EDLES BLUT

Jezal kratzte die letzten blonden Härchen von der Seite seines Kinns und spülte das Rasiermesser in der Schüssel ab. Dann wischte er es mit einem Handtuch trocken, ließ es zuschnappen und legte es sorgfältig auf den Tisch, wobei er den Schimmer bewunderte, den das Sonnenlicht auf den Perlmuttgriff zauberte.

Er trocknete sich das Gesicht, und dann – es war für ihn der beste Augenblick des Tages – betrachtete er sich selbst im Spiegel. Es war ein sehr guter, der erst kürzlich aus Visserine geliefert und ihm von seinem Vater zum Geschenk gemacht worden war: ein ovales, klares Glas, das in dunkles, mit reichen Schnitzereien verziertes Holz gefasst war. Genau der passende Rahmen für einen so gut aussehenden jungen Mann wie den, der gerade zufrieden zu ihm zurücklächelte. Ehrlich gesagt, ein Begriff wie gut aussehend wurde ihm gar nicht gerecht.

»Du bist eine echte Schönheit, nicht wahr?«, sagte Jezal zu sich selbst und lächelte, während er mit den Fingern über die zarte Haut seines Kinns strich. Und was hatte er für ein schönes Kinn. Man hatte ihm schon oft gesagt, dass gerade sein Unterkiefer besonders ideal geformt war, was natürlich nicht heißen sollte, dass an seinem übrigen Körper irgendetwas auszusetzen gewesen wäre. Er drehte sich nach links und dann nach rechts, um dieses wunderbare Kinn genau in Augenschein zu nehmen. Nicht zu kantig, nicht zu grob, aber auch nicht zu zart, nicht weibisch oder schwach. Ein markantes Männerkinn, kein Zweifel, leicht gespalten, was auf Kraft und Durchsetzungsvermögen schließen ließ, das aber auch empfindsam und nachdenklich wirkte. Hatte es jemals ein derart perfektes Kinn gegeben? Vielleicht hatte einmal ein König oder einer der Helden aus alter Zeit ein fast ebenso schönes Kinn gehabt. Es war ein edles Kinn, das stand fest, wie es niemals ein gemeiner Mann hätte haben können.

Jezal vermutete, dass er es von der mütterlichen Seite seiner Familie geerbt hatte. Sein Vater war mit einem eher fliehenden Kinn gesegnet. Seine Brüder auch, wenn er einmal darüber nachdachte. Sie verdienten ein wenig Mitleid dafür, dass das gute Aussehen in der Familie allein auf ihn übergegangen war.

»Und auch das meiste Talent«, murmelte er zufrieden in sich hinein. Zögernd wandte er sich vom Spiegel ab und ging in seinen Wohnraum, während er sich ein Hemd über den Kopf zog und es vorn zuknöpfte. Heute musste er so umwerfend aussehen wie möglich. Der Gedanke machte ihn ein wenig kribblig, ein Gefühl, das vom Bauch aus die Luftröhre emporkroch und sich in seiner Kehle breit machte.

Inzwischen würden die Tore schon geöffnet sein. Ein ständiger Menschenstrom würde sich in den Agriont ergießen und die Plätze der Tribünen auf dem Marschallsplatz füllen. Tausende von Menschen. Jeder von Bedeutung, und noch viel mehr ohne. Sie sammelten sich bereits, schon ganz aufgeregt, rufend, scherzend, wartend … auf ihn. Jezal hustete und versuchte, den Gedanken wieder aus seinem Kopf zu verdrängen. Er hatte ihn schon die halbe Nacht wach gehalten.

Er ging zum Tisch, auf dem das Frühstückstablett stand. Zerstreut nahm er mit den Fingerspitzen ein Würstchen, biss ein Stück ab und kaute ohne Genuss darauf herum. Mit gerümpfter Nase warf er es wieder auf den Teller. Er hatte heute Morgen keinen Appetit. Gerade wischte er sich die Finger an dem Handtuch ab, als er entdeckte, dass etwas vor der Tür auf dem Boden lag, ein gefaltetes Stück Papier. Er beugte sich hinunter, nahm es in die Hand und klappte es auf. Dort stand eine einzige Zeile, in sauberer, sorgfältiger Schrift:

 

Treffen Sie mich heute Nacht an der Statue von
Harod dem Großen in der Nähe des ›Vier Ecken‹ –
A.

 

»Scheiße«, murmelte er ungläubig und las die Zeile wieder und wieder. Er faltete das Blatt zusammen und sah sich unruhig im Raum um. Es gab nur eine A., die Jezal einfiel. Er hatte sie in den letzten Tagen in seinem Kopf ganz weit nach hinten verbannt und jeden freien Augenblick mit dem Training verbracht. Aber diese Notiz holte all das wieder zurück, verdammt.

»Scheiße!« Er strich den Zettel glatt und las die Zeile noch einmal. Treffen Sie mich heute Nacht? Er konnte nicht verhehlen, dass diese Bitte einen Hauch von Befriedigung in ihm auslöste, der sich allmählich in ein deutlich spürbares, glückseliges Glühen verwandelte. Sein Mund verzog sich zu einem geistlosen Lächeln. Ein geheimes Treffen im Dunkeln? Bei dieser Vorstellung überkam ihn eine angenehme Gänsehaut. Aber Geheimnisse haben es an sich, dass sie irgendwann ans Licht kommen, und was würde passieren, wenn ihr Bruder es herausfände? Mit diesem Gedanken kehrte die Nervosität zurück. Er nahm das Blatt in beide Hände und wollte es in der Mitte durchreißen, aber im letzten Moment faltete er es stattdessen wieder zusammen und steckte es in seine Tasche.

 

Als Jezal durch den Tunnel schritt, konnte er das Publikum bereits hören. Es war ein seltsames, widerhallendes Gemurmel, das direkt aus den Steinen zu dringen schien. Er hatte es natürlich schon einmal gehört, als er letztes Jahr beim Turnier als Zuschauer dabei gewesen war, aber damals hatte es nicht dazu geführt, dass ihm der Schweiß ausbrach und sich ihm der Magen umdrehte. Ein Teil des Publikums zu sein ist etwas ganz anderes, als wenn man selbst auf die Bühne muss.

Unwillkürlich verlangsamte er seine Schritte, dann blieb er stehen, schloss die Augen und lehnte sich gegen die Mauer, während der Lärm der Menge in seinen Ohren brauste, und er versuchte, tief durchzuatmen und sich zu sammeln.

»Machen Sie sich keine Sorgen, ich weiß, wie Ihnen zumute ist.« Jezal fühlte Wests aufmunternde Hand auf der Schulter. »Beim ersten Mal wäre ich beinahe umgekehrt und weggerannt, aber das geht vorüber, sobald die Eisen gezogen werden, glauben Sie mir.«

»Ja«, murmelte Jezal, »natürlich.« Er bezweifelte, dass West wirklich genau wusste, wie es ihm ging. Er mochte einige Male beim Turnier angetreten sein, aber Jezal vermutete, dass er nicht noch gleichzeitig über ein heimliches Treffen mit der Schwester seines besten Freundes am Abend danach hatte nachdenken müssen. Er fragte sich, ob West wohl noch so mitfühlend wäre, wenn er gewusst hätte, was in dem Brief in seiner Brusttasche stand.

