GESCHENK UND ANGEBOT
»Und vorwärts!«, bellte Marschall Varuz.
Jezal sprang auf ihn zu, während er sich mit den Zehen an der Kante des Schwebebalkens festkrallte und verzweifelt versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dabei machte er ein oder zwei ungeschickte Stöße, um den Eindruck zu erwecken, dass er voll und ganz bei der Sache sei. Die vier Übungsstunden pro Tag laugten ihn allmählich aus, und er fühlte sich völlig erschöpft.
Varuz, der sich auf dem Balken so elegant und sicher hin und her bewegte wie auf einem breiten Fußweg, runzelte die Stirn und stieß Jezals stumpfe Klinge beiseite. »Und zurück!«
Stolpernd ging Jezal auf den Fersen zurück und fuchtelte wild mit dem linken Arm, um das Gleichgewicht zu halten. Alles oberhalb der Knie schmerzte dabei schrecklich. Unterhalb der Knie war es noch viel, viel schlimmer. Varuz war über sechzig, aber ihm war keinerlei Ermüdung anzusehen. Er schwitzte nicht einmal, während er auf dem Balken vor und zurück tänzelte und seine Klingen durch die Luft pfeifen ließ. Jezal selbst rang mühsam nach Luft, während er verzweifelt mit der linken Hand parierte, ins Schwanken geriet und hilflos mit dem hinteren Fuß nach dem sicheren Tritt auf dem Balken herumtastete.
»Und vorwärts!« Durch Jezals Wadenbeine zog ein gemeiner Schmerz, als er versuchte, die Richtung zu ändern und dem nervtötenden alten Mann einen festen Hieb zu versetzen; aber Varuz wich nicht zurück. Stattdessen duckte er sich unter dem Verzweiflungsschlag hindurch und nutzte die Rückseite seines Arms, um Jezal die Beine wegzuschlagen.
Der Hauptmann stieß einen wilden Schrei aus, als der Innenhof sich um ihn drehte. Sein Bein schlug mit Wucht gegen das Ende des Balkens, und dann stürzte er mit dem Gesicht nach unten ins Gras, wobei sich sein Kinn in den Boden bohrte und seine Zähne heftig aufeinander schlugen. Er rollte ein kleines Stück davon und blieb dann auf dem Rücken liegen, nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen, und spürte das böse Pochen dort an seinem Bein, wo es beim Absturz auf den Balken getroffen war. Da würde er morgen einen neuen hässlichen blauen Fleck bekommen.
»Entsetzlich, Jezal, wirklich entsetzlich!«, rief der alte Soldat, als er flink auf den Rasen sprang. »Sie trippeln auf dem Balken herum, als ob Sie auf dem Hochseil stünden!« Jezal drehte sich fluchend auf alle viere und richtete sich steifbeinig auf. »Das ist ein solides Stück Eichenholz, so breit, dass man sich darauf verlaufen könnte!« Der Lord Marschall unterstrich seine Meinung, indem er dem Balken mit seiner kurzen Klinge einen Hieb versetzte, dass die Splitter flogen.
»Ich dachte, Sie hätten vorwärts gesagt«, maulte Jezal.
Varuz’ Augenbrauen schossen ruckartig in die Höhe. »Nehmen Sie ernsthaft an, Hauptmann Luthar, dass Bremer dan Gorst seinen Gegnern verlässliche Informationen zukommen lässt?«
›Bremer dan Gorst wird versuchen, mich zu schlagen, du alter Drecksack! Und du solltest mir helfen, ihn zu besiegen!‹ Das war es, was Jezal dachte, aber er beherrschte sich und sprach es nicht aus. Stattdessen schüttelte er nur stumm den Kopf.
»Nein! Nein, das tut er natürlich nicht! Er wird sich alle Mühe geben, seine Gegner zu verwirren, wie es jeder große Degenfechter tut!« Der Lord Marschall marschierte auf und ab und schüttelte den Kopf. Wieder dachte Jezal darüber nach, alles hinzuwerfen. Er hatte es satt, jeden Abend völlig erschöpft ins Bett zu fallen, noch dazu zu einer Zeit, wo er normalerweise gerade erst anfangen würde, sich zu betrinken. Er hatte es satt, jeden Morgen zerschlagen und mit schmerzenden Gliedern aufzuwachen und sich dann vier endlose Stunden lang mit Laufen, Balken, Stange und Figuren herumzuschlagen. Er hatte es satt, dass ihn Major West immer wieder in den Dreck warf. Aber vor allem hatte er es satt, sich von diesem alten Narren herumschubsen zu lassen.
»Eine deprimierende Vorstellung, Herr Hauptmann, sehr deprimierend. Man könnte geradezu meinen, Sie würden schlechter statt besser …«
Nie würde Jezal das Turnier gewinnen. Niemand traute ihm das zu, er sich selbst am allerwenigsten. Was hinderte ihn daran, all das aufzugeben und zu seinen Karten und den langen Nächten zurückzukehren? War das nicht alles, was er sich vom Leben erhoffte? Aber was würde ihn dann unter den vielen tausend anderen, jüngeren Adelssöhnen hervorheben? Er hatte schon seit langem beschlossen, dass er etwas Besonderes sein wollte. Vielleicht auch ein Lord Marschall, und dann vielleicht Lord Schatzmeister. Jedenfalls etwas Großes und Wichtiges. Er wollte einen hohen Stuhl im Geschlossenen Rat, und er wollte wichtige Entscheidungen treffen. Er wollte, dass die Leute ihn ehrfürchtig anstarrten, ihn anlächelten und wie gebannt an seinen Lippen hingen. Sie sollten »Da kommt Lord Luthar!« flüstern, wenn er vorüberschritt. Würde er stattdessen doch nur die reichere, schlauere, besser aussehende Ausgabe von Leutnant Brint bleiben? Puh! Daran war gar nicht zu denken.
»… wir haben noch einen schrecklich langen Weg vor uns und nicht mehr genug Zeit, ihn zu gehen, falls Sie Ihre Einstellung nicht doch noch ändern. Ihre Gegenwehr ist miserabel, Ihr Durchhaltevermögen immer noch schwach, und was Ihr Gleichgewicht angeht, breiten wir lieber den Mantel des Schweigens darüber …«
Und was würden alle anderen denken, wenn er nun aufgab? Was würde sein Vater tun? Was würden seine Brüder sagen? Und die anderen Offiziere? Er würde wie ein Feigling aussehen. Und dann war da ja auch noch Ardee West. Sie ging ihm in den letzten Tagen ständig im Kopf herum. Würde sie sich immer noch so eng an ihn schmiegen, wenn er mit dem Fechten aufhörte? Würde sie dann noch mit so sanfter Stimme mit ihm sprechen? Würde sie über seine Witze lachen? Würde sie ihn mit diesen großen, dunklen Augen ansehen, so nah, dass er fast ihren Atem auf seinem Gesicht …
»Hören Sie zu, Junge?«, donnerte Varuz. Jezal fühlte in der Tat Atem auf seinem Gesicht, begleitet von ein bisschen Spucke.
