DIE KÖNIGLICHE GERECHTIGKEIT
Schon als Jezal den Marschallsplatz erreichte, wurde ihm klar, dass etwas nicht in Ordnung war. Sonst war hier nicht halb so viel los, bevor der Offene Rat zusammentrat. Er sah die eng beieinander stehenden Grüppchen elegant gekleideter Leute, während er, etwas verspätet und noch außer Atem von seiner langen Übungsstunde, an ihnen vorübereilte. Man sprach mit gedämpfter Stimme, und die Gesichter waren ernst und voller gespannter Erwartung.
Mit etwas Mühe drängte er sich durch die Menge bis zum Fürstenrund und sah dann misstrauisch zu den Wachen, die links und rechts von den intarsienverzierten Toren standen. Wenigstens sie sahen so aus wie immer, ihre schweren Visiere ließen keinerlei Regung erkennen. Er eilte durch den Vorraum, dessen bunte Wandteppiche sich in der Zugluft leicht bewegten, schlüpfte durch die Innentür und trat in den großen, kühlen Raum dahinter. Seine Schritte hallten von der vergoldeten Kuppel wider, als er schnell durch den Mittelgang auf den erhöhten Tisch zuging. Jalenhorm stand unter einem der hohen Fenster, dessen buntes Glas farbige Flecken auf sein Gesicht zauberte, und sah mit finsterer Miene auf eine Bank mit einer metallenen Stange rund um den Sockel, die an einer Seite vor den Rängen aufgestellt worden war.
»Was ist denn hier los?«
»Haben Sie noch gar nichts mitbekommen?« Jalenhorm sprach mit vor Aufregung heiserer Stimme. »Hoff hat bekannt gegeben, dass es wichtige Angelegenheiten zu besprechen gibt.«
»Worum geht es denn? Angland? Die Nordmänner?«
Der schwere Mann schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht, aber wir werden es ja bald erfahren.«
Jezal zog die Stirn in Falten. »Ich mag keine Überraschungen.« Seine Augen blieben an der geheimnisvollen Bank hängen. »Wofür ist die?« in diesem Augenblick schwangen die großen Türen auf, und die Ratsmitglieder strömten den Mittelgang entlang. Die übliche Mischung, vermutete Jezal, vielleicht etwas hochkarätiger als sonst. Die jüngeren Söhne, die bezahlten Stellvertreter … er hielt den Atem an. Ganz vorn stand jetzt ein großer Mann, der selbst für diese erwählte Gesellschaft überaus edel gekleidet war; eine schwere Goldkette lag auf seiner Brust, und er machte ein wichtiges, düsteres Gesicht.
»Lord Brock höchstpersönlich«, hauchte Jezal.
»Und da ist Lord Ischer.« Jalenhorm deutete mit dem Kinn zu einem gesetzten alten Mann gleich hinter Brock, »und Heugen und Barezin. Es ist irgendeine große Sache. Muss es ja wohl sein.«
Jezal atmete tief durch, während vier der mächtigsten Edelleute der Union in der ersten Reihe Platz nahmen. Er hatte noch nie erlebt, dass der Offene Rat derart gut besucht war. Kaum ein Platz im Halbkreis der Bänke war leer. Auf der Besuchergalerie hoch über ihnen zeigte sich ein geschlossener Ring angespannter Gesichter.
Jetzt schritt Hoff geschäftig durch die Türen und den Gang hinunter, und er war nicht allein. Zu seiner Rechten glitt ein hochgewachsener Mann dahin, schlank, mit stolzem Gesichtsausdruck und schlohweißem, dichtem Haarschopf, der einen langen, makellos weißen Mantel trug. Erzlektor Sult. Zu Hoffs Linken ging ein vornüber gebeugter Mann, der sich stark auf einen Stock stützte, ganz in Schwarz und Gold gekleidet und mit langem grauen Bart. Kronrichter Marovia. Jezal traute seinen Augen kaum. Drei Mitglieder des Geschlossenen Rates, und das hier.
Jalenhorm beeilte sich, seinen Platz einzunehmen, während die Schreiber ihre Berge von Akten und Papieren auf der polierten Tischplatte ausbreiteten. Der Lord Schatzmeister warf sich zwischen ihnen auf seinen Platz und rief sofort nach Wein. Das Oberhaupt der Inquisition Seiner Majestät schwang sich neben ihm auf einen Stuhl mit hoher Lehne und lächelte ein wenig in sich hinein. Kronrichter Marovia ließ sich langsam und mit finsterem Gesicht ebenfalls auf einen Platz sinken. Das gespannte Flüstern in der Halle schwoll nun noch einmal an, und die Gesichter der hohen Würdenträger in der ersten Reihe waren ernst und misstrauisch. Der Ratssprecher nahm vor dem erhöhten Tisch Aufstellung, aber diesmal war es nicht der grell gekleidete Narr, der sonst durch die Versammlung führte, sondern ein dunkler, bärtiger Mann mit breiter Brust. Er hielt den Stab in die Höhe und schlug ihn dann auf den Boden, als wolle er die Toten aufwecken.