»Wir gehen besser weiter. Wir wollen doch nicht, dass sie ohne uns anfangen.«

»Nein.« Jezal atmete noch einmal tief ein, öffnete die Augen und ließ den Atem dann hart wieder aus den Lungen strömen. Dann stieß er sich von der Wand ab und marschierte eilig durch den Tunnel. Plötzlich keimte Panik in ihm auf – wo waren seine Eisen? Mit verzweifeltem Blick sah er sich um, dann seufzte er erleichtert. Sie waren in seiner Hand.

In der Halle am Ende des Tunnels hatte sich eine große Menge versammelt – Fechtlehrer, Sekundanten, Freunde, Familienmitglieder und das übliche Gefolge, das sich bei solchen Anlässen blicken ließ. Allerdings war leicht zu erkennen, wer zu den Teilnehmern des Turniers gehörte: jene fünfzehn jungen Männer, die ihre Fechteisen fest umklammert hielten. Die Angst, die sie verströmten, war spürbar und ansteckend. Überall sah Jezal bleiche, nervöse Gesichter mit Schweiß auf der Stirn und unruhig in die Runde blickenden Augen. Das dumpfe Murmeln der Zuschauer draußen machte es nicht besser, das überraschend laut durch die geschlossene Doppeltür am Ende des Saals hereindrang und wie ein sturmgepeitschtes Meer an- und abschwoll.

Nur ein einziger Mann schien von der ganzen Aufregung nicht berührt, sondern lehnte gemächlich an einer Wand, einen Fuß gegen die Stuckverzierungen gestemmt. Er hatte den Kopf ein wenig zurückgelegt und sah an seiner Nase vorbei aus kaum geöffneten Augen auf die hier versammelte Runde. Die meisten Teilnehmer waren schlank, sehnig, athletisch. Er war das genaue Gegenteil. Ein schwerer, großer Mann, der das Haar kurz wie eine Bürste geschoren hatte. Er hatte einen dicken Hals und ein Kinn wie eine Türschwelle – das Kinn eines gemeinen Mannes, dachte Jezal, aber ein kräftiger und mächtiger Mann, fähig zu gemeinen Taten. Jezal hätte ihn für einen Diener gehalten, hätte er nicht ein paar Eisen locker in der Hand getragen.

»Gorst«, flüsterte West in Jezals Ohr.

»Puh. Der sieht ja eher aus wie ein Arbeiter denn wie ein Fechter.«

»Mag sein, aber der erste Eindruck mag täuschen.« Das Murmeln der Menge wurde allmählich leiser, und wie aufs Stichwort verebbten auch die nervösen Gespräche im Raum. West hob die Augenbrauen. »Die Ansprache des Königs«, raunte er.

»Liebe Freunde! Liebe Landsleute! Liebe Mitbürger der Union!«, war eine durchdringende Stimme zu vernehmen, die auch durch die dicke Tür gut zu verstehen war.

»Hoff«, schnaubte West. »Selbst hier nimmt er den Platz des Königs ein. Wieso setzt er sich nicht einfach die Krone auf und bringt die ganze Sache ein für alle Mal hinter sich?«

»Vor genau einem Monat«, ertönte die entfernte Stimme des Lord Schatzmeisters, »stellten einige meiner Kollegen im Geschlossenen Rat die Frage … ob es in diesem Jahr überhaupt ein Turnier geben solle?« Buhrufe und laut geäußerter Unmut schallten von der Menge zurück. »Eine berechtigte Frage!«, rief Hoff, »denn wir sind im Krieg! Ein tödlicher Kampf tobt im Norden! Eben jene Freiheiten, die wir so hoch in Ehren halten, jene Freiheiten, um die wir von der ganzen Welt beneidet werden, unsere ganze Lebensart wird von diesen Wilden bedroht!«

Ein Schreiber ging nun durch den Raum und trennte die Teilnehmer von ihren Familien, Ausbildern und Freunden. »Viel Glück«, sagte West und klopfte Jezal auf die Schulter. »Ich sehe Sie dann auf dem Kampfplatz.« Jezals Mund war trocken, und er konnte nur nicken.

»Und es waren tapfere Männer, die diese Frage stellten!«, tönte Hoffs Stimme von der anderen Seite der Tür. »Weise Männer. Patrioten allesamt! Meine aufrechten Kollegen aus dem Geschlossenen Rat! Ich verstand durchaus, weshalb sie dachten, dass es in diesem Jahr vielleicht kein Turnier geben sollte!« Es folgte eine lange Pause. »Aber ich habe nein gesagt, nein!«

Wilde Begeisterung brach aus. »Nein! Nein!«, brüllte die Menge. Jezal wurde mit den anderen in eine Reihe gedrängt, immer zwei nebeneinander, acht Paare. Während der Lord Schatzmeister weiter salbaderte, fummelte der Hauptmann an seinen Eisen herum, obwohl er sie schon zwanzig Mal überprüft hatte.

»Nein, habe ich ihnen gesagt! Sollten wir diesen Barbaren, diesen Tieren aus dem frostigen Norden gestatten, unsere Lebensweise mit Füßen zu treten? Sollten wir zulassen, dass dieses Feuer der Freiheit in der Dunkelheit der Welt verlöscht? Nein, sagte ich ihnen! Unsere Freiheit ist nicht verkäuflich, um keinen Preis! Und darauf, liebe Freunde, liebe Landsleute, liebe Mitbürger der Union, können Sie sich verlassen – wir werden diesen Krieg gewinnen!«

Wieder brandete ein Meer von Zustimmung auf. Jezal schluckte und sah sich angespannt um. Bremer dan Gorst stand neben ihm. Der große Drecksack hatte die Stirn, zu zwinkern und ihn anzugrinsen, als ob es keinerlei Grund zur Aufregung gäbe. »Verdammter Idiot«, flüsterte Jezal, achtete aber sorgfältig darauf, dass sich seine Lippen dabei nicht bewegten.

»Und daher frage ich, liebe Freunde«, rief Hoff abschließend, »welch bessere Gelegenheit könnte es geben als diese, da wir der Gefahr ins Auge sehen, um die Geschicklichkeit, die Stärke, den Heldenmut einiger der tapfersten Söhne unserer Nation zu feiern! Liebe Mitbürger, liebe Landsleute der Union, hier sind die Teilnehmer!«

Die Türen öffneten sich, und das Gebrüll der Menge strömte in den Raum und ließ die Dachbalken erzittern – unvermittelt und ohrenbetäubend laut. Die beiden Fechter in der ersten Reihe schritten nun durch die helle Türöffnung, dann kam die zweite, dann die dritte Reihe. Jezal war sich sicher, dass er erstarren und bewegungslos wie ein Kaninchen vor sich hinglotzen würde, aber als er an die Reihe kam, schritt er mannhaft neben Gorst dahin, die Absätze seiner auf Hochglanz polierten Stiefel klackerten über die Bodenfliesen und durch den hohen Torbogen.