»Ja, Herr Marschall! Gegenwehr miserabel, Durchhaltevermögen schwach!« Jezal schluckte nervös. »Über das Gleichgewicht den Mantel des Schweigens breiten.«
»So ist es! Allmählich fange ich an zu glauben – obwohl ich das nicht glauben möchte, angesichts der ganzen Mühe, die Sie mir bereitet haben –, dass es Ihnen mit dieser Sache überhaupt nicht ernst ist.« Er starrte Jezal in die Augen. »Was meinen Sie, Herr Major?«
Es kam keine Antwort. West saß zusammengesunken auf seinem Stuhl, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte grimmigen Blickes ins Leere.
»Major West?«, fauchte der Lord Marschall.
Mit einem Ruck sah West auf, als sei er sich erst jetzt der Anwesenheit der beiden anderen bewusst geworden.
»Es tut mir Leid, Herr Marschall, ich war abgelenkt.«
»Das sehe ich.« Varuz saugte an seinen Zähnen. »Offenbar bin ich der Einzige, der sich an diesem Morgen konzentriert.« Es war zwar eine Erleichterung, dass sich der Zorn des alten Mannes nun über jemand anderem entlud, aber Jezals Aufatmen war nicht von langer Dauer.
»Schön, schön«, erklärte der alte Marschall kurz angebunden, »wenn Sie es so haben wollen. Ab morgen werden wir jede Übungseinheit mit einer Runde Schwimmen im Burggraben beginnen. Eine Meile oder zwei sollten genügen.« Jezal presste die Zähne aufeinander, um nicht aufzubrüllen. »Kaltes Wasser tut Wunder, um die Sinne zu schärfen. Und vielleicht sollten wir auch ein wenig früher anfangen, damit wir zu einer Stunde arbeiten, in der Sie besonders aufnahmefähig sind. Also dann um fünf. In der Zwischenzeit, Hauptmann Luthar, würde ich vorschlagen, dass Sie sich überlegen, ob Sie hier sind, weil Sie beim Turnier gewinnen wollen, oder nur, weil Ihnen so viel an unserer Gesellschaft liegt.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte davon.
Jezal wartete, bis Varuz den Innenhof verlassen hatte, bevor er die Beherrschung verlor. Kaum dass er sich sicher war, dass der Alte ihn nicht mehr hören konnte, schleuderte er wütend seine Klingen gegen die Wand.
»Verdammt!«, brüllte er, als die Degen auf den Boden rasselten. »Scheiße!« Er sah sich nach einem Gegenstand um, den man treten konnte, ohne dabei selbst zu viel Schaden zu nehmen. Sein Blick blieb am Ende des Barrens hängen, aber bei seinem Tritt verschätzte er sich und musste sich zusammennehmen, um nicht unwillkürlich nach seinem schmerzenden Fuß zu greifen und wie ein Idiot herumzuhüpfen. »Scheiße, Scheiße!«, fluchte er.
West war enttäuschender Weise völlig unbeeindruckt. Er stand mit finsterem Gesicht auf und schickte sich an, Marschall Varuz zu folgen.
»Wo gehen Sie denn hin?«, fragte Jezal.
»Weg«, erklärte West über seine Schulter hinweg. »Ich habe genug gesehen.«
»Was soll das denn heißen?«
West blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Es mag zwar erstaunlich klingen, aber es gibt größere Probleme auf der Welt als das hier.«
Jezal blieb mit offenem Mund zurück, als West den Innenhof verließ. »Für wen halten Sie sich denn eigentlich?«, brüllte er ihm nach, als er sich überzeugt hatte, dass der Major verschwunden war. »Scheiße, Scheiße!« Kurz zog er es in Erwägung, den Balken noch einmal zu treten, aber er verzichtete lieber darauf.
Auf dem Weg zurück in sein Quartier war Jezal noch immer in übelster Laune, daher mied er die belebteren Straßen des Agrionts und wählte die ruhigeren Gassen und Gärten neben dem Weg der Könige. Missmutig hielt er seinen Blick auf die Füße gerichtet, um auf jeden Fall zu vermeiden, dass er angesprochen wurde. Aber das Glück war ihm nicht hold.
»Jezal!« Es war Kaspa, der mit einem gelbhaarigen, teuer gekleideten Mädchen spazieren ging. Sie wurden von einer streng dreinblickenden Matrone begleitet, zweifelsohne die Gouvernante der jungen Dame. Offensichtlich hatten sie hier verweilt, um sich eine unbedeutende Skulptur auf diesem abseits gelegenen Platz anzusehen.
»Jezal!«, rief Kaspa erneut und schwenkte den Hut über dem Kopf hin und her. Nun konnte man sie nicht mehr übersehen. Jezal setzte ein wenig überzeugendes Lächeln auf und schritt zu ihnen herüber. Das blasse Mädchen lächelte ihn an, als er näher kam, aber falls diese Geste attraktiv aussehen sollte, verfehlte sie ihre Wirkung völlig.
»Kommen Sie gerade wieder vom Fechten, Luthar?«, fragte Kaspa überflüssigerweise. Jezal war verschwitzt und trug zwei Fechteisen bei sich. Außerdem war es überall bekannt, dass er jeden Morgen trainierte. Man brauchte also keinen besonders klugen Kopf, um zu diesem Schluss zu gelangen, aber das war auch gut so, weil Kaspa keinen besaß.
»Ja. Wie haben Sie das nur erraten?« Jezal hatte die Unterhaltung nicht gleich völlig abwürgen wollen, daher beendete er den Satz mit einem falschen Lachen, das auch auf den Gesichtern der Damen schnell wieder ein Lächeln erscheinen ließ.
»Ha, ha«, lachte Kaspa, der es wie immer nicht übel nahm, wenn man sich auf seine Kosten amüsierte. »Jezal, darf ich Ihnen meine Kusine vorstellen, Lady Ariss dan Kaspa? Das ist mein Vorgesetzter, Hauptmann Luthar.« Das war also die berühmte Kusine. Eine der reichsten Erbinnen in der Union und aus bester Familie. Kaspa erzählte dauernd davon, wie schön sie war, aber in Jezals Augen war sie ein bleiches, dürres, kränklich wirkendes Ding. Sie lächelte schwach und bot ihm ihre schlaffe, weiße Hand.
Er hauchte einen äußerst oberflächlichen Kuss darüber hin. »Ich bin entzückt«, murmelte er ohne Überzeugung. »Bitte entschuldigen Sie meinen Aufzug, ich komme gerade vom Fechten.«
»Natürlich«, quiekte sie mit hoher, piepsiger Stimme, als sie sicher war, dass er zu Ende gesprochen hatte. »Ich habe gehört, dass Sie ein großer Fechter sind.« Es gab eine Pause, in der sie verzweifelt nach etwas suchte, das sie sagen konnte, dann leuchteten ihre Augen auf. »Sagen Sie mir, Herr Hauptmann, ist das Fechten wirklich so gefährlich?«
Welch ein geistloses Geschwätz. »O nein, meine Dame, im Ring verwenden wir nur stumpfe Klingen.« Er hätte mehr sagen können, aber er hatte nicht die geringste Lust, sich Mühe zu geben. Stattdessen lächelte er sie dünn an. Sie lächelte zurück. Das Gespräch stand gefährlich nahe vor dem Scheitern.
