ungefähr so erschrocken wie ein Stein. Er hob sich den Gefangenen ohne sichtbare Mühe über die Schulter und trat auf die Straße. Der, den man Severard genannt hatte, lächelte mit den Augen, steckte das Messer in die Scheide, verbeugte sich erneut und folgte seinem Begleiter, wobei er unmusikalisch vor sich hin pfiff.
Das linke Augenlid des Inquisitors begann zu zittern, und Tränen rollten über seine bleiche Wange. Er wischte sie sorgfältig mit dem Handrücken weg. »Ich bitte um Vergebung. Aufrichtig. Es will schon etwas heißen, wenn ein Mann nicht einmal seine eigenen Augen mehr im Griff hat, nicht wahr? Verdammtes tränendes Glibberzeug. Manchmal denke ich, ich sollte es einfach rausreißen lassen und mir lieber eine Augenklappe spendieren.« Jezals Magen rebellierte. »Wie lange ist es her, West? Sieben Jahre? Acht?«
Ein Muskel zuckte im Gesicht des Majors. »Neun.«
»Stelle man sich das nur vor. Neun Jahre. Ist denn das zu glauben? Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen. Es war auf dem Grat des Berges, nicht wahr, wo wir uns trennten?«
»Auf dem Grat, ja.«
»Seien Sie unbesorgt, West, ich gebe Ihnen keinerlei Schuld.« Glokta schlug dem Major herzlich auf den Arm. »Jedenfalls nicht dafür. Sie haben versucht, es mir auszureden, wie Sie sicher noch wissen. Ich hatte in Gurkhul immerhin Zeit genug, darüber nachzudenken. Viel Zeit. Sie waren mir immer ein guter Freund. Und jetzt ist der junge Collem West ein Major bei den Königstreuen, wer hätte das gedacht.« Jezal hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprachen. Er wollte nur kotzen und dann ins Bett.
Inquisitor Glokta sah ihn mit einem Lächeln an und zeigte einmal mehr die grässliche Lücke in seinen Zähnen. »Und das ist sicher Hauptmann Luthar, auf den jeder beim kommenden Turnier so große Hoffnungen setzt. Marschall Varuz ist ein harter Zuchtmeister, nicht wahr?« Er machte eine schwache Bewegung mit seinem Stock in Jezals Richtung. »Vorwärts, zustoßen, was, Herr Hauptmann? Stoßen, stoßen.«
Jezal fühlte, wie ihm die Galle hochkam. Er hustete und sah auf seine Füße, krampfhaft darum kämpfend, dass sich seine Umgebung endlich zu drehen aufhörte. Der Inquisitor sah sie alle der Reihe nach erwartungsvoll an. West sah blass aus. Jalenhorm dreckverschmiert und schmollend. Kaspa saß noch immer auf der Straße. Keiner von ihnen hatte etwas zu sagen.
Glokta räusperte sich. »So, die Pflicht ruft.« Er verbeugte sich steif. »Aber ich hoffe, ich sehe Sie alle einmal wieder. Schon bald.« Jezal hoffte spontan, dass er dem Mann nie wieder würde begegnen müssen.
»Vielleicht fechten wir wieder einmal miteinander?«, murmelte Major West.
Glokta lachte gutmütig. »Oh, das würde ich nur zu gern, West, aber ich merke doch immer wieder, dass ich dafür inzwischen ein bisschen zu verkrüppelt bin. Wenn Sie Lust auf ein Duell haben, dann stünde Praktikal Frost Ihnen sicher gern zur Verfügung«, er sah zu Jalenhorm herüber, »aber ich muss Sie warnen, er kämpft nicht wie ein Edelmann. Ich wünsche Ihnen allen einen angenehmen Abend.« Er schob sich den Hut wieder auf den Kopf, drehte sich langsam um und schlurfte die heruntergekommene Straße hinunter.
Die drei Offiziere sahen ihm nach, wie er in grenzenloser, beklemmender Stille davonhinkte. Endlich stolperte auch Kaspa zu ihnen.
»Was war denn da los?«, fragte er.
»Nichts«, sagte West durch die zusammengebissenen Zähne hindurch. »Am besten vergessen wir, dass es überhaupt geschehen ist.«