»Hiermit erkläre ich die Versammlung des Offenen Rats der Union für eröffnet!«, bellte er. Das Gemurmel verebbte allmählich.
»Heute Morgen gibt es lediglich eine Angelegenheit zu besprechen«, erklärte der Lord Schatzmeister und blickte die Versammlung unter seinen dichten Brauen düster an, »eine Sache der königlichen Gerechtigkeit.« Hier und da wurde geflüstert. »Es geht um die königlichen Handelsrechte in der Stadt Westport.« Es wurde wieder lauter: zorniges Flüstern, unbehagliches Hin-und-her-Rutschen der edlen Hinterteile auf den Bänken, das vertraute Kratzen der Federn in den dicken Akten. Jezal sah, dass Lord Brock die Augenbrauen zusammengezogen hatte und Lord Heugens Mundwinkel nach unten wiesen. Ihnen schien diese Ankündigung nicht besonders zu gefallen. Der Lord Schatzmeister zog heftig die Luft durch die Nase ein und nahm einen Schluck Wein, während er darauf wartete, dass wieder Ruhe einkehrte. »Allerdings bin ich nicht berufen, über diese Angelegenheit zu sprechen …«
»In der Tat nicht!«, rief Lord Ischer scharf, der sich unruhig und mit verbissenem Gesichtsausdruck auf seinem Platz bewegte.
Hoff fasste den alten Lord ins Auge. »Daher rufe ich einen Mann auf, der sich besser auskennt! Mein Kollege aus dem Geschlossenen Rat, Erzlektor Sult.«
»Der Offene Rat erteilt Erzlektor Sult das Wort!«, donnerte der Ratssprecher, als das Oberhaupt der Inquisition elegant vom Podest herunter und auf den gefliesten Boden trat, wobei er den verärgerten Gesichtern, die ihm entgegenblickten, freundlich zulächelte.
»Meine edlen Herren«, begann er mit langsamer, melodiöser Stimme und begleitete seine Worte mit fließenden Handbewegungen, »in den vergangenen sieben Jahren, seit unserem ruhmreichen Sieg über Gurkhul, hat die Ehrenwerte Gilde der Tuchhändler exklusive königliche Handelsrechte in der Stadt Westport genossen.«
»Und sie haben gute Arbeit geleistet!«, brüllte Lord Heugen.
»Sie haben diesen Krieg für uns gewonnen!«, grollte Barezin und trommelte mit fleischiger Faust auf die Sitzbank neben ihm.
»Gute Arbeit!«
»Hervorragend!«, erscholl es aus der Versammlung.
Der Erzlektor nickte, während er darauf wartete, dass die Zwischenrufe wieder verebbten. »Das haben sie in der Tat«, sagte er und schritt wie ein Tänzer über die Fliesen, während seine Worte über die Seiten der Folianten kratzten. »Ich wäre der Letzte, der das in Frage stellen wollte. Gute Arbeit.« Mit einem Ruck wirbelte er herum, die Schöße seines weißen Mantels flatterten hinter ihm her, und sein Gesicht war von harter Brutalität verzerrt. »Gute Arbeit dabei, den König um seine Steuern zu betrügen!«, schrie er. Die Menge sog wie mit einem Mund die Luft ein.
»Gute Arbeit dabei, das Gesetz des Königs mit Füßen zu treten!« Wieder erschrockenes Atmen, diesmal lauter.
»Gute Arbeit dabei, Hochverrat zu begehen!« Ein Sturm des Widerspruchs, hochgereckter Fäuste und auf den Boden geworfener Papiere brandete durch das Fürstenrund. Wutentbrannte Gesichter starrten von der Besuchergalerie hinunter, und auf den Bänken vor dem erhöhten Tisch wurde zorniges Geschrei laut. Jezal sah sich unsicher um und fragte sich, ob er richtig gehört hatte.
»Wie können Sie es wagen, Sult!«, brüllte Lord Brock den Erzlektor an, der wieder auf das Podest zurückgeglitten war und ein leichtes Lächeln auf den Lippen trug.