Jezal wollte sich schon wieder verabschieden, da das Thema Fechten offensichtlich nun ausgereizt war, aber bevor er das tun konnte, schnitt Ariss ungeschickt ein anderes Thema an. »Und sagen Sie, Herr Hauptmann, wird es tatsächlich Krieg im Norden geben?« Ihre Stimme wurde zum Schluss des Satzes immer leiser, aber ihre Anstandsdame machte ein zustimmendes Gesicht und war offenbar von den Konversationskünsten ihres Mündels entzückt.
Verschone mich. »Nun, mir scheint …«, begann Jezal. Die blassblauen Augen von Lady Ariss starrten ihn erwartungsvoll an. Blaue Augen sind absolut grässlich, ging es ihm durch den Kopf. Er fragte sich, von welchem Thema sie wohl weniger verstand – vom Fechten oder von Politik? »Was denken Sie?«
Die Brauen der Anstandsdame zogen sich leicht zusammen. Lady Ariss sah ein wenig überrumpelt aus und errötete leicht, während sie nach einer Antwort suchte. »Nun, ja … ich meine … ich bin sicher, dass alles irgendwie … gut ausgehen wird?«
Dem Schicksal sei Dank, dachte Jezal, hurra, wir sind gerettet! Er musste hier weg. »Natürlich, es wird alles gut ausgehen.« Erneut zwang er sich zu einem Lächeln. »Es war mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, aber ich fürchte, ich muss bald zum Dienst, daher muss ich Sie verlassen.« Er verbeugte sich frostig und formell. »Leutnant Kaspa, Lady Ariss.«
Kaspa klopfte ihm freundlich wie eh und je auf den Arm. Seine dumme, verhärmte Kusine lächelte unsicher. Die Gouvernante warf ihm einen finsteren Blick zu, als er an ihr vorbeiging, aber Jezal achtete nicht darauf.
Er erreichte das Fürstenrund, als die Ratsmitglieder gerade ihre mittägliche Pause beendeten. Den Wachen im Vestibül warf er ein knappes Nicken zu, dann durchquerte er die riesige Tür und schritt den Mittelgang hinunter. Einige der höchsten Edelleute des Reiches schlenderten hinter ihm her, und der widerhallende, hohe Raum war erfüllt von schlurfenden Schritten, Gemurmel und Geflüster, während Jezal sich entlang der leicht gerundeten Wand bis zu seinem Platz hinter dem erhöhten Haupttisch drängte.
»Jezal, wie war das Fechten?« Es war Jalenhorm, der zur Abwechslung einmal früh hier war und den Umstand, dass der Lord Schatzmeister noch nicht zugegen war, für ein Gespräch nutzte.
»Mein Tag fing schon mal besser an. Und bei Ihnen?«
»Oh, ich hatte viel Spaß. Ich habe diese Kusine von Kaspa getroffen, Sie wissen schon …« Er suchte nach dem Namen.
Jezal seufzte. »Lady Ariss.«
»Ja, genau! Haben Sie sie schon gesehen?«
»Ich hatte das Glück, ihr gerade eben zufällig zu begegnen.«
Jalenhorm stieß einen leisen Pfiff aus. »Ist sie nicht wunderschön?«
»Hmm.« Jezal wandte sich gelangweilt ab und sah den Ehrenwerten in ihren pelzbesetzten Umhängen dabei zu, wie sie ihre Plätze einnahmen. Bei vielen handelte es sich allerdings vielmehr um die besonders geringgeschätzten Söhne der hochstehenden Familien oder um bezahlte Stellvertreter. Nur wenige der Großgrundbesitzer erschienen noch persönlich zu den Sitzungen des Offenen Rats, es sei denn, dass sie eine wichtige Beschwerde vorzubringen hatten. Viele von ihnen machten sich nicht einmal die Mühe, einen Vertreter abzuordnen,
»Sie ist wirklich eins der schönsten Mädchen, die ich je gesehen habe. Ich weiß, Kaspa hat dauernd von ihr geschwärmt, aber er ist ihr nicht gerecht geworden.«
»Hmm.« Die Ratsmitglieder schwärmten nun aus und hielten auf ihre Plätze zu. Das Fürstenrund war wie ein Theater gebaut, und die führenden Edelleute der Union saßen sozusagen wie das Publikum in einem großen Halbkreis auf Bankreihen, die in der Mitte von einem Gang geteilt wurden.
Wie im Theater gab es auch hier bessere und billigere Plätze. Die am wenigsten Bedeutsamen saßen weit hinten, hoch oben, und die Bedeutung der Anwesenden stieg, je weiter man nach vorn und nach unten kam. Die erste Reihe war den Oberhäuptern der wichtigsten Familien vorbehalten oder aber denjenigen, die sie an ihrer Statt entsandten. Die Vertreter aus dem Süden, aus Dagoska und Westport, saßen links, Jezal am nächsten. Ganz rechts außen saßen die aus dem Norden und Westen, aus Angland und Starikland. Den Großteil der Sitze dazwischen beanspruchte der alte Adel von Midderland, dem Herzen der Union. Der eigentlichen Union, wie sie selbst es betrachteten. Eine Ansicht, die Jezal teilte.
»Was für eine Haltung, was für eine Eleganz«, schwärmte Jalenhorm weiter. »Und so schönes helles Haar, und diese milchweiße Haut … und diese herrlichen blauen Augen.«
»Und das ganze Geld.«
»Nun ja, das auch. Kaspa hat gesagt, sein Onkel sei sogar noch reicher als sein Vater. Das stelle man sich nur mal vor! Und er hat nur dieses eine Kind. Sie wird jede Mark davon erben. Jede Mark!« Jalenhorm konnte seine Aufregung kaum verbergen. »Der Mann, der sich dieses Mädchen angelt, ist ein wahrer Glückspilz! Wie hieß sie noch mal?«
»Ariss«, brummte Jezal mürrisch. Die Lords, beziehungsweise ihre Vertreter, waren nun grummelnd auf ihre Plätze geschlurft. Die Beteiligung war gering: Die Bänke waren nicht einmal zur Hälfte besetzt. Aber voller wurde es auch nie. Wäre das Fürstenrund tatsächlich ein Theater gewesen, hätte sich der Intendant bereits händeringend nach einem neuen Stück umgesehen.
»Ariss. Ariss.« Jalenhorm leckte sich die Lippen, als ob der Name dort einen süßen Geschmack hinterlassen hätte. »Der Mann, der sie mal kriegt, ist ein echter Glückspilz.«
»Ja, das stimmt. Ein Glückspilz.« Jedenfalls, wenn er mehr Wert auf Geld legte denn auf eine gepflegte Unterhaltung. Er selbst würde vielleicht sogar noch eher die Gouvernante heiraten, dachte Jezal. Die schien zumindest ein bisschen Rückgrat zu haben.