Der Marschallsplatz war völlig verändert. Ringsum hatte man Sitzbänke errichtet, die sich weit nach hinten und hoch hinauf zogen und wie ein sprudelnder Kessel vor Menschen überquollen. Die Teilnehmer gingen durch ein tiefes Tal zwischen den hoch aufragenden Tribünen auf die Mitte dieses großen Stadions zu, und die Balken, Streben und baumstammdicken Stützpfosten erhoben sich wie ein schattenhafter Wald zu beiden Seiten. Direkt vor ihnen und scheinbar weit, weit weg hatte man den Fechtring angelegt, einen kleinen Kreis aus trockenem, gelbem Gras inmitten dieses Gesichtermeers.

In den ersten Reihen konnte Jezal einige der Reichen und Edlen ausmachen. Sie waren in ihre besten Kleider gehüllt, beschatteten die Augen vor der hellen Sonne und zeigten sich insgesamt an dem ganzen Spektakel so desinteressiert, wie die Mode es gebot. Weiter hinten und oben waren die Gestalten nicht mehr so deutlich zu erkennen und die Kleider nicht mehr ganz so edel. Der Großteil der Menge bestand aus farbigen Flecken und Klecksen am Rand dieses verwirrenden Runds, aber die gemeinen Leute machten die große Entfernung durch ihre Begeisterung wett, sie schrien, klatschten, stellten sich auf die Zehenspitzen und winkten. Hinter ihnen ragten die höchsten Gebäude rund um den Platz auf, Mauern und Dächer erhoben sich wie Inseln in einem Ozean, und in den Fenstern und auf den Zinnen drängten sich winzig klein wirkende Zuschauer.

Jezal blinzelte dieser riesengroßen Menschenmasse entgegen. Ein Teil von ihm war sich bewusst, dass ihm der Mund offen stand, aber es war ein zu kleiner Teil, als dass er es geschafft hätte, etwas dagegen zu tun. Verdammt, ihm war ganz flau im Magen. Er wusste, er hätte etwas essen sollen, aber nun war es zu spät. Und wenn er kotzen musste, hier, vor den Augen der halben Welt? Wieder wallte blinde Panik in ihm auf. Wo hatte er seine Eisen gelassen? Wo waren sie? In seiner Hand. In seiner Hand. Die Menge brüllte, seufzte, heulte mit Abertausend verschiedenen Stimmen.

Die Teilnehmer entfernten sich nun von dem Ring. Nicht alle von ihnen würden an diesem Tag fechten, die meisten würden nur zusehen. Als ob noch mehr Zuschauer nötig wären. Sie gingen auf Plätze in der ersten Reihe zu, aber Jezal gehörte nicht zu ihnen, so gern er es jetzt gewollt hätte. Er ging zu den Kabinen, in denen sich die Teilnehmer auf den Kampf vorbereiteten.

Er ließ sich schwer neben West fallen, schloss die Augen und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während die Menge weiter klatschte und trampelte. Alles war zu grell, zu laut, zu überwältigend. Marschall Varuz war in der Nähe und lehnte sich über die Kabinenwand, um jemandem etwas ins Ohr zu brüllen. Jezal starrte auf den Kampfplatz hinaus auf diejenigen, die in der königlichen Loge saßen, und hoffte vergebens auf Ablenkung.

»Seine Majestät der König scheint an der ganzen Sache Freude zu haben«, flüsterte West ihm ins Ohr.

»Hmm.« Der König schien vielmehr fest eingeschlafen zu sein, seine Krone saß bereits ein wenig schief auf seinem Kopf. Jezal fragte sich, was wohl passieren würde, wenn sie herunterfiel.

Kronprinz Ladisla war ebenfalls dort, wie immer höchst ausgefallen herausgeputzt, und strahlte mit einem so breiten Lächeln auf den Kampfplatz hinunter, als seien all die Leute nur seinetwegen gekommen. Prinz Raynault hingegen hätte nicht gegensätzlicher wirken können: Er saß nüchtern und gefasst da und sah mit besorgtem Blick zu seinem halb bewusstlosen Vater hinüber. Ihre Mutter, die Königin, saß kerzengerade und mit hochgerecktem Kinn daneben und war bestrebt, so zu tun, als ob ihr erlauchter Gatte hellwach sei und seine Krone keinerlei Gefahr lief, mit schmerzhaftem Aufschlag in ihren Schoß zu rutschen. Zwischen ihr und Lord Hoff nahm eine junge Frau Jezals Blick gefangen – eine schöne, sehr schöne Frau. Sie war sogar noch aufwändiger gekleidet als Ladisla, falls das möglich war, und trug eine Kette aus riesigen Diamanten um den Hals, die hell in der Sonne funkelten.

»Wer ist die Frau?«, fragte Jezal.

»Ah, Prinzessin Terez«, antwortete West leise. »Die Tochter von Großherzog Orso, Lord von Talins. Ihre Schönheit wurde immer schon gerühmt, und ausnahmsweise scheinen diese Gerüchte einmal gestimmt zu haben.«

»Ich dachte, aus Talins sei noch nie etwas Gutes gekommen.«

»Den Spruch kenne ich auch, aber ich denke, sie könnte wohl eine Ausnahme sein, oder?« Jezal war nicht ganz überzeugt. Sie war sicherlich außergewöhnlich, aber in ihren Augen lag ein eisiger, stolzer Blick. »Ich glaube, die Königin plant, sie mit Prinz Ladisla zu verheiraten.« Während Jezal weiter hinüber sah, lehnte sich der Kronprinz vor, um die Prinzessin an seiner Mutter vorbei mit irgendwelchem sinnlosen Geschwätz zu bedenken, bevor er kreischend über seinen eigenen Witz lachte und sich vor Erheiterung auf die Knie schlug. Terez lächelte frostig und schaffte es, sogar auf diese Entfernung Verachtung auszustrahlen. Ladisla schien das jedoch nicht aufzufallen, und Jezals Aufmerksamkeit wurde schon bald abgelenkt. Ein großer Mann in roter Jacke ging gemessenen Schrittes auf den Ring zu. Der Kampfrichter.

»Es ist soweit«, raunte West.

Der Kampfrichter hob mit theatralischer Geste den Arm und streckte zwei Finger aus, dann drehte er sich langsam in der Runde und wartete, bis der Lärm nachließ. »Heute haben Sie das Vergnügen, zwei Runden Fechtkampf zu erleben!«, donnerte er, dann riss er die andere Hand in die Höhe, drei Finger hochgestreckt, während das Publikum applaudierte. »Es gewinnt, wer die meisten von drei Treffern erzielt!« Jetzt warf er beide Hände hoch. »Vier Männer werden hier vor Ihnen kämpfen – zwei werden wieder nach Hause gehen … mit leeren Händen.« Der Kampfrichter ließ einen Arm fallen, schüttelte traurig den Kopf, und die Menge seufzte. »Aber zwei werden in die nächste Runde kommen!« Mit lautem Brüllen bekundete das Publikum seine Zustimmung.

»Fertig?«, fragte Marschall Varuz und beugte sich über Jezals Schulter vor.