»Wir verlangen Beweise!«, bellte Lord Heugen. »Wir verlangen Gerechtigkeit!«
»Die königliche Gerechtigkeit!«, erklang es von den hinteren Plätzen.
»Sie müssen uns Beweise vorlegen!«, rief Ischer, als es wieder leiser wurde.
Der Erzlektor zupfte an seinem weißen Gewand, und der feine Stoff umspielte ihn sanft, als er sich geschmeidig auf seinen Stuhl sinken ließ. »Genau das ist auch unsere Absicht, Lord Ischer!«
Der schwere Riegel einer kleinen Seitentür wurde mit einem laut hallenden Geräusch zurückgeschoben. Geraschel ertönte in der Halle, als sich die Lords und ihre Stellvertreter umdrehten, erhoben und mit zusammengekniffenen Augen hinüberblickten, um herauszufinden, was dort vor sich ging. Auf der Besuchergalerie beugten sich einige gefährlich über die Brüstung, um besser sehen zu können. Stille breitete sich in der Halle aus. Jezal schluckte. Von der anderen Seite der Tür war ein Kratzen, Tappen und Klacken zu hören, und dann trat eine finstere Prozession aus der Dunkelheit.
Sand dan Glokta kam als Erster, wie immer hinkend und auf seinen Stock gestützt, aber mit hoch erhobenem Kopf und einem verzerrten, zahnlosen Grinsen auf dem hageren Gesicht. Drei Männer schlurften hinter ihm her, an den Händen und den nackten Füßen mit Ketten aneinander gefesselt, die auf dem Weg zum erhöhten Tisch rasselten und klapperten. Ihre Köpfe waren kahl rasiert, und sie waren in braunes Sackleinen gekleidet. Die Gewandung bußfertiger Männer. Bekennender Verräter.
Der Erste der Gefangenen fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, sah mit unstetem Blick von einer Seite zur anderen und war bleich vor Entsetzen. Der Zweite, kleiner und untersetzt, ging stolpernd und vornüber gebeugt, wobei er das linke Bein nachzog und den Mund ausdruckslos geöffnet hatte. Während Jezal ihn ansah, rann ein dünner Faden rosafarbenen Speichels von seiner Lippe und tropfte schließlich auf den Boden. Der Dritte, entsetzlich dünn und mit dunklen Ringen unter den Augen, sah sich langsam und mit zuckenden Lidern um, aber offenbar, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Den Mann, der hinter den drei Gefangenen einher schritt, erkannte Jezal sofort: der große Albino, den er damals nachts auf der Straße gesehen hatte. Jezal verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und fühlte sich plötzlich kalt und unbehaglich.
Nun wurde auch der Zweck der Bank offensichtlich. Die drei Gefangenen nahmen zusammengesunken darauf Platz, und der Albino kniete sich hin und ließ die Schellen ihrer Fußfesseln an der Stange einschnappen, die um den Sockel lief. In der Halle herrschte völliges Schweigen. Alle Augen waren auf den verkrüppelten Inquisitor und seine drei Gefangenen gerichtet.
»Unsere Untersuchung begann bereits vor einigen Monaten«, sagte Erzlektor Sult, der es ausgesprochen zu genießen schien, dass die ganze Versammlung an seinen Lippen hing. »Es ging zunächst um gewisse Unregelmäßigkeiten bei der Buchführung, mit deren Einzelheiten ich Sie nicht langweilen will.« Er lächelte zu Block, zu Ischer, zu Barezin hinüber. »Ich weiß, dass Sie alle viel beschäftigte Männer sind. Aber wer hätte gedacht, dass eine so kleine Angelegenheit uns schließlich hierher führen würde? Wer hätte vermutet, dass die Wurzeln des Verrats so tief reichen?«
»In der Tat«, sagte der Lord Schatzmeister ungeduldig und sah von seinem Weinkelch auf. »Inquisitor Glokta, der Saal gehört Ihnen.«
Der Ratssprecher schlug mit dem Stab auf die Fliesen. »Der Offene Rat der Union erteilt Sand dan Glokta, freigestellter Inquisitor Seiner Majestät, das Wort!«
Der Krüppel wartete höflich, bis das Kratzen der Federkiele verklungen war, lehnte sich vor den Bänken auf seinen Stock und schien von der Bedeutung dieses Augenblicks völlig unbeeindruckt. »Stehen Sie auf und stellen Sie sich dem Offenen Rat«, sagte er dann, an den ersten der Gefangenen gewandt.