Nun betrat der Lord Schatzmeister den Saal und ging auf das Podest zu, auf dem der Tisch der Vorsitzenden stand – dort, wo bei einem echten Theater die Bühne gewesen wäre. Ihm folgte ein Grüppchen schwarz gekleideter Sekretäre und Schreiber, die allesamt mehr oder weniger mit schweren Büchern und Stapeln hochoffiziell aussehender Papiere beladen waren. So, wie sein karmesinroter Umhang hinter ihm herflatterte, wirkte Lord Hoff wie ein seltener und elegant dahinschwebender Vogel, dem eine Schar Unruhe stiftender Krähen auf den Fersen war.
»Hier kommt das alte Essiggesicht«, flüsterte Jalenhorm, als er sich davonmachte, um sich unauffällig zu seinem eigenen Platz auf der anderen Seite des Tisches zu begeben. Jezal verschränkte die Hände hinter dem Rücken und nahm die übliche Pose ein: Die Füße leicht auseinander, das Kinn hoch in die Luft gereckt. Er ließ den Blick über die Soldaten schweifen, die in regelmäßigen Abständen vor der nach außen gewölbten Wand standen, aber sie alle blieben völlig bewegungslos und präsentierten sich in voller Rüstung, wie immer. Er atmete tief durch und bereitete sich innerlich auf einige Stunden äußerster Langeweile vor.
Der Lord Schatzmeister warf sich auf seinen hohen Stuhl und verlangte nach Wein. Die Sekretäre nahmen rings um ihn her Platz und ließen in der Mitte einen Stuhl für den König frei, der jedoch wie üblich abwesend war. Man raschelte mit Schriftstücken, öffnete große Folianten, spitzte Federn und tunkte sie in Tintenfässer. Der Ratssprecher ging zum Ende des Tisches und klopfte mit seinem Amtsstab mehrfach auf den Boden, um für Ruhe zu sorgen. Das Flüstern der Edelleute und ihrer Vertreter verstummte allmählich, wie auch das der wenigen Besucher auf der Galerie über ihren Köpfen, und in der riesigen Halle trat Ruhe ein.
Der Ratssprecher warf sich in die Brust. »Hiermit erkläre ich die Versammlung«, begann er mit langsamer und sonorer Stimme, als wolle er die Grabrede bei einer Beerdigung halten, »des Offenen Rates der Union …« Hier machte er eine unnötig lange und bedeutungsschwangere Pause. Der Lord Schatzmeister warf ihm einen verärgerten Blick zu, aber der Ratssprecher wollte diesen Augenblick, in dem alle Aufmerksamkeit auf ihm ruhte, offenbar auskosten. Er ließ die Anwesenden noch einen Augenblick länger warten, bis er den Satz beendete: »… für eröffnet!«
»Danke«, sagte Hoff mürrisch. »Wenn ich mich recht erinnere, waren wir im Begriff, etwas vom Lord Statthalter von Dagoska zu hören, bevor wir von der Mittagspause unterbrochen wurden.« Seine Stimme wurde vom Kratzen der Federkiele begleitet, da zwei Schreiber jedes Wort protokollierten. Das leise Echo der Federn verwob sich in dem großen Raum über ihren Köpfen mit dem Nachhall seiner Worte.
Ein ältlicher Mann rappelte sich nahe bei Jezal in der ersten Reihe auf; er hielt einige Papiere in seinen zittrigen Händen.
»Der Offene Rat«, leierte der Ratssprecher so gewichtig, wie er es sich eben traute, »erteilt Rush dan Thuel, dem anerkannten Vertreter von Sand dan Vurms, dem Lord Statthalter von Dagoska, das Wort!«
»Vielen Dank, mein Herr.« Thuels krächzende, dünne Stimme wirkte in dem riesigen Raum lächerlich leise. Sie trug kaum soweit, dass Jezal ihn verstehen konnte, und er stand höchstens zehn Schritte entfernt. »Meine Herren …«, begann Thuel.
»Lauter!«, rief jemand von hinten. Ein wenig Gelächter brandete auf. Der alte Mann räusperte sich und versuchte es noch einmal.
»Meine Herren, ich komme mit einer dringenden Botschaft des Lord Statthalters von Dagoska.« Schon war seine Stimme wieder auf ihre ursprüngliche, kaum hörbare Lautstärke zurückgegangen, jedes Wort begleitet von dem unaufhörlichen Kratzen der Federn. Von der Besuchergalerie drang Geflüster herunter, welches das Verständnis zusätzlich erschwerte. »Angriffe auf Handelsschiffe, Bedrohung von Kaufleuten und Demonstrationen innerhalb unserer Mauern haben den Lord Statthalter bewogen, mich hierher zu entsenden …«
»Da freuen wir uns aber!«, rief jemand. Eine neue Welle des Gelächters brandete heran, dieses Mal ein wenig lauter. »Die Stadt ist auf einer sehr schmalen Halbinsel erbaut«, sprach der alte Mann hartnäckig weiter und versuchte, sich gegen das anschwellende Hintergrundgeräusch Gehör zu verschaffen, »und gehört zu einem Land, das zur Gänze von unseren bittersten Feinden, den Gurkhisen, beherrscht wird, von Midderland durch viele Meilen Meer getrennt! Unsere Verteidigungsanlagen sind nicht so, wie sie sein sollten! Der Lord Statthalter braucht dringend neue Geldmittel …«
Die Erwähnung von Geld führte in der Versammlung sofort zu Aufruhr. Thuels Mund bewegte sich noch, aber jetzt war es völlig unmöglich geworden, ihn zu verstehen. Der Lord Schatzmeister runzelte die Stirn und nahm einen Schluck aus seinem Kelch. Der Schreiber, der am weitesten von Jezal entfernt war, hatte seine Feder niedergelegt und rieb sich die Augen mit dem tintenbefleckten Daumen und dem Zeigefinger. Der Schreiber direkt in seiner Nähe hatte gerade eine weitere Zeile zu Papier gebracht. Jezal reckte den Hals, um sie lesen zu können. Sie lautete schlicht:
Mehrere Zwischenrufe.
Der Ratssprecher schlug mit dem Stab äußerst selbstzufrieden dreinblickend auf die Fliesen. Nach und nach kehrte wieder Ruhe ein, aber nun hatte Thuel ein Hustenanfall erfasst. Er versuchte zu sprechen, doch es gelang ihm nicht, und schließlich winkte er ab und setzte sich, hochrot im Gesicht, während sein Banknachbar ihm auf den Rücken klopfte.