Welch eine blöde Frage. Und wenn er eben nicht fertig war? Was dann? Wurde dann alles abgesagt? Tut mir wirklich leid, dass Sie umsonst gekommen sind, ich bin noch nicht soweit? Vielleicht nächstes Jahr? Aber alles, was Jezal herausbrachte, war ein »Hmmm«.

»Es ist soweit!«, rief der Kampfrichter und drehte sich in der Mitte des Rings einmal um sich selbst. »Die erste Runde beginnt!«

»Die Jacke!«, zischte Varuz.

»O ja.« Jezal fummelte an den Knöpfen herum und zog sich die Jacke aus, dann rollte er sich gewohnheitsmäßig die Hemdsärmel auf. Bei einem schnellen Blick zur Seite stellte er fest, dass sein Gegner die gleichen Vorbereitungen traf. Ein großer, dünner junger Mann mit langen Armen und schwachen, leicht verträumten Augen. Keine besonders Furcht einflößende Gestalt. Jezal sah, dass die Hände seines Gegners leicht bebten, als ihm der Sekundant die Eisen reichte.

»Betreut von Sepp dan Vissen, aus Rostod in Stankland …«, hier machte der Kampfrichter eine Pause, um die Wirkung seiner Worte zu erhöhen, »… Kurtis dan Broya!« Der Ankündigung folgte eine Welle begeisterten Beifalls. Jezal schnaubte. Diese Witzfiguren waren bereit, jeden zu beklatschen.

Der große Jüngling stand auf und ging entschlossenen Schrittes und mit im Sonnenlicht blitzenden Eisen auf den Ring zu. »Broya!«, wiederholte der Kampfrichter, während der schlaksige Idiot seine Position einnahm. West zog Jezals Eisen aus ihren Scheiden. Das metallische Klirren der Klingen verursachte Jezal beinahe wieder Übelkeit.

Der Kampfrichter deutete erneut auf die Kabinen der Teilnehmer. »Und sein heutiger Gegner! Ein Offizier der Königstreuen, betreut von keinem Geringeren als Lord Marschall Varuz!« Es gab vereinzelten Applaus, und der alte Soldat strahlte. »Aus Luthar in Midderland, aber gegenwärtig hier im Agriont zu Hause … Hauptmann Jezal dan Luthar!« Wieder eine Welle begeisterten Beifalls, wesentlich lauter als die, mit der man Broya begrüßt hatte. Einige laute Rufe erklangen über den Lärm. Zahlen wurden gerufen. Gewinnquoten angeboten. Jezal fühlte eine neue Welle der Übelkeit über sich hereinbrechen.

»Viel Glück.« West reichte Jezal die nackten Klingen, den Knauf voran.

»Er braucht kein Glück!«, fiel Varuz ihm ins Wort. »Dieser Broya ist ein Nichts! Sie brauchen nur auf seine Reichweite zu achten! Drängen Sie ihn, Jezal, drängen Sie ihn!«

Es schien ewig zu dauern, bis er den Ring mit dem kurzen, trockenen Gras erreicht hatte. Der Lärm der Menge klang laut in Jezals Ohren, aber noch lauter war das Pochen seines Herzens, während er die Griffe seiner Waffen in den schweißnassen Handflächen hin und her drehte. »Luthar!«, wiederholte der Kampfrichter und lächelte breit, als er Jezal herankommen sah.

Sinnlose, unbedeutende Fragen durchzuckten seinen Kopf und verschwanden gleich wieder. Sah Ardee zu, in der Menge, und fragte sie sich, ob er zu ihrem Treffpunkt am Abend kommen würde? Würde er im Krieg getötet werden? Wie hatten sie das Gras für den Fechtring auf den Marschallsplatz bekommen? Er sah zu Broya auf. Fühlte er sich genauso? Das Publikum war jetzt ruhig, ganz ruhig. Das Gewicht dieses Schweigens senkte sich schwer auf Jezal, als er seine Position im Ring einnahm und die Füße fest in den trockenen Boden stemmte. Broya zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf, hob seine Eisen. Jezal musste pinkeln. Unglaublich dringend. Was, wenn er sich jetzt in die Hosen machte? Wenn sich ein großer dunkler Fleck über den Hosenstoff ausbreitete? Der Mann, der sich beim Turnier nass gemacht hat. Das würde man ihm nie vergessen, und wenn er hundert Jahre alt würde.

»Und los!«, donnerte der Kampfrichter.

Aber nichts geschah. Die beiden Männer standen da, sahen einander an, die Klingen angriffsbereit erhoben. Jezals Augenbraue juckte. Er wollte sich kratzen, aber wie? Sein Gegner leckte sich die Lippen und machte dann einen vorsichtigen Schritt zur Seite. Jezal tat es ihm gleich. Sie umkreisten sich vorsichtig: Ihre Schuhe knirschten leise auf dem trockenen Gras, und langsam, ganz allmählich kamen sie einander näher. Und als sie das taten, schrumpfte Jezals Welt auf den Abstand zwischen den Spitzen ihrer langen Klingen zusammen. Jetzt war es nur noch ein Schritt. Jetzt nur noch ein Fuß Abstand. Jetzt nur noch sechs Zoll. Jezals Verstand war einzig auf diese zwei funkelnden Punkte konzentriert. Drei Zoll. Broya stieß zu, aber nur schwach, und Jezal wehrte ihn ohne nachzudenken ab.

Die Klingen schlugen sanft aneinander, und als sei dies das Signal, auf das jeder auf den Rängen gewartet hatte, brach nun wieder der Lärm los, zunächst einzelne Rufe:

»Mach ihn fertig, Luthar!«

»Ja!«

»Vorwärts! Zustoßen!«

Aber bald gingen sie wieder in dem rollenden, zornigen Meer des Publikums auf, das mit den Bewegungen im Ring aufbrandete oder wieder abebbte.

Je mehr Jezal von diesem linkischen Idioten zu sehen bekam, desto weniger schüchterte er ihn ein. Seine Nervosität legte sich. Broya stieß ungeschickt zu, und Jezal musste sich kaum bewegen. Broya schlug ohne allzu viel Überzeugung, und Jezal parierte mühelos. Broya machte einen völlig wirkungslosen, schlecht balancierten und viel zu kraftaufreibenden Ausfall. Jezal sprang zur Seite und stach seinen Gegner mit der stumpfen Spitze seiner langen Klinge in die Rippen. Es war alles so kinderleicht.

»Ein Treffer für Luthar!«, rief der Kampfrichter, und eine Welle von Applaus brandete durch die Tribünen. Jezal lächelte selbstvergessen und sonnte sich in der Bewunderung der Menge. Varuz hatte Recht gehabt, dieser Tollpatsch war kein Grund zur Sorge. Noch ein Treffer, und er war in der nächsten Runde.

Er kehrte auf seine Position zurück, und Broya tat dasselbe, während er sich mit einer Hand die Rippen rieb und Jezal einen unheilvollen Blick zuwarf. Damit machte er Jezal jedoch keine Angst. Wütende Blicke sind nur dann von Nutzen, wenn man ihnen entsprechende Taten folgen lassen kann.