Der verängstigte Mann sprang auf, seine Ketten rasselten, und er leckte sich die bleichen Lippen, während er mit geweiteten Augen die Edelleute in der ersten Reihe anstarrte. »Ihr Name?«, fragte Glokta.
»Salem Rews.«
Jezal fühlte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Salem Rews? Er kannte diesen Mann! Sein Vater hatte mit ihm früher einmal zu tun gehabt, und er war eine Zeit lang regelmäßig auf ihrem Anwesen ein und aus gegangen! Jezal sah den vor Angst bebenden, kahl rasierten Verräter mit wachsendem Entsetzen an, und er dachte zurück an den rundlichen, gut gekleideten Kaufmann, der stets einen lustigen Spruch auf den Lippen gehabt hatte. Das war er, kein Zweifel. Ihre Blicke trafen sich kurz, und Jezal sah schnell zur Seite. Sein Vater hatte zu Hause in ihrer Eingangshalle mit diesem Mann gesprochen! Er hatte ihm die Hand geschüttelt! Der Vorwurf des Verrats ist wie eine Krankheit – man kann ihn sich einfangen, allein dadurch, dass man sich im gleichen Raum befindet! Jezals Augen wanderten wie von einer unsichtbaren Macht gezwungen zurück auf das unbekannte und doch entsetzlich vertraute Gesicht. Er, ein Verräter – wie konnte dieser Bastard es wagen?
»Sie sind ein Mitglied der ehrenwerten Tuchhändlergilde?«, fuhr Glokta fort, wobei er das Wort ›ehrenwert‹ verächtlich betonte.
»Das war ich«, murmelte Rews.
»Welche Rolle hatten Sie bei der Gilde inne?« Der kahlrasierte Kaufmann sah sich verzweifelt um. »Ihre Rolle?«, hakte Glokta nach, und seine Stimme bekam einen scharfen Klang.
»Ich habe mich an einer Verschwörung beteiligt, um den König um seine Steuern zu betrügen!«, rief Rews aus und rang die Hände. Schockiertes Gemurmel durchzog die Halle. Jezal schluckte beißenden Speichel hinunter. Er sah, wie Sult selbstgefällig zu Kronrichter Marovia hinüberlächelte. Das Gesicht des alten Mannes war steinern und ausdruckslos, aber seine Fäuste lagen geballt vor ihm auf dem Tisch. »Ich habe Verrat begangen! Für Geld! Ich habe geschmuggelt, ich habe Leute bestochen, und ich habe gelogen … wir steckten alle mit drin!«
»Sie alle!« Glokta sah mit schiefem Grinsen in die Versammlung. »Und falls jemand von Ihnen das bezweifeln sollte – wir haben Dokumente und Zahlen, die das belegen. Ein ganzer Raum im Haus der Befragungen liegt voller Beweismaterial. Ein Raum voller Geheimnisse, Schuld und Lügen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Eine sehr traurige Lektüre, das kann ich Ihnen versichern.«
»Ich musste es tun!«, kreischte Rews. »Sie haben mich gezwungen! Ich hatte keine Wahl!«
Der verkrüppelte Inquisitor sah mit finsterer Miene auf sein Publikum. »Natürlich hat man Sie gezwungen. Uns ist völlig klar, dass Sie nur ein kleiner Mauerstein in diesem Haus der Schande und der Ehrlosigkeit sind. Man hat kürzlich einen Anschlag auf Ihr Leben verübt, nicht wahr?«
»Die haben versucht, mich umzubringen!«
»Wer hat das versucht?«
»Es war dieser Mann!«, heulte Rews mit brechender Stimme und zeigte mit zitterndem Finger auf den Gefangenen neben sich, von dem er nun so weit abzurücken versuchte, wie es ihm die Fesseln, die sie beide verbanden, erlaubten. »Er war es! Er!« Die Ketten rasselten, als er mit den Armen fuchtelte, Speicheltröpfchen flogen aus seinem Mund. Wieder brandeten zornige Stimmen auf, dieses Mal noch lauter. Jezal sah, wie der Kopf des mittleren Gefangenen wegsackte und er zur Seite rutschte, aber der riesenhafte Albino ergriff ihn und zog ihn hoch, bis er wieder aufrecht saß.
»Wachen Sie auf, Meister Carpi!«, rief Glokta. Der schlaff herunterhängende Kopf hob sich langsam. Ein unbekanntes Gesicht, seltsam angeschwollen und stark von Aknenarben gezeichnet. Jezal sah voller Ekel, dass ihm vier Vorderzähne fehlten. Ganz wie bei Glokta.
