DREI ZEICHEN

West landete schwungvoll auf dem Hintern, die Fechteisen schnellten ihm aus den Händen und schlitterten über das Pflaster.

»Das war ein Treffer!«, schrie Marschall Varuz. »Ein ganz klarer Treffer! Gut gekämpft, Jezal, gut gekämpft!«

West hatte allmählich keine Lust mehr zu verlieren. Er war stärker als Jezal, überragte seinen Freund ein wenig und hatte eine größere Reichweite, aber der aufmüpfige kleine Drecksack war schnell. Verdammt schnell, und er wurde immer schneller. Inzwischen kannte er alle Tricks, die West beherrschte, jedenfalls mehr oder weniger, und wenn er weiterhin derart schnell besser wurde, würde er ihn bald jedes Mal schlagen. Das wusste Jezal auch. Er hatte ein selbstgefälliges Lächeln auf dem Gesicht, das einen wütend machen konnte, als er West die Hand hinstreckte und ihm aufhalf.

»So langsam geht es in die richtige Richtung!« Vor Begeisterung schlug sich Varuz mit dem Stock aufs Bein. »Vielleicht steht jetzt allmählich wirklich ein Sieger vor uns, was, Herr Major?«

»Höchstwahrscheinlich, Herr Marschall«, sagte West und rieb sich den Ellenbogen, den er sich bei dem Sturz geprellt hatte und der nun dumpf pochte. Dabei warf er einen Seitenblick auf Jezal, der sich im warmen Lob des Marschalls sonnte.

»Aber wir dürfen nicht selbstzufrieden werden!«

»Nein, Herr Marschall!«, erwiderte Jezal mit Nachdruck.

»Nein, das dürfen wir nicht«, wiederholte Varuz. »Major West ist natürlich ein sehr guter Fechter, und Sie können sich geehrt fühlen, ihn als Partner zu haben, aber«, und hier grinste er West an, »Fechten ist ein Sport für junge Männer, nicht wahr?«

»Natürlich, Herr Marschall«, brummte West. »Ein Sport für junge Männer.«

»Bremer dan Gorst wird da ein ganz anderer Gegner sein, vermute ich, wie auch die anderen beim Turnier dieses Jahr. Da wird dann weniger die Erfahrung eines Veteranen als vielmehr die Spannkraft der Jugend eine Rolle spielen, was, West?« West fühlte sich mit seinen dreißig Jahren immer noch voller Spannkraft, aber es hatte keinen Zweck, darüber zu streiten. Er wusste, dass er nie der begabteste Fechter der Welt gewesen war. »Wir haben im letzten Monat großartige Fortschritte erzielt, wirklich großartige Fortschritte. Sie haben in der Tat Aussichten auf einen Sieg, wenn Sie weiter so bei der Sache bleiben. Große Aussichten! Gut gemacht! Ich sehe Sie beide dann morgen wieder.« Damit stolzierte der alte Marschall vom sonnigen Innenhof.

West ging zu der Wand hinüber, vor der das Eisen lag, das er verloren hatte. Ihm tat immer noch alles weh von dem Sturz, und er beugte sich recht verkrampft nach vorn, um seinen Degen aufzuheben. »Ich muss dann auch gehen«, knurrte er, als er sich wieder aufrichtete, wobei er so gut wie möglich zu verbergen suchte, wie zerschlagen er sich fühlte.

»Wichtige Geschäfte?«

»Marschall Burr hat mich zu sich bestellt.«

»Dann gibt es also Krieg?«

»Vielleicht. Ich weiß es nicht.« West sah an Jezal herunter. Aus irgendeinem Grund mied der junge Mann seinen Blick. »Und Sie? Was haben Sie heute noch vor?«

Jezal fummelte mit seinen Degen herum. »Ach … ich habe weiter nichts geplant … jedenfalls nicht so richtig.« Er sah verlegen auf, aber nur kurz. Für einen so guten Kartenspieler war er beim Lügen entsetzlich schlecht.