»Und los!«

Diesmal näherten sie sich einander schnell und tauschten ein oder zwei Schläge aus. Jezal konnte kaum glauben, wie langsam sich sein Gegner bewegte. Es war, als ob seine Degen tonnenschwer seien. Broya fischte mit der langen Klinge in der Luft herum und versuchte, die Reichweite seiner Arme auszunutzen, um Jezal zu erwischen. Seine kurze Klinge hatte er noch nicht einmal benutzt, geschweige denn, dass er beide gemeinsam zum Einsatz gebracht hätte. Und dann sah es auch noch so aus, als sei er jetzt schon außer Atem, obwohl sie erst knapp zwei Minuten fochten. Hatte er überhaupt trainiert, dieser Bauernlümmel? Oder hatten sie einfach irgendeinen Dienstboten von der Straße geholt, um die nötige Zahl voll zu machen? Jezal sprang zur Seite und tänzelte um seinen Gegner herum. Broya flatterte hinter ihm her, verbissen, aber erfolglos. Langsam wurde es peinlich. Niemand hat Spaß an einem ungleichen Kampf, und die Ungeschicklichkeit dieses Dussels gab Jezal keinerlei Möglichkeit, seine Stärken zu zeigen.

»Ach, kommen Sie schon!«, rief er. Gelächter erklang von der Tribüne. Broya biss die Zähne zusammen und griff mit all seiner Macht an, aber das war nicht viel. Jezal wehrte seine schwachen Bemühungen ab, entzog sich dem Angriff und glitt quer durch den Ring, während Broya hinter ihm herstolperte, stets drei Schritte hinter ihm. Er zeigte keinerlei Präzision, Schnelligkeit oder Planung. Noch vor einigen Minuten hatte die Vorstellung, gegen diesen schlaksigen Narr zu kämpfen, Jezal in Angst und Schrecken versetzt. Jetzt langweilte er sich beinahe.

»Ha!«, rief er aus, als er sich plötzlich zum Angriff wandte, seinen Gegner mit einem heftigen Schlag in einem unsicheren Augenblick erwischte und zurückstolpern ließ. Das Publikum wurde lebendig und schrie und trampelte vor Begeisterung. Wieder und wieder stieß er zu. Broya wehrte ihn verzweifelt ab, taumelte und schwankte zurück, dann parierte er ein letztes Mal, stürzte, wedelte mit den Armen, wobei ihm die kurze Klinge aus der Hand rutschte, und fiel außerhalb der Ringmarkierung auf seinen Hintern.

Lautes Gelächter brach los, und Jezal konnte nicht anders, er lachte mit. Der arme Narr sah wirklich zu komisch aus, wie er da mit den Beinen in der Luft wie eine Schildkröte auf dem Rücken lag.

»Der Gewinner ist Hauptmann Luthar!«, brüllte der Kampfrichter. »Mit zwei zu null!« Aus dem Gelächter wurden spöttische Rufe, als Broya sich wieder regte. Er sah aus, als wolle er in Tränen ausbrechen. Jezal trat vor und hielt ihm die Hand hin, aber es gelang ihm nicht, das überlegene Grinsen zu unterdrücken. Sein geschlagener Gegner übersah sein Hilfsangebot, stand auf und warf ihm einen Blick zu, der halb Hass, halb verletzten Stolz ausdrückte.

Jezal zuckte gut gelaunt die Achseln. »Ist nicht meine Schuld, dass Sie Scheiße sind.«

 

»Noch einen?«, fragte Kaspa, der eine Flasche in seiner schwankenden Hand hielt und dessen Augen von zu viel Wein bereits glasig waren.

»Nein, danke.« Jezal schob die Flasche sanft weg, bevor Kaspa ihm einschenken konnte. Der Leutnant sah ihn verwirrt an, dann wandte er sich an Jalenhorm.

»Noch einen?«

»Immer doch.« Jalenhorm schob sein Glas auf eine Weise über den Tisch, die deutlich zeigen sollte, dass er nicht betrunken war, obwohl genau das natürlich überhaupt nicht mehr geleugnet werden konnte. Kaspa senkte die Flasche und visierte das Glas an, als ob es sehr weit weg stünde. Jezal sah, wie der Hals hin und her schwankte und dann klappernd auf den Glasrand schlug. Die Unvermeidlichkeit des nun Folgenden war beinahe schmerzvoll. Wein floss über den Tisch und spritzte in Jalenhorms Schoß.

»Sie sind ja besoffen!«, beklagte sich der große Mann, kam unsicher auf die Füße und wischte mit klobigen, trunkenen Händen an sich herum, wobei er seinen Hocker umwarf. Ein paar andere Gäste sahen deutlich missbilligend zu ihrem Tisch herüber.

»Immerdoch«, lallte Kaspa kichernd.

West sah kurz von seinem Glas auf. »Sie sind beide betrunken.«

»Das ist nicht unsere Schuld.« Jalenhorm grabschte nach seinem Hocker. »Seine!« Er deutete mit einem wackelnden Finger auf Jezal.

»Er hat gewonnen!«, gurgelte Kaspa. »Sie ham gewonnen, oder nich, und jetzt müssn wir feiern!«

Jezal wünschte, sie hätten nicht ganz so viel feiern müssen. Es wurde langsam peinlich.

»Meine Kusine Ariss wa da – hat alls gesehn. Sie war sehr beeindruckt.« Kaspa schlang den Arm um Jezals Schulter. »Ich glaub, sie is ganz fassiniert von Ihnen … fassiniert … fassiniert.« Seine nassen Lippen bewegten sich direkt vor Jezals Gesicht, während er versuchte, das Wort richtig herauszubringen. »Sie iss sehr reich, müssensewissen, sehr reich. Fassiniert.«

Jezal rümpfte die Nase. Er war nicht im Geringsten an dieser schrecklich dummen Kusine interessiert, ganz gleich, wie reich sie war, und Kaspa hatte Mundgeruch. »Gut … sehr schön.« Er löste sich aus der Umarmung des Leutnants und schob ihn nicht besonders zart von sich.

»Also, wann geht es denn nun mit dieser Sache im Norden richtig los?«, wollte Brint ein wenig zu laut wissen, als ob der Feldzug zumindest für ihn gar nicht schnell genug beginnen konnte. »Doch hoffentlich bald, damit wir vor dem Winter wieder zu Hause sind, oder, Herr Major?«

»Ach«, schnaubte West mit finsterem Gesicht, »wir können von Glück reden, wenn wir vor dem Winter überhaupt aufbrechen, bei der Geschwindigkeit, mit der alles vor sich geht.«

Brint sah ein wenig schockiert aus. »Na, ich bin mir jedenfalls sicher, dass wir diese Wilden ordentlich vermöbeln werden, wenn wir einmal dort sind.«

»Vermöbeln, jawoll!«, rief Kaspa.

»Genau«, nickte Jalenhorm zustimmend.