»Sie sind aus Talins, nicht wahr, in Styrien?« Der Mann nickte langsam und dumpf, wie jemand im Halbschlaf. »Sie werden bezahlt, um Menschen umzubringen, nicht wahr?« Er nickte wieder. »Und Sie wurden angeheuert, um zehn Untertanen Seiner Majestät zu töten, unter anderem diesen bekennenden Verräter, Salem Rews?« Ein dünner Blutfaden rann langsam aus der Nase des Mannes, und er verdrehte die Augen. Der Albino rüttelte ihn an der Schulter, er kam wieder zu sich und nickte erschöpft. »Was geschah mit den anderen neun?« Schweigen. »Sie haben sie getötet, nicht wahr?« Wieder ein Nicken, und aus der Kehle des Gefangenen drang ein seltsames, klickendes Geräusch.
Glokta sah mit gerunzelter Stirn in die gespannten Gesichter der Versammlung. »Villem dan Robb, Zollbeamter, wurde die Kehle von einem Ohr zum anderen durchgeschnitten.« Er fuhr sich mit dem Finger über den Hals, und eine Frau auf der Besuchergalerie schrie auf. »Solimo Scandi, Kaufmann, mit vier Stichen in den Rücken umgebracht.« Er streckte vier Finger hoch und presste sie dann gegen seinen Bauch, als sei ihm übel. »Die blutige Liste ist damit nicht zu Ende. Sie alle wurden ermordet, und das nur, um größere Profite machen zu können. Wer hat Sie beauftragt?«
»Er«, krächzte der Mörder und wandte sein geschwollenes Gesicht dem hageren Mann mit den glasigen Augen zu, der zusammengesunken neben ihm auf der Bank hockte und von seiner Umgebung nichts mitzubekommen schien. Glokta humpelte zu ihm herüber, sein Stock klapperte über die Fliesen.
»Wie heißen Sie?«
Der Kopf des Gefangenen fuhr hoch, die Augen konzentrierten sich auf das schiefe Gesicht des Inquisitors über ihm. »Gofred Hornlach!«, antwortete er sofort mit schriller Stimme.
»Sie sind ein hochrangiges Mitglied der Tuchhändlergilde?«
»Ja!«, rief er, dumpf zu Glokta aufblinzelnd.
»Einer der Stellvertreter von Magister Kault?«
»Ja!«
»Haben Sie sich mit anderen Tuchhändlern verschworen, Seiner Majestät dem König Steuern vorzuenthalten? Haben Sie einen Mörder gedungen, um zehn Untertanen Seiner Majestät umzubringen?«
»Ja! Ja!«
»Wieso?«
»Wir hatten Angst, dass sie erzählen würden, was sie wussten … erzählen, was sie wussten … erzählen …« Hornlachs leere Augen starrten eines der farbigen Fenster an. Sein Mund hörte allmählich auf, sich zu bewegen.
»Erzählen, was sie wussten?«, hakte der Inquisitor nach.
»Über die verräterischen Geschehnisse in der Gilde!«, sprudelte der Tuchhändler hervor. »Über unseren Verrat! Über die Geschehnisse in der Gilde … verräterischen … Geschehnisse …«
Glokta fiel ihm scharf ins Wort. »Haben Sie allein gehandelt?«
»Nein! Nein!«
Der Inquisitor pochte mit dem Stock vor ihm auf die Fliesen und beugte sich dann nach vorn. »Wer gab den Befehl?«
»Magister Kault!«, rief Hornlach sofort. »Er gab den Befehl!« Das Publikum hielt den Atem an. Erzlektor Sult lächelte noch etwas selbstzufriedener. »Es war Kault! Er gab den Befehl! Alle Befehle! Magister Kault!«
»Ich danke Ihnen, Meister Hornlach.«
»Der Magister! Er gab den Befehl! Magister Kault! Kault! Kault!«
»Das reicht!«, fuhr ihn Glokta an. Der Gefangene verstummte. Im Saal herrschte Stille.
Erzlektor Sult erhob den Arm und deutete auf die drei Gefangenen. »Da haben Sie Ihre Beweise, ehrenwerte Herren!«
»Das ist doch ein abgekartetes Spiel!«, bellte Lord Brock und sprang auf. »Das ist eine Beleidigung!« Allerdings erklangen nur wenig Stimmen zu seiner Unterstützung, und auch die nur halbherzig. Lord Heugen fiel durch vorsichtiges Schweigen auf und betrachtete eingehend das fein gegerbte Leder seiner Schuhe. Barezin machte sich klein auf seinem Platz und sah nur noch halb so groß aus wie noch eine Minute zuvor. Lord Ischer starrte geistesabwesend auf eine Wand, ließ seine schwere Goldkette durch die Finger laufen und wirkte völlig gelangweilt, als ob ihn das Schicksal der Tuchhändlergilde nicht mehr im Geringsten interessierte.