»Wenn ich kurz etwas sagen dürfte, Lord Schatzmeister?«, rief ein modisch gekleideter junger Mann aus der ersten Reihe auf der anderen Seite der Halle und sprang auf. Sofort begann das Kratzen der Federn erneut. »Mir scheint …«
»Der Offene Rat«, unterbrach ihn der Ratssprecher, »erteilt Hersei dan Meed, dritter Sohn und anerkannter Vertreter von Fedor dan Meed, dem Lord Statthalter von Angland, das Wort!«
»Mir scheint«, fuhr der gut aussehende junge Mann fort, ohne sich allzu offensichtlich über diese Unterbrechung zu ärgern, »dass unsere Freunde im Süden stets einen gewaltigen Angriff seitens des Imperators erwarten!« Nun waren von der anderen Seite des Raumes Widersprüche zu hören. »Ein Angriff, zu dem es nie zu kommen scheint! Haben wir die Gurkhisen nicht erst vor einigen wenigen Jahren geschlagen, oder täuscht mich mein Gedächtnis?« Die Buhrufe wurden lauter. »Diese ständige Schwarzmalerei führt zu einem unakzeptablen Aderlass der Mittel, über die die Union verfügt!« Er schrie jetzt, um gehört zu werden. »In Angland haben wir eine meilenlange Grenze und viel zu wenige Soldaten, und die Bedrohung durch Bethod und seine Nordmänner ist äußerst greifbar! Wenn hier jemand weitere Mittel brauchte …«
Die Ausrufe nahmen sofort weiter zu. In dem Durcheinander konnten einzelne Stimmen ausgemacht werden, die »Hört, hört!«, »Unsinn!«, »Das stimmt!« oder »Lüge!« riefen. Mehrere Vertreter waren aufgestanden und brüllten. Andere nickten lediglich zustimmend, wieder andere schüttelten ablehnend die Köpfe. Ein paar gähnten auch nur und sahen sich um. Jezal bemerkte einen Mann recht weit oben in der Mitte, der tatsächlich zu schlafen schien und Gefahr lief, seinem Nachbarn auf den Schoß zu sinken.
Er ließ die Augen höher wandern, zu den Gesichtern, die über dem Geländer der Besuchergalerie zu sehen waren. Ein seltsames Ziehen packte seine Brust. Ardee West war dort oben und sah direkt zu ihm hinunter. Als sich ihre Augen trafen, lächelte sie und winkte. Er lächelte ebenfalls und hatte schon halb den Arm erhoben, um zurückzuwinken, als er sich besann, wo er war. Schnell schob er den Arm wieder hinter den Rücken und sah sich verstohlen um, stellte aber erleichtert fest, dass niemand von Bedeutung seinen Ausrutscher bemerkt hatte. Es gelang ihm jedoch nicht, das Lächeln ganz aus seinem Gesicht zu verbannen.
»Meine Herren!«, brüllte der Lord Schatzmeister und knallte den leeren Kelch auf den Tisch. Er hatte die lauteste Stimme, die Jezal je gehört hatte. Selbst Marschall Varuz hätte in dieser Beziehung noch etwas von Hoff lernen können. Der schlafende Mann auf den oberen Sitzen zuckte zusammen, schniefte und zwinkerte. Fast augenblicklich erstarb der Lärm. Die Vertreter, die aufgestanden waren, sahen sich schuldbewusst um, wie unartige Kinder, die man zur Ordnung ruft, und setzten sich nach und nach wieder hin. Das Geflüster auf der Besuchergalerie verebbte. Die Ordnung war wiederhergestellt.
»Meine Herren! Ich kann Ihnen versichern, dass dem König nichts mehr am Herzen liegt als die Sicherheit seiner Untertanen, wo immer sie auch sein mögen! Die Union erlaubt keine Übergriffe auf ihre Bewohner oder deren Güter!« Hoff unterstrich jede Aussage, indem er mit der Faust vor sich auf den Tisch schlug. »Weder vom Imperator von Gurkhul noch von den Wilden aus dem Norden, noch von irgendjemand anderem!« Bei diesem letzten Ausruf schlug er so heftig auf den Tisch, dass Tinte aus einem der Fässer spritzte und über eines der sorgfältig aufgesetzten Dokumente eines Schreibers lief. Hoffs patriotischer Ausbruch wurde mit zustimmenden und beifälligen Rufen begrüßt.
»Was die besondere Lage von Dagoska betrifft …« Thuel blickte hoffnungsvoll auf, während seine Brust noch immer von Husten geschüttelt wurde. »Besitzt diese Stadt nicht einige der mächtigsten und ausgefeiltesten Verteidigungsanlagen der Welt? Hat sie nicht noch vor weniger als zehn Jahren der Belagerung durch die Gurkhisen standgehalten, einer Belagerung, die beinahe zehn Jahre dauerte? Was ist mit diesen Mauern geschehen, mit diesen mächtigen Mauern?« Es wurde ruhig in dem großen Raum, und jeder spitzte die Ohren, um die Antwort vernehmen zu können.
»Verehrter Lord Schatzmeister«, schnaufte Thuel, dessen Stimme beinahe davon übertönt wurde, dass einer der Schreiber unter lautem Knistern eine Seite seines großen Buches umblätterte und dann auf der nächsten weiterschrieb, »die Verteidigungsanlagen sind inzwischen in schlechtem Zustand, und uns fehlen die Soldaten, um sie ausreichend zu bemannen. Das ist dem Imperator nicht verborgen geblieben«, flüsterte er fast unhörbar, »ich bitte Sie …« Erneut übermannte ihn ein Hustenanfall, und er sank auf seinen Platz zurück, während die Gesandtschaft aus Angland verhaltene Spottrufe hören ließ.
Hoff zog ein noch finstereres Gesicht. »Ich hatte es so in Erinnerung, dass die Verteidigung der Stadt durch vor Ort aufgebrachte Gelder sichergestellt werden sollte und durch Abgaben der Ehrenhaften Gilde der Gewürzhändler, die während der letzten sieben Jahre in Dagoska exklusive Handelsrechte genossen hat. Wenn sich auf diese Weise nicht einmal die Gelder für die Instandhaltung der Stadtmauern auftreiben lassen«, hier er ließ einen finsteren Blick über die Versammlung schweifen, »dann wäre es vielleicht an der Zeit, dass dieses Handelsrecht einmal ausgesetzt wird.« Oben auf der Besuchergalerie waren verärgerte Stimmen zu hören.
»So oder so kann die Krone im Augenblick keine zusätzlichen Gelder erübrigen!« Von der Dagoska-Seite des Saals ertönten unzufriedene Zwischenrufe, während die Angland-Seite laut ihre Zustimmung bekundete.
»Was die besondere Lage von Angland betrifft …«, donnerte der Lord Schatzmeister jetzt und wandte sich an Meed. »Ich gehe davon aus, dass wir schon bald sehr gute Nachrichten hören werden, die Sie dann Ihrem Vater, dem Lord Statthalter, überbringen können.« Eine Wolke aufgeregten Flüsterns stieg in die vergoldete Kuppel auf. Der gut aussehende junge Mann wirkte angenehm überrascht, und das war auch kein Wunder. Es war selten, dass jemand aus dem Offenen Rat erfreuliche Nachrichten mitbrachte oder dort überhaupt etwas Neues erfuhr.
Thuel hatte seine Lungen wieder in den Griff bekommen und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er wurde unterbrochen, als einige tiefe Schläge die riesige Tür hinter dem hohen Tisch erzittern ließen. Die Lords sahen auf: überrascht, erwartungsvoll. Der Lord Schatzmeister lächelte wie ein Zauberkünstler, der gerade einen besonders kniffligen Trick vorgeführt hat. Er gab den Wachen ein Zeichen, die schweren Eisenriegel wurden zurückgezogen, und die großen, mit Intarsien geschmückten Türen schwangen langsam knarrend auf.