West war nicht in der richtigen Stimmung für dieses Gerede. »Da wäre ich mir mal nicht zu sicher. Haben Sie sich einmal angesehen, in welchem Zustand einige der zwangsverpflichteten Soldaten sind? Die können kaum laufen, vom kämpfen gar nicht zu reden. Es ist ein Trauerspiel.«

Jalenhorm wischte das mit einer ärgerlichen Handbewegung weg. »Das sind doch nur verdammte Wilde, alle, wie sie da sind! Die pusten wir doch um und machen sie fertig, so wie Jezal den Idioten heute fertiggemacht hat, was, Jezal? Klar sind wir bis zum Winter wieder zu Hause, das sagen alle!«

»Kennen Sie das Land dort oben?«, fragte West und beugte sich ein wenig vor. »Wälder, Berge, Flüsse und so weiter. Da gibt es nur wenig offenes Gelände und kaum Straßen, auf denen Truppen marschieren können. Da müssen Sie erst mal einen fangen, bevor Sie ihn vermöbeln können. Bis zum Winter wieder zu Hause? Bis zum nächsten vielleicht, wenn wir überhaupt je zurückkommen.«

Brint hatte die Augen erschrocken aufgerissen. »Das meinen Sie doch nicht ernst!«

»Nein … nein, Sie haben Recht.« West seufzte und schüttelte sich. »Ich bin sicher, es wird alles wunderbar sein. Ruhm und Beförderungen für alle Beteiligten. Bis zum Winter wieder zu Hause. Aber ich würde doch vielleicht einen Mantel mitnehmen, für alle Fälle.«

Ein beklommenes Schweigen senkte sich über die Gruppe. West hatte jenen bitteren Gesichtsausdruck, den er gelegentlich einmal aufsetzte und der ihnen sagte, dass sie heute Abend nicht mehr viel Spaß mit ihm haben würden. Brint und Jalenhorm sahen verwirrt und beleidigt aus. Nur Kaspa behielt seine unverwüstliche gute Laune, war allerdings in seinem Stuhl zusammengesunken, hatte die Augen halb geschlossen und nahm gnädigerweise nur wenig von dem wahr, was um ihn herum geschah.

Eine schöne Feier.

Jezal selbst war müde, zornig und besorgt. Er sorgte sich wegen des Turniers, wegen des Krieges … und wegen Ardee. Der Brief war noch immer da, zusammengefaltet in seiner Tasche. Er warf West von der Seite einen Blick zu und sah schnell wieder weg. Verdammt, er fühlte sich schuldig. Er hatte sich noch nie zuvor richtig schuldig gefühlt, und es gefiel ihm überhaupt nicht. Wenn er nicht zu dem Treffen ginge, würde er sich schuldig fühlen, weil er sie sitzen gelassen hatte. Wenn er es doch täte, würde er sich schuldig fühlen, weil er West gegenüber sein Wort gebrochen hatte. Es war eine verdammte Zwickmühle. Jezal kaute an seinem Daumennagel. Was hatte er bloß mit dieser verdammten Familie!

»Nun«, sagte West in scharfem Ton, »ich muss aufbrechen. Morgen muss ich früh raus.«

»Hmm«, brummte Brint.

»Richtig«, sagte Jalenhorm.

West sah Jezal in die Augen. »Kann ich kurz mit Ihnen reden?« Sein Gesicht war ernst, sogar etwas zornig. Jezals Herz setzte kurz aus. Was, wenn West von dem Brief erfahren hatte? Wenn Ardee ihm davon erzählt hatte? Der Major ging in eine ruhige Ecke hinüber. Jezal starrte vor sich hin und suchte verzweifelt nach einem Ausweg.

»Jezal!«, rief West.

»Ja, ich komme.« Er stand mit größtem Zögern auf und folgte seinem Freund, dem er ein, wie er hoffte, unschuldig wirkendes Lächeln zuwarf. Vielleicht ging es um etwas ganz anderes. Gar nicht um Ardee. Bitte, lass es etwas anderes sein.

»Ich will nicht, dass jemand anders etwas davon mitbekommt …« West sah sich um, ob ihnen auch niemand zusah. Jezal schluckte. Jeden Augenblick würde er einen Schlag ins Gesicht erhalten. Wenigstens einen. Er war noch nie zuvor ins Gesicht geschlagen worden, jedenfalls nicht richtig. Ein Mädchen hatte ihm einmal eine Ohrfeige gegeben, aber das war wohl kaum vergleichbar. Er bereitete sich so gut es ging auf den Schlag vor, biss die Zähne zusammen und verzog das Gesicht ein wenig. »Burr hat das Datum festgelegt. Wir haben noch vier Wochen.«

Jezal starrte ihn an. »Was?«

»Bis wir auslaufen.«

»Auslaufen?«

»Nach Angland, Jezal!«

»Ach ja … natürlich, Angland! Vier Wochen, sagen Sie?«

»Ich dachte, Sie würden das vielleicht gern wissen wollen, da Sie jetzt so viel mit dem Turnier um die Ohren haben. So können Sie sich ein wenig darauf vorbereiten. Behalten Sie es aber bitte für sich.«

»Ja, natürlich.« Jezal wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Geht es Ihnen gut? Sie sehen blass aus.«

»Mir geht es wunderbar, ganz wunderbar.« Jezal atmete tief durch. »Das ist die ganze Aufregung, wissen Sie, das Fechten und … alles.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Sie haben sich heute wacker geschlagen.« West klopfte ihm auf die Schulter. »Aber Sie haben noch einiges vor sich. Drei weitere Runden, bevor Sie sich Sieger nennen dürfen, und es wird in jeder Runde schwerer. Ruhen Sie sich nicht auf Ihrem Erfolg aus, Jezal – und betrinken Sie sich nicht zu sehr!« Damit wandte er sich zur Tür und ging. Jezal atmete erleichtert durch, als er zum Tisch zurückkehrte, an dem die anderen saßen. Seine Nase war noch unversehrt.

Brint hatte, als er gemerkt hatte, dass West ging, gleich damit angefangen, gegen den Major Stimmung zu machen. »Was, zur Hölle, war das denn eben?«, fragte er, verzog das Gesicht und deutete mit dem Daumen zur Tür. »Ich meine, na ja, ich weiß, er soll wohl der große Held sein oder so, aber nun, ich muss schon sagen!«

Jezal sah zu ihm hinunter. »Was müssen Sie schon sagen?«

»Na, dass er hier so was erzählt! Das ist doch defätistisch!« Befeuert durch den Wein, wurde Brint jetzt mutig, und er redete sich in Rage. »Das ist doch … ich muss schon sagen, das ist doch feiges Gerede, ist doch so!«

»Jetzt passen Sie mal auf, Brint«, fauchte Jezal, »er hat in drei großen Schlachten gekämpft, und er war der Erste, der die Bresche von Ulrioch gestürmt hat! Er mag kein Edelmann sein, aber er ist ein verdammt mutiger Kerl! Außerdem versteht er etwas von Kriegsführung, er kennt Marschall Burr, und Angland ist ihm nicht fremd! Und wo kennen Sie sich aus, Brint?« Jezal verzog verächtlich den Mund. »Außer dabei, wie man beim Kartenspiel verliert und Weinflaschen leer macht?«

»Bei mehr braucht sich ein Mann meiner Meinung nach auch nicht auszukennen!«, lachte Jalenhorm nervös, der sein Bestes versuchte, um die Situation zu entschärfen. »Mehr Wein!«, rief er an niemand Besonderen gerichtet,

Jezal ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. Die Stimmung der Gesellschaft war schon vor Wests Abgang etwas gedämpft gewesen und wurde es nun noch mehr. Brint maulte vor sich hin, Jalenhorm schwankte auf seinem Stuhl. Kaspa war fest eingeschlafen, hatte sich weit über den Tisch gestreckt und machte beim Atmen leise, schmatzende Geräusche.