Brock wandte sich nun an den Kronrichter, der bewegungslos auf seinem hochlehnigen Stuhl an dem erhöhten Tisch saß. »Lord Marovia, ich bitte Sie! Sie sind doch ein vernünftiger Mann! Lassen Sie dieses … Possenspiel nicht zu!«
Im Saal wurde es wieder still, als man auf die Antwort des alten Mannes wartete. Der Kronrichter legte die Stirn in Falten und strich sich über den langen Bart. Dann sah er zu dem grinsenden Erzlektor herüber. Er räusperte sich. »Ich fühle mit Ihnen, Lord Brock, das können Sie mir wirklich glauben, aber wie es scheint, ist heute nicht der Tag für vernünftige Männer. Der Geschlossene Rat hat den Fall untersucht und war mit den vorgelegten Beweisen zufrieden. Mir sind die Hände gebunden.«
Brocks Lippen zuckten; er schmeckte seine Niederlage. »Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun!«, schrie er dennoch und drehte sich zu den Versammelten um. »Diese Männer sind ganz offensichtlich gefoltert worden!«
Erzlektor Sult verzog verächtlich den Mund. »Wie sollen wir denn Ihrer Meinung nach mit Verrätern und Verbrechern verfahren?«, rief er mit schneidender Stimme. »Wollen Sie hier etwa einen Schild heben, Lord Brock, hinter dem sich die illoyalen Kräfte verschanzen können?« Er schlug auf den Tisch, als habe sich auch dieser des Hochverrats schuldig gemacht. »Ich jedenfalls werde nicht dabei zusehen, wie unsere große Nation ihren Feinden übergeben wird! Weder den Feinden außerhalb noch den Feinden innerhalb der Union!«
»Nieder mit den Tuchhändlern!«, erscholl es von der Besuchergalerie.
»Verurteilt alle Verräter!«
»Die königliche Gerechtigkeit!«, schrie ein dicker Mann von fast ganz hinten. Zorn und Zustimmung wallten unter den Zuhörern auf, und man verlangte lautstark nach harten Maßnahmen und strengen Strafen.
Brock sah sich in der ersten Reihe nach Verbündeten um, aber er fand niemanden. Er ballte die Fäuste. »Das ist keine Gerechtigkeit!«, rief er noch einmal und deutete auf die drei Gefangenen. »Das ist kein Beweis!«
»Seine Majestät ist anderer Ansicht«, bellte Hoff, »und braucht Ihre Erlaubnis nicht!« Er hielt ein großes Schriftstück hoch. »Die Gilde der Tuchhändler ist hiermit aufgelöst! Ihre Handelsrechte werden ihr kraft königlichen Erlasses aberkannt! Die königliche Kommission für Handel und Warenverkehr wird in den kommenden Monaten Bewerbungen für die Handelsrechte mit der Stadt Westport entgegennehmen. Bis passende Kandidaten gefunden sind, liegt der Betrieb der Schiffsroute in fähigen, loyalen Händen. In den Händen der Inquisition Seiner Majestät.«
Erzlektor Sult neigte bescheiden den Kopf und schien die wütenden Ausrufe der Versammlungsmitglieder und der Besucher auf der Galerie nicht zu beachten.
»Inquisitor Glokta«, fuhr der Lord Schatzmeister fort, »der Offene Rat dankt Ihnen für Ihre sorgfältige Arbeit und möchte Sie bitten, in dieser Angelegenheit noch ein weiteres Mal zu Diensten zu sein.« Hoff hielt ein kleines Papier hoch. »Dies ist ein Haftbefehl für Magister Kault, der die Unterschrift des Königs trägt. Wir möchten Sie darum bitten, ihn auszuführen.« Glokta verbeugte sich steif und nahm das Papier aus der ausgestreckten Hand des Lord Schatzmeisters entgegen. »Sie«, sagte Hoff und sah zu Jalenhorm hinüber.
»Leutnant Jalenhorm, Euer Ehren!«, rief der Dicke und trat schwungvoll einen Schritt vor.