Acht Ritter der Wacht – von glänzender Rüstung umschlossen, gesichtslos hinter hohen, polierten Helmen und mit purpurnen Mänteln angetan, die auf dem Rücken eine goldene Sonne zeigten – trampelten im Gleichschritt die Stufen hinunter und stellten sich auf beiden Seiten des erhöhten Tisches auf. Ihnen folgten vier Trompeter, die galant vortraten, ihre glänzenden Instrumente an die Lippen setzten und eine ohrenbetäubende Fanfare schmetterten. Jezal biss die klappernden Zähne aufeinander und kniff die Augen zusammen, aber schließlich ließ das dröhnende Echo nach. Der Lord Schatzmeister wandte sich verärgert an den Versammlungssprecher, der die Neuankömmlinge mit offenem Mund anstarrte.
»Nun?«, zischte Hoff.
Der Sprecher zuckte zusammen und wurde ruckartig munter. »Ah … ja, natürlich! Meine Damen und Herren, ich habe die große Ehre …«, er hielt inne und holte mächtig Atem, »Ihnen Seine Hoheit, den König von Angland, Starikland und Midderland, den Protektor von Westport und Dagoska, anzukündigen, Seine Erhabene Majestät, Guslav den Fünften, Hochkönig der Union!« Es entstand lautes Geraschel, als jeder Mann und jede Frau in der großen Halle von den Sitzen aufstanden und auf die Knie sanken.
Allmählich erschien die königliche Sänfte in der Tür, getragen von sechs weiteren gesichtslosen Rittern. Der König thronte darauf in einem vergoldeten Stuhl und schwankte leicht von einer Seite zur anderen, obwohl er von kostbaren Kissen gestützt wurde. Dabei sah er sich mit dem verwirrten Gesichtsausdruck eines Mannes um, der betrunken eingeschlafen war und nun in einem Zimmer erwachte, das er noch nie zuvor erblickt hatte.
Er sah schrecklich aus. So enorm dick war er, dass er wie ein großer Berg wirkte, den man in Pelz und rote Seide gekleidet hatte; sein Kopf erweckte den Eindruck, als hätte ihn das Gewicht der großen, funkelnden Krone in die Schultern hineingedrückt. Seine Augen, unter denen dicke Tränensäcke lagen, traten glasig hervor, und seine rosa Zungenspitze huschte unruhig über blasse Lippen. Er hatte stark ausgeprägte Hängebacken und eine dicke Speckrolle um den Hals, und überhaupt wirkte sein Gesicht, als sei es ein wenig geschmolzen und habe angefangen, den Schädel herunterzurinnen. Dies war der Hochkönig der Union, aber Jezal neigte trotzdem, als sich die Sänfte näherte, den Kopf etwas tiefer.
»Oh«, murmelte Seine Erhabene Majestät, als habe er etwas vergessen, »bitte erheben Sie sich.« Wieder war die Halle von Geraschel erfüllt, als alle Anwesenden sich aufrichteten und auf ihre Sitze zurückkehrten. Der König wandte sich mit gerunzelter Stirn an Hoff, und Jezal hörte, wie er fragte: »Wieso bin ich hier?«
»Die Nordmänner, Eure Majestät.«
»Ach ja!« Die Augen des Königs leuchteten auf. Er zögerte einen Augenblick. »Was ist mit ihnen?«
»Äh …«, begann der Lord Schatzmeister, wurde aber der Antwort enthoben, da sich in diesem Augenblick die Tore an der anderen Seite der Halle öffneten, dort, wo auch Jezal eingetreten war. Zwei seltsame Männer schritten hindurch und gingen den Mittelgang hinunter.
Der eine war ein grauhaariger alter Krieger mit einer Narbe und einem blinden Auge, der eine flache Holzkiste trug. Der andere war mit Mantel und Kapuze bekleidet, die jegliche Körpermerkmale verbargen, und so groß, dass er die Proportionen der ganzen Halle durcheinander zu bringen schien. Die Bänke, die Tische, selbst die Wachen sahen plötzlich aus, als handele es sich um Miniaturen, die man für Kinder entworfen hatte. Als er vorüberging, zuckten einige der Abgesandten, die am nächsten am Mittelgang saßen, gequält zusammen und rückten zur anderen Seite. Jezal verzog ebenfalls das Gesicht. Der verhüllte Riese schien kein Bote zu sein, der gute Neuigkeiten brachte, ganz gleich, was Lord Hoff gesagt hatte. Der hallende Kuppelsaal war von zornigem und misstrauischem Gemurmel erfüllt, als die zwei Nordmänner auf dem gefliesten Boden vor dem erhöhten Tisch stehen blieben.
»Eure Majestät«, sagte der Ratssprecher und verbeugte sich so übertrieben tief, dass er sich mit seinem Stab abstützen musste, »der Offene Rat erteilt Fenris dem Gefürchteten, dem Gesandten von Bethod, König der Nordmänner, und seinem Übersetzer Hansul Weißauge das Wort!«
Der König starrte glücklich auf eines der großen Fenster in der gewölbten Mauer und bewunderte möglicherweise, wie schön das Licht durch das hübsche farbige Glas schien, aber dann fuhr sein Kopf mit schaukelnden Hängebacken herum, als sich der alte, halbblinde Krieger an ihn wandte.
»Eure Majestät. Ich überbringe brüderliche Grüße von meinem Herrn Bethod, König der Nordmänner.« Im Fürstenrund war es sehr still geworden; das Kratzen der Schreiberfedern klang geradezu absurd laut. Der alte Krieger nickte mit einem betretenen Lächeln zu der großen, verhüllten Gestalt hinüber. »Fenris der Gefürchtete überbringt ein Angebot Bethods. Von König zu König. Vom Norden an die Union. Ein Angebot, und ein Geschenk.« Dabei hob er die hölzerne Kiste.
Der Lord Schatzmeister lächelte selbstzufrieden. »Nennen Sie zuerst das Angebot.«
»Es ist ein Friedensangebot. Ein ewiger Frieden zwischen unseren beiden großen Nationen.« Weißauge verbeugte sich wieder. Seine Umgangsformen waren vorbildlich, das musste Jezal zugeben. Gar nicht so, wie man sie von einem Barbaren aus dem kalten, fernen Norden erwartet hätte. Seine wohlmeinenden Worte hätten die Versammelten beinahe beruhigt, wäre der kapuzenverhüllte Mann nicht gewesen, der wie ein dunkler Schatten neben ihm lauerte.
Dennoch zuckte ein schwaches Lächeln über das Gesicht des Königs, als das Wort Frieden fiel. »Gut«, murmelte er. »Hervorragend. Frieden. Großartig. Frieden ist gut.«
»Er bittet im Gegenzug nur um eine Kleinigkeit«, sagte Weißauge.
Das Gesicht des Lord Schatzmeisters hatte sich plötzlich verdunkelt, aber es war schon zu spät. »Er muss diesen Wunsch nur nennen«, sagte der König und lächelte großzügig.
Der Kapuzenträger trat vor. »Angland«, zischte er.