In West keimte ein nagendes Gefühl der Besorgnis auf. »In den Plänen, die Sie nicht haben, spielt aber Ardee keine Rolle, oder?«

»Ähm …«

Das nagende Gefühl verwandelte sich in ein kaltes Pulsieren. »Nun?«

»Vielleicht«, gab Jezal kurz zurück, »nun gut … ja.«

West trat direkt an den Hauptmann heran. »Jezal«, hörte er sich langsam und durch die zusammengebissenen Zähne hindurch sagen, »ich hoffe, Sie haben nicht die Absicht, meine Schwester zu vögeln.«

»Jetzt passen Sie mal auf …«

Aus dem Pulsieren wurde überschäumende Wut. Wests Hände packten Jezal an den Schultern. »Nein, jetzt passen Sie mal auf!«, fauchte er. »Ich werde nicht zulassen, dass jemand mit ihr spielt, haben Sie das begriffen? Man hat ihr schon einmal wehgetan, und ich werde nicht zulassen, dass das wieder geschieht! Weder durch Sie noch durch sonst irgendjemanden! Das werde ich verhindern! Sie ist keine von denen, mit denen Sie Ihren Spaß haben können, haben Sie mich verstanden?«

»Schon gut«, gab Jezal zurück, der plötzlich bleich geworden war. »Schon gut! Ich habe keine Absichten, was sie betrifft! Wir sind nur Freunde, das ist alles. Ich mag sie! Sie kennt hier niemanden und … Sie können mir vertrauen … Da ist nichts Böses dabei! Au! Lassen Sie mich los!«

West merkte, dass er mit all seiner Kraft Jezals Arme zusammengepresst hatte. Wie war das passiert? Er hatte nur ruhig über diese Sache reden wollen, und jetzt war er viel zu weit gegangen. Schon einmal weh getan … verdammt! Das hätte er niemals sagen dürfen! Ganz plötzlich ließ er los, ging einen Schritt zurück und schluckte seinen Zorn hinunter. »Ich will nicht, dass Sie sich weiter mit ihr treffen, verstanden?«

»Jetzt hören Sie aber mal auf, West. Wer sind Sie denn, dass Sie …«

Wests Zorn flammte wieder auf. »Jezal«, knurrte er, »ich bin Ihr Freund, deswegen bitte ich Sie darum.« Er trat wieder einen Schritt nach vorn und kam noch näher als zuvor an Jezal heran. »Und ich bin ihr Bruder, daher warne ich Sie. Halten Sie sich von ihr fern! Daraus kann nichts Gutes erwachsen!«

Jezal sank gegen die Wand hinter sich. »Schon gut, schon gut! Sie ist Ihre Schwester!«

West wandte sich ab, um durch den Torweg hinauszugehen. Er rieb sich den Nacken, und sein Kopf dröhnte.

 

Lord Marschall Burr saß da und sah aus dem Fenster, als West in sein Zimmer trat. Er war ein massiger, grimmig dreinblickender Mann mit dichtem braunem Bart und schlichter Uniform. West fragte sich, wie schlecht die Nachrichten sein mochten, die auf ihn warteten. Nach der Miene des Marschalls zu urteilen, waren sie äußerst schlecht.

»Major West«, sagte er und sah mit zusammengezogenen Brauen auf. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

»Natürlich, Herr Marschall.« West bemerkte drei grob gezimmerte Kisten, die auf einem Tisch an der Wand standen. Burr folgte seinem Blick.

»Geschenke«, sagte er bitter, »von unserem Freund aus dem Norden, Bethod.«

»Geschenke?«

»Für den König, wie es scheint.« Der Marschall verzog das Gesicht und saugte an seinen Zähnen. »Warum werfen Sie nicht einmal einen Blick auf das, was er uns geschickt hat, Herr Major?«

West ging zum Tisch herüber, nahm eine der Kisten und öffnete vorsichtig ihren Deckel. Ein unangenehmer Geruch stieg auf, wie stark verdorbenes Fleisch, aber außer etwas braunem Schmutz befand sich nichts darin. Er öffnete die nächste Kiste. Der Geruch war noch schlimmer. Noch mehr brauner Dreck, der an den Innenseiten klebte, und Haare, ein paar gelbliche Strähnen. West schluckte und sah in das finstere Gesicht des Marschalls. »Ist das alles, Herr Marschall?«

Burr schnaubte. »Schön wär’s. Nein, den Rest mussten wir begraben.«

»Begraben?«

Der Marschall nahm ein Schriftstück von seinem Schreibtisch. »Hauptmann Silber, Hauptmann Hoss, Oberst Arinhorm. Sagen Ihnen diese Namen etwas?«

West überfiel Übelkeit. Der Geruch. Er hatte ihn irgendwie an Gurkhul erinnert, an das Schlachtfeld. »Oberst Arinhorm kenne ich«, murmelte er und sah die drei Kisten an, »jedenfalls dem Namen nach. Er befehligt die Garnison in Dunbrec.«

»Befehligte«, berichtigte ihn Burr. »Die anderen beiden leiteten kleine Außenposten in der Nähe, an der Grenze.«

»An der Grenze?«, wiederholte West, aber er hatte schon erraten