»Wie auch immer«, schnitt Hoff ihm ungeduldig das Wort ab, »nehmen Sie zwanzig Königstreue und eskortieren Sie Inquisitor Glokta zum Gildenhaus der Tuchhändler. Sorgen Sie dafür, dass nichts und niemand das Gebäude ohne seine Erlaubnis verlässt!«
»Sofort, Euer Ehren!« Jalenhorm schritt durch den Saal und lief den Korridor zum Ausgang hinauf, wobei er den Griff seines Degens umklammert hielt, um zu verhindern, dass er gegen sein Bein schlug. Glokta humpelte hinter ihm her; sein Stock klopfte auf die Stufen, den Haftbefehl für Kault hielt er zusammengeknüllt in seiner fest zur Faust geballten Hand. Der monströse Albino hatte die Gefangenen derweil wieder auf ihre Füße gestellt und führte sie nun kettenrasselnd und dumpf in die Gegend glotzend zu der Tür hinaus, durch die sie auch eingetreten waren.
»Lord Schatzmeister!«, schrie Brock in letztem Aufbegehren. Jezal fragte sich, wie viel Geld er mit den Tuchhändlern verdient haben mochte. Wie viel er noch zu verdienen gehofft hatte. Offenbar eine ganze Menge.
Aber Hoff ließ sich nicht beeindrucken. »Damit wären die Angelegenheiten des heutigen Tages abgeschlossen, meine edlen Herren.« Marovia war aufgestanden, noch bevor der Lord Schatzmeister zu Ende gesprochen hatte, und hatte es offenbar eilig, den Saal zu verlassen. Die großen Folianten wurden zugeschlagen. Das Schicksal der ehrenwerten Tuchhändlergilde war besiegelt. Aufgeregtes Stimmengewirr füllte erneut die Luft, wurde allmählich lauter und bald durch Rascheln und Schritte ergänzt, als die Versammlungsmitglieder aufstanden und sich auf den Weg nach draußen machten. Erzlektor Sult blieb sitzen und sah seinen geschlagenen Gegnern zu, wie sie zögernd die erste Reihe räumten. Jezals Augen trafen noch einmal den verzweifelten Blick von Salem Rews, als jener durch die kleine Tür geführt wurde, dann riss Praktikal Frost an der Kette, und er verschwand in der Dunkelheit.
Draußen war der Platz noch belebter als zuvor, und noch mehr Aufregung machte sich unter den dicht gedrängten Menschen breit, als sich die Nachricht von der Auflösung der Tuchhändlergilde allmählich auch zu jenen herumsprach, die nicht im Saal gewesen waren. Einige Leute blieben ungläubig stehen, andere wuselten hierhin oder dorthin: verängstigt, überrascht, verwirrt. Jezal sah, wie ein Mann ihn anstarrte, wie dieser Mann die verschiedensten Leute anstarrte, mit bleichem Gesicht und zitternden Händen. Ein Tuchhändler vielleicht oder aber jemand, der viel mit ihnen zu tun hatte, genug, um nun mit in den Abgrund gerissen zu werden. Es würde etliche solcher Männer geben.
Plötzlich spürte Jezal ein leichtes Prickeln. Ardee West stand nur wenige Schritte entfernt, lässig gegen eine Mauer gelehnt. Sie hatten sich eine ganze Weile nicht gesehen, nicht mehr seit ihrem betrunkenen Ausbruch, und er war überrascht, wie sehr er sich darüber freute, ihr wieder zu begegnen. Eigentlich hatte er sie nun lange genug gestraft, überlegte er. Jeder verdiente eine Möglichkeit, um sich zu entschuldigen. Er eilte mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht auf sie zu. Dann erkannte er, in wessen Gesellschaft sie sich befand.
»Dieser kleine Drecksack!«, murmelte er unterdrückt.
Leutnant Brint stand in seiner billigen Uniform dort und unterhielt sich gut gelaunt mit Ardee, wobei er ihr näher kam, als Jezal für anständig hielt, und seine langatmigen Ausführungen mit ausufernden Armbewegungen unterstrich. Sie nickte lächelnd, dann warf sie den Kopf zurück, lachte und gab dem Leutnant einen spielerischen Klaps auf die Brust. Brint lachte ebenfalls, der dreckige kleine Scheißer. Sie lachten zusammen. Aus irgendeinem Grund fühlte Jezal heiße Wut in sich aufsteigen.
»Jezal, wie geht es Ihnen?«, rief Brint, immer noch kichernd.
Er trat zu ihnen. »Für Sie immer noch Hauptmann Luthar!«, fauchte er. »Und mein Befinden geht Sie nichts an! Haben Sie nichts zu tun?«
Brint blieb kurz der Mund wenig geistreich offen stehen, dann zogen sich seine Brauen zu einem mürrischen Schmollen zusammen. »Jawohl, Herr Hauptmann«, murmelte er, drehte sich um und stolzierte davon. Jezal sah ihm mit noch größerer Verachtung nach als sonst.