Einen Augenblick herrschte Ruhe, dann brach Lärm in der Halle los. Von der Besuchergalerie drang ein Schwall ungläubigen Gelächters. Meed war wieder aufgesprungen und brüllte, schon ganz rot im Gesicht. Thuel erhob sich schwankend von seiner Bank und sank dann hustend wieder zurück. Zorniges Geschrei mischte sich mit verächtlichen Ausrufen. Der König starrte mit der Würde eines aufgeschreckten Kaninchens in die Runde.
Jezals Augen waren starr auf den vermummten Mann gerichtet. Dabei sah er, wie eine große Hand unter dem Ärmel hervorkam und nach der Schnalle fasste, die seinen Mantel zusammenhielt. Jezal zwinkerte überrascht. War die Hand blau? Oder war das nur eine Täuschung, hervorgerufen durch das Licht der bunten Glasfenster? Der Mantel glitt zu Boden.
Jezal schluckte, während ihm das Herz bis in den Hals hinauf schlug. Es war, als ob man eine schreckliche Wunde anstarrte: Je mehr von ihr zu sehen war, desto weniger war man imstande, den Blick abzuwenden. Das Gelächter erstarb, die Rufe verebbten, und der große Raum wurde erneut sehr still.
Fenris der Gefürchtete, der seinen selbst von Furcht gepackten Übersetzer weit überragte, erschien ohne den Mantel sogar noch größer. Ohne Zweifel war er der größte Mann, den Jezal je gesehen hatte, wenn er denn überhaupt ein Mensch war. Sein verächtlich dreinblickendes Gesicht war in ständiger verzerrter Bewegung. Die hervorquellenden Augen zuckten und zwinkerten, als sie mit irrem Blick auf die Versammlung starrten. Seine dünnen Lippen lächelten, verzogen sich gleich wieder verärgert und schienen nie still zu halten. Aber angesichts seines ungewöhnlichsten Merkmals erschien das geradezu normal.
Seine ganze linke Seite war vom Kopf bis zu den Füßen mit Schriftzeichen bedeckt.
Unordentlich hingekritzelte Runen zogen sich über die linke Hälfte seines rasierten Kopfes, über sein Augenlid, die Lippen, die Kopfhaut, das Ohr. Sein riesiger linker Arm war mit dünner Spinnenschrift blau tätowiert, von der muskulösen Schulter bis hin zu den langen Fingern. Selbst sein nackter linker Fuß zeigte seltsame Buchstaben. Ein riesiges unmenschliches, bemaltes Monstrum stand mitten im Herzen der Regierung der Union. Jezal klappte die Kinnlade herunter.
Um den erhöhten Tisch herum standen vierzehn Ritter der Wacht, jeder von ihnen ein gut ausgebildeter und geübter Kämpfer aus bester Familie. Entlang der ausgebuchteten Wände hielten sich um die vierzig Wachleute aus Jezals eigener Kompanie bereit, die allesamt ebenfalls erfahrene Krieger waren. Sie waren gegenüber den beiden Nordmännern mehr als zwanzig zu eins in der Überzahl und noch dazu mit den besten Klingen bewaffnet, die je aus den Waffenschmieden des Königs gekommen waren. Fenris der Gefürchtete trug keine Waffe. Trotz seiner Größe und seiner Fremdheit hätte er keine Gefahr für sie darstellen sollen.
Und dennoch fühlte Jezal sich nicht sicher. Er wähnte sich allein, hilflos und schrecklich verängstigt. Seine Haut kribbelte, und sein Mund war trocken. Er spürte den plötzlichen Drang wegzulaufen, sich zu verstecken und nie wieder aus seinem Loch zu kommen.
Und diese seltsame Empfindung beschränkte sich nicht auf ihn oder auf diejenigen, die um den erhöhten Tisch herumsaßen. Das zornige Gelächter wich schockiertem Gurgeln, als sich das bemalte Monstrum in der Mitte der kreisrunden Fläche langsam herumdrehte und die Augen über die Menge gleiten ließ. Meed, den all seine Wut verlassen zu haben schien, sank auf seinen Sitz zurück. Einige der Ehrenwerten aus der ersten Reihe kletterten tatsächlich über die Rückenlehne ihrer Bänke in die Reihe dahinter. Andere sahen weg oder bedeckten ihr Gesicht mit den Händen. Einer der Soldaten ließ den Speer fallen, der mit lautem Klappern auf den Boden schlug.
Fenris der Gefürchtete wandte sich nun langsam dem erhöhten Tisch zu, hob seine tätowierte Faust und öffnete den Abgrund seines Mundes, während ein hässlicher Krampf sein Gesicht verzerrte. »Angland!«, schrie er mit lauterer und schrecklicherer Stimme, als sie der Lord Schatzmeister je hatte ertönen lassen. Das Echo seiner Worte prallte von der Kuppeldecke hoch über den Häuptern ab, hallte von den ausgebuchteten Wänden wider und füllte den großen Raum mit einem durchdringenden Klang.
Einer der Ritter der Wacht stolperte zurück und rutschte aus, wobei sein eisenbewehrtes Bein gegen die Kante des Tisches schepperte.
Der König schrak zurück und bedeckte das Gesicht mit der Hand, wobei ein erschrecktes Auge zwischen den Fingern hindurchspähte und die Krone auf seinem Kopf wankte.
Einem der Schreiber fiel die Feder aus den starren Fingern. Die Hand des anderen fuhr gewohnheitsmäßig weiter über das Papier, während er mit offenem Mund ein unordentliches Wort diagonal über die sauberen Zeilen darüber krakelte.
Angland.
Das Gesicht des Lord Schatzmeisters war wächsern weiß geworden. Ergriff langsam nach seinem Kelch und führte ihn zum Mund. Er war leer. Sorgfältig stellte er ihn auf den Tisch zurück, aber seine Hand zitterte, und das Gefäß klapperte auf das Holz. Einen Augenblick hielt Lord Hoff inne, während er heftig durch die Nase einatmete. »Dieses Angebot ist natürlich nicht akzeptabel.«
»Das ist bedauerlich«, sagte Hansul Weißauge. »Aber da ist ja immer noch das Geschenk.« Alle Augen wandten sich nun dem Übersetzer zu. »Im Norden haben wir eine Tradition. Manchmal, wenn es zwischen zwei Clans böses Blut gibt, wenn ein Krieg droht, stellt jede Seite einen Kämpen, der dann für sein Volk eintritt, damit die Angelegenheit … durch einen einzigen Tod entschieden werden kann.«
Langsam öffnete er den Deckel der hölzernen Kiste. Darin lag ein langes Messer, dessen Klinge spiegelglänzend poliert worden war. »Seine Erhabenheit, Bethod, entsendet den Gefürchteten nicht nur als seinen Botschafter, sondern auch als seinen Kämpfer. Er wird um Angland streiten, wenn sich ihm jemand entgegenstellen will, und Ihnen einen Krieg ersparen, den Sie nicht gewinnen würden.« Er hielt die Kiste dem bemalten Monstrum hin. »Dies ist das Geschenk meines Herrn an Sie, und es könnte kein großzügigeres geben … Ihr Leben.«
Fenris’ rechte Hand schoss vor und riss das Messer aus der Schachtel. Er hob es in die Höhe, sodass sich das farbige Licht von den großen Fenstern auf der Klinge spiegelte. Die Ritter hätten nun nach vorn stürmen sollen. Jezal hätte seinen Degen ziehen sollen. Alle hätten zur Verteidigung des Königs eilen sollen, aber niemand bewegte sich. Allen standen die Münder offen, alle Augen hingen an dem schimmernden Zahn aus Stahl.
Die Klinge schoss nach unten. Sie durchbohrte mühelos Haut und Fleisch, in dem das Messer bis zum Knauf verschwand. Dann wurde seine Spitze tropfend vor Blut an der Unterseite von Fenris’ tätowiertem Arm sichtbar. Sein Gesicht war verzerrt, aber nicht mehr als zuvor. Die Klinge bewegte sich grotesk hin und her, als er die Finger ausstreckte und den linken Arm hob, damit ihn alle sehen konnten. Die Blutstropfen rannen stetig auf den Fliesenboden des Fürstenrunds.
»Wer will gegen mich kämpfen?«, schrie er, und die Sehnen traten breit an seinem Hals hervor. Seine Stimme schmerzte beinahe in den Ohren.
Völliges Schweigen. Der Sprecher, der dem Gefürchteten am nächsten stand und schon in die Knie gebrochen war, wurde ohnmächtig und fiel vornüber.
Fenris richtete die vorquellenden Augen auf den größten Ritter vor dem Tisch, den er um Haupteslänge überragte. »Sie?«, zischte er. Der Fuß des Unglücklichen kratzte über den Boden, als er zurückwich und sich zweifelsohne wünschte, als kleinerer Mann zur Welt gekommen zu sein.
Auf dem Boden unter Fenris’ Ellenbogen hatte sich eine Pfütze dunklen Blutes gebildet. »Sie?«, fauchte er an Fedor dan Meed gewandt. Der junge Mann wurde leicht grau im Gesicht, und seine Zähne klapperten, während er sich zweifelsohne wünschte, der Sohn eines anderen Vaters zu sein.
Die zwinkernden Augen wanderten an den aschefarbenen Gesichtern am erhöhten Tisch entlang. Jezal spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte, als sein Blick den von Fenris traf. »Sie?«
»Nun, ich würde gern, aber leider habe ich heute Nachmittag schrecklich viel vor. Morgen vielleicht?« Die Stimme klang kaum wie die seine. Ganz bestimmt hatte er nicht beabsichtigt, so etwas zu sagen. Aber wem konnte sie sonst gehören? Die Worte trieben selbstbewusst und gut gelaunt zu der vergoldeten Kuppel hinauf.
Es gab vereinzeltes Gelächter, und irgendjemand weiter hinten rief »Bravo!«, aber Fenris’ Augen ließen keinen Augenblick von Jezal ab. Er wartete, bis die Geräusche verstummt waren, dann verzog sich sein Mund zu einer hässlichen, höhnischen Grimasse.
»Dann eben morgen«, flüsterte er. Jezals Eingeweide durchfuhr ein plötzlicher, schmerzhafter Ruck. Die Ernsthaftigkeit der ganzen Lage lastete zentnerschwer auf ihm. Er? Gegen so etwas kämpfen?
»Nein.« Das war der Lord Schatzmeister. Er war noch immer bleich, aber seine Stimme hatte einen Großteil ihrer alten Kraft wiedererlangt. Jezal versuchte seinen Mut zurückzugewinnen und kämpfte mannhaft darum, seine Eingeweide in der Gewalt zu behalten. »Nein!«, bellte Hoff erneut. »Hier wird es kein Duell geben! Es gibt auch keine Angelegenheit, die entschieden werden muss! Angland ist durch ein altehrwürdiges Gesetz Teil der Union!«
Hansul Weißauge lachte leise. »Altehrwürdiges Gesetz? Angland ist Teil des Nordens. Vor zweihundert Jahren gab es dort Nordmänner, die frei ihr Leben führten. Ihr wolltet Eisen, also fuhrt ihr übers Meer, habt sie abgeschlachtet und ihnen ihr Land gestohlen! Es handelt sich wohl um das älteste aller altehrwürdigen Gesetze: Die Starken nehmen sich von den Schwachen, was sie wollen?« Seine Augen verengten sich. »Dieses Gesetz kennen wir auch!«
Fenris der Gefürchtete riss sich das Messer aus dem Arm. Ein paar letzte Blutstropfen fielen zu Boden, aber das war alles. Es war keine Wunde in dem tätowierten Fleisch zu sehen. Keine Spur. Das Messer fiel klappernd auf die Fliesen und blieb in der Blutpfütze zu seinen Füßen liegen. Ein letztes Mal streifte Fenris die Versammlung mit seinen hervorquellenden, zwinkernden, verrückten Augen, dann wandte er sich um und marschierte zurück zum Mittelgang und weiter zur Tür, während die Lords und ihre Stellvertreter eilig die Bänke entlangflüchteten, als er sich näherte.
Hansul Weißauge verbeugte sich tief. »Die Zeit mag kommen, in der Sie sich wünschen werden, unser Angebot oder unser Geschenk angenommen zu haben. Sie werden von uns hören«, sagte er ruhig und reckte dann drei Finger zum Lord Schatzmeister empor. »Wenn es an der Zeit ist, werden wir drei Zeichen schicken.«
»Schicken Sie von mir aus dreihundert, wenn Sie wollen«, polterte Hoff, »aber dieses Possenspiel ist jetzt vorbei!«
Hansul Weißauge nickte freundlich. »Sie werden von uns hören.« Damit drehte er sich um und folgte Fenris dem Gefürchteten aus dem Fürstenrund hinaus. Die großen Türen fielen zu. Die Feder des nächsten Schreibers kratzte schwach auf dem Papier.
Sie werden von uns hören.
Fedor dan Meed wandte sich mit vorgestrecktem Kinn und vor Zorn verzerrten Zügen an den Lord Schatzmeister: »Und das ist die gute Nachricht, die ich meinem Vater überbringen sollte?«, brüllte er. Der Offene Rat explodierte geradezu. Brüllen, Schreien, Beleidigungen gegen alles und jeden durchdrangen den Raum. Es herrschte völliges Chaos.
Hoff sprang so heftig auf, dass der Stuhl hinter ihm umstürzte, und sein Mund formulierte eine wütende Rede, aber diesmal wurde selbst er vom Lärm übertönt. Meed drehte ihm den Rücken zu und stürmte hinaus. Weitere Gesandte von der Angland-Seite des großen Raumes erhoben sich mit grimmigen Gesichtern und folgten dem Sohn ihres Lord Statthalters. Hoff starrte ihnen hinterher, weißglühend vor Zorn, während sich sein Mund geräuschlos bewegte.
Jezal sah, wie der König langsam die Hand von seinem Gesicht nahm und sich zu seinem Lord Schatzmeister hinunterbeugte. »Wann kommen die Nordmänner hierher?«, flüsterte er.