Jezal leerte sein Weinglas und sah in die wenig viel versprechenden Gesichter dieser Runde. Verdammt, wie sehr ihn das alles langweilte. Es verhielt sich wirklich so – und diese Erfahrung machte er selbst jetzt zum ersten Mal –, dass die Gespräche von Betrunkenen nur dann interessant schienen, wenn man selbst betrunken war. Einige Gläser Wein konnten den entscheidenden Unterschied machen, ob man einen Mann als herrlichen Gesprächspartner oder als unerträglichen Dummschwätzer ansah. Er fragte sich, ob er selbst, wenn er betrunken war, ebenso langweilig daherredete wie Kaspa, Jalenhorm oder Brint.

Jezal lächelte schmallippig, als er zu dem immer noch beleidigten Leutnant hinübersah. Wenn er König wäre, überlegte er, würde er langweilige Unterhaltungen mit dem Tode bestrafen, oder zumindest mit einer langjährigen Haftstrafe. Er stand auf.

Jalenhorm sah zu ihm hoch. »Wo wollen Sie denn hin?«

»Ich ruhe mich besser noch ein wenig aus«, erwiderte Jezal kurz angebunden, »ich will morgen trainieren.« Er musste sich beherrschen, den Raum nicht geradezu fluchtartig zu verlassen.

»Aber Sie haben doch gewonnen! Wollen Sie das gar nicht feiern?«

»Es war nur die erste Runde. Ich muss immer noch drei weitere Männer schlagen, und sie werden alle besser sein als dieser Trottel heute.« Jezal nahm seinen Mantel, der über der Stuhllehne hing, und zog ihn sich über.

»Wie Sie meinen«, sagte Jalenhorm und trank geräuschvoll einen Schluck.

Kaspa hob den Kopf vom Tisch; sein Haar war auf einer Seite nass von verschüttetem Wein und klebte an seinem Kopf. »Gehnseschon?«

»Hmm«, nickte Jezal, drehte sich um und schritt davon.

Draußen fegte ein kalter Wind durch die Straße, der ihn noch nüchterner werden ließ, als er ohnehin schon war. Schmerzhaft nüchtern. Er brauchte jetzt unbedingt intelligente Gesellschaft, aber wo sollte er die um diese nachtschlafende Zeit finden? Es fiel ihm nur eine Möglichkeit ein.

Er zog den Brief aus seiner Tasche und las ihn im düsteren Lichtschein, der aus den Fenstern der Taverne fiel, noch ein weiteres Mal. Wenn er sich jetzt beeilte, würde er sie vielleicht sogar noch antreffen. Langsam ging er in Richtung des ›Vier Ecken‹. Nur zum Reden, sonst nichts. Er brauchte jemanden, mit dem er reden konnte …

Nein. Er zwang sich, stehen zu bleiben. Konnte er denn wirklich vorgeben, dass er ihr Freund sein wollte? Man sprach von einer Freundschaft zwischen Mann und Frau, wenn einer den anderen lange Zeit begehrt hatte, aber niemals zum Ziel gekommen war. Ein solches Arrangement übte keinerlei Reiz auf ihn aus.

Aber was dann? Eine Ehe? Mit einer Frau, die nicht das richtige Blut und kaum Geld besaß? Undenkbar! Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er Ardee mit nach Hause nähme, um sie seiner Familie vorzustellen. Hier ist meine frisch gebackene Gattin, Vater! Gattin? Und welche Beziehungen pflegt sie? Mit wem ist sie verwandt? Bei dem Gedanken überlief ihn ein Schauder.

Aber was, wenn er etwas zwischendrin finden könnte, ein Arrangement, mit dem alle glücklich sein würden? Seine Füße setzten sich langsam wieder in Bewegung. Keine Freundschaft, keine Ehe, aber eine lockerere Beziehung? Schnellen Schrittes eilte er nun den Vier Ecken entgegen. Sie könnten sich im Geheimen treffen, reden, lachen … vielleicht irgendwo, wo es auch ein Bett gäbe …

Nein. Nein. Jezal hielt wieder an und schlug sich wütend gegen den Kopf. Das durfte er nicht geschehen lassen, selbst dann nicht, wenn sie dazu bereit war. West war eine Sache, aber was, wenn andere davon erfuhren? Seinen Ruf würde es sicherlich nicht beschädigen, aber der ihre wäre ruiniert. Ruiniert! Bei diesem Gedanken bekam er eine Gänsehaut. Das hatte sie nicht verdient, ganz sicher nicht. Und es ging auch nicht an, dass er sich einfach darauf zurückzog, dass das ihr Problem sei. Es ging nicht. Nur, damit er ein wenig Spaß haben konnte? Wie selbstsüchtig war das! Er war überrascht, dass ihm das noch nie zuvor aufgegangen war.

Und so hatte er sich in eine Ecke hineinmanövriert, in der er heute schon zehn Mal gestanden hatte: Nichts Gutes würde daraus erwachsen, wenn er sich mit ihr traf. Sie würden ohnehin schon bald in den Krieg reiten, und dann wäre es mit seiner albernen Sehnsucht nach ihr sowieso vorbei. Also ab nach Hause und ins Bett, und morgen zum Training. Üben, üben, üben, bis Marschall Varuz sie aus seinen Gedanken herausgeprügelt hatte. Er holte noch einmal tief Luft, straffte die Schultern und machte sich auf den Weg zum Agriont.

 

Die Statue von Harod dem Großen, die auf ihrer Marmorsäule in den Nachthimmel ragte, war fast so groß wie Jezal und wirkte viel zu wuchtig und großartig für den kleinen Platz in der Nähe des ›Vier Ecken‹. Auf dem Weg dorthin war er vor jedem Schatten zurückgezuckt, hatte andere Menschen gemieden und sein Bestes getan, um völlig harmlos und unauffällig zu wirken. Nicht, dass zu dieser Stunde besonders viele Leute unterwegs gewesen wären. Es war spät, und Ardee hatte es sicher schon vor langer Zeit aufgegeben, auf ihn zu warten, immer vorausgesetzt, dass sie überhaupt je dort erschienen war.

Er schlich nervös um die Statue herum, spähte in die Schatten und kam sich vor wie ein Narr. Über diesen Platz war er schon viele, viele Male gegangen, ohne weiter darüber nachzudenken. War es nicht einfach ein öffentlicher Ort? Er hatte ebenso ein Recht darauf, hier zu sein, wie alle anderen, aber dennoch fühlte er sich wie ein Dieb.

Der Platz war menschenleer. Das war schon mal gut. Geradezu perfekt. Es gab nichts zu gewinnen und alles zu verlieren und so weiter. Aber wieso war er dann so am Boden zerstört? Er sah hoch zu Harods Gesicht, dem jener finstere Ausdruck eingemeißelt worden war, den Bildhauer den wahrhaft Großen vorbehalten. Er hatte ein schönes, kräftiges Kinn, das es fast mit Jezals eigenem aufnehmen konnte.

»Aufwachen!«, zischte eine Stimme direkt an seinem Ohr. Jezal quiekte geradezu mädchenhaft auf, sprang davon, stolperte und konnte sich nur aufrecht halten, indem er sich an König Harods riesigem Fuß festhielt. Hinter ihm stand eine dunkle Gestalt, in eine Kapuze gehüllt.

Lachen. »Kein Grund, sich in die Hosen zu machen.« Ardee. Sie schob die Kapuze zurück. Aus einem Fenster in der Nähe fiel Licht auf den unteren Teil ihres Gesichts und fing ihr schiefes Lächeln ein. »Ich bin’s doch bloß.«

»Ich habe Sie nicht gesehen«, stammelte er und bemühte sich, seinen verzweifelten Griff um den großen Steinfuß zu lösen und schnell wieder völlig gelassen zu wirken. Kein guter Anfang, das musste er zugeben. Er hatte kein Talent für ein solches Versteckspiel. Ardee hingegen schien sich richtig in ihrem Element zu fühlen; so sehr, dass er sich fragte, ob sie darin Erfahrung hatte.

»Von Ihnen habe ich allerdings in letzter Zeit auch ziemlich wenig gesehen«, sagte sie.

»Nun ja«, murmelte er, während sein Herz vor Schreck immer noch heftig pochte, »ich war sehr beschäftigt, wegen des Turniers und so …«

»Stimmt, das ach so wichtige Turnier. Ich habe Sie heute kämpfen sehen.«

»Sie waren dort?«

»Es war sehr beeindruckend.«

»Äh, vielen Dank, ich …«

»Mein Bruder hat etwas gesagt, nicht wahr?«

»Wie, übers Fechten?«

»Nein, Sie Dussel. Über mich.«

Jezal schwieg und dachte darüber nach, wie diese Frage am besten zu beantworten war. »Nun, er …«

»Haben Sie Angst vor ihm?«

»Nein!« Schweigen. »Na schön, ja.«

»Aber Sie sind trotzdem gekommen. Da sollte ich mich wohl geschmeichelt fühlen.« Sie umkreiste ihn mit langsamen Schritten, sah ihn von oben bis unten an, von den Füßen bis zum Haaransatz und wieder zurück. »Sie haben sich allerdings ganz schön Zeit gelassen. Es ist spät. Ich muss bald nach Hause.«

In der Art, wie sie ihn ansah, lag etwas, das überhaupt nicht dazu beitrug, dass sich sein klopfendes Herz beruhigte. Im Gegenteil. Er musste ihr sagen, dass sie sich nicht länger treffen konnten. Es war falsch. Für sie beide. Nichts Gutes konnte daraus erwachsen … nichts Gutes …

Sein Atem ging schnell, angespannt, aufgeregt, und er konnte seine Augen nicht von ihrem von Schatten überlagerten Gesicht abwenden. Er musste es ihr sagen, jetzt. War das nicht der Grund, weswegen er gekommen war? Er öffnete den Mund, aber die guten Gründe, die er anführen wollte, schienen plötzlich in weite Ferne gerückt, sie schienen auf eine andere Zeit und andere Menschen zuzutreffen, nicht mehr greifbar und unbedeutend.

»Ardee …«, begann er.

»Hmmm?« Sie trat auf ihn zu, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. Jezal versuchte, einen Schritt zurückzutreten, aber da stand die Statue. Ardee kam noch näher, die Lippen leicht geöffnet, die Augen auf seinen Mund gerichtet. Was war so falsch daran, wenn man genauer darüber nachdachte?

Ihre Fingerspitzen lagen kalt auf seiner Haut, strichen seitlich über sein Gesicht, verfolgten die Linie seines Unterkiefers, griffen sanft in sein Haar und zogen seinen Kopf zu ihr hinunter. Ihre Lippen berührten seine Wange, weich und warm, dann sein Kinn, dann seine Lippen. Sie saugten sanft an den seinen. Dann drängte sie sich gegen ihn, und ihre andere Hand glitt an seinen Rücken. Ihre Zunge strich über sein Zahnfleisch, seine Zähne, seine Zunge, und sie gab leise kehlige Geräusche von sich. Er auch, vermutlich – er war sich nicht sicher. Sein ganzer Körper bebte, war gleichzeitig heiß und kalt, und sein ganzer Verstand war in seinen Mund gerutscht. Es war, als ob er noch nie zuvor eine Frau geküsst hatte. Was konnte daran schlecht sein? Ihre Zähne knabberten an seinen Lippen, und fast tat es ein bisschen weh, aber nur fast.

Er öffnete die Augen: atemlos, zitternd, weich in den Knien. Sie sah zu ihm auf. Er konnte ihre Augen in der Dunkelheit glänzen sehen, wie sie ihn genau ansahen, ihn beobachteten.

»Ardee …«

»Was?«

»Wann darf ich Sie wiedersehen?« Seine Kehle war trocken, seine Stimme klang heiser. Sie sah mit einem leisen Lächeln zu Boden. Es war ein grausames Lächeln, als hätte sie seine Täuschung durchschaut und nun einen großen Batzen Geld von ihm gewonnen. Ihm war es egal. »Wann?«

»Oh, ich sage Ihnen Bescheid.«

Er musste sie noch einmal küssen. Scheiß auf die möglichen Folgen. Scheiß auf West. Zur Hölle mit dem ganzen Kram. Er beugte sich zu ihr hinunter und schloss die Augen.

»Nein, nein, nein.« Sie entfernte sich von seinem Mund. »Sie hätten früher kommen sollen.« Mit einem Ruck löste sie sich von ihm und drehte sich um, das Lächeln noch immer auf den Lippen, dann ging sie langsam davon. Er sah ihr nach, still, erstarrt, ganz in ihren Bann geschlagen, den Rücken noch immer an den kalten Sockel der Statue gelehnt. So hatte er sich noch nie zuvor gefühlt. Noch nie.

Sie blickte sich noch einmal um, nur einmal, als wollte sie überprüfen, ob seine Augen ihr auch immer noch folgten. Seine Brust zog sich zusammen, fast schon schmerzvoll, wie sie ihn so ansah, und dann ging sie um eine Straßenecke und war verschwunden.

Eine Weile stand er noch da, die Augen weit geöffnet, und atmete nur. Dann fuhr ein kühler Windstoß über den Platz, und die Welt drängte wieder an ihn heran. Fechten, der Krieg, sein Freund West, seine Verpflichtungen. Ein Kuss, das war alles. Ein Kuss, und seine guten Vorsätze waren versickert wie Pisse aus einem gesprungenen Nachttopf. Er sah sich um, plötzlich von Schuld gepackt, verwirrt und verängstigt. Was hatte er hier getan?

»Scheiße«, sagte er.