»Das war ja sehr freundlich«, sagte Ardee. »Ist das die feine Art, die man in Gegenwart einer Dame an den Tag legt?«
»Das wüsste ich wirklich nicht zu sagen. Wieso? War denn eine zugegen?«
Er drehte sich zu ihr und sah sie an, und einen Herzschlag lang dachte er, ein selbstzufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. Ein recht hässlicher Gesichtsausdruck – so, als hätte sie Spaß an seinem kleinen Ausbruch gehabt. Einen dummen Augenblick lang fragte er sich, ob sie das Treffen vielleicht arrangiert und sich mit diesem Idioten absichtlich an einem Ort getroffen hatte, wo Jezal sie entdecken musste, in der Hoffnung, ihn eifersüchtig zu machen. Dann lächelte sie ihn an und lachte, und Jezal spürte, wie sein Zorn verrauchte. Sie sah sehr gut aus, dachte er, wie sie hier gebräunt und voller Leben in der Sonne stand, laut lachte und sich nicht darum scherte, wer es hörte. Sehr gut. Besser noch als zuvor. Es war nur ein zufälliges Treffen, was sonst? Sie blickte ihn mit ihren dunklen Augen an, und all sein Misstrauen verschwand. »Mussten Sie so hart mit ihm umspringen?«, fragte sie.
Jezal schob das Kinn ein wenig vor. »Das ist doch ein arroganter, nichtswürdiger Aufsteiger, wahrscheinlich allenfalls der Bastard eines reichen Mannes. Kein edles Blut, kein Geld, keine Manieren …«
»Von diesen drei Dingen hat er jedenfalls mehr als ich.«
Jezal verfluchte seine große Klappe. Statt sie nun dazu zu bewegen, sich bei ihm zu entschuldigen, würde er das zunächst einmal selbst tun müssen. Verzweifelt grübelte er über einen Ausweg aus dieser selbstgebauten Falle nach. »Ach, aber er ist ein echter Schwachkopf!«, brachte er in quengelndem Tonfall heraus.
»Na ja.« Jezal sah erleichtert, dass sich Ardees Lippen zu einem schlauen Lächeln verzogen. »Das ist er wohl. Wollen wir ein wenig spazieren gehen?« Damit schob sie ihm ihre Hand unter den Arm, bevor er überhaupt antworten konnte, und zog ihn zum Weg der Könige. Jezal ließ es zu, dass sie ihn durch die verängstigten, zornigen und aufgeregten Menschen führte.
»Stimmt es denn nun?«, fragte sie.
»Was denn?«
»Dass die Tuchhändler erledigt sind?«
»Sieht so aus. Ihr alter Freund Sand dan Glokta hat ganz vorn dabei mitgemischt. Für einen Krüppel hatte er einen ganz schön starken Auftritt.«
Ardee sah zu Boden. »Man sollte sich nicht mit ihm anlegen, Krüppel oder nicht.«
»Nein.« Jezals Gedanken kehrten zu Salem Rews’ verängstigten Augen zurück, wie sie ihn verzweifelt angesehen hatten, als der Kaufmann in die Dunkelheit hinter der kleinen Tür gezogen wurde. »Nein, das sollte man wohl nicht.«
Schweigen wuchs zwischen ihnen, als sie die Prachtstraße hinunter schlenderten, aber es war kein unbehagliches. Jezal ging gern mit Ardee spazieren. Es schien keine Rolle mehr zu spielen, ob sich jemand entschuldigte. Vielleicht hatte sie ja auch recht gehabt mit dem, was sie übers Fechten gesagt hatte, jedenfalls ein bisschen. Ardee schien seine Gedanken zu lesen. »Wie geht’s bei der Beherrschung des Degens voran?«, fragte sie.
»Nicht übel. Wie geht’s mit dem Trinken voran?«
Sie hob eine dunkle Augenbraue. »Ganz ausgezeichnet. Wenn es da doch bloß auch jedes Jahr ein Turnier gäbe, dann würde ich schon bald im Licht der Öffentlichkeit stehen.« Jezal lachte und sah auf sie herunter, wie sie neben ihm daherschritt, und sie lächelte zurück. So klug, so scharfzüngig, so furchtlos. So verdammt gut aussehend. Jezal fragte sich, ob es jemals eine solche Frau wie sie gegeben hatte. Wenn sie doch nur von edlem Blut wäre, dachte er bei sich, und ein bisschen Geld hätte. Ein bisschen mehr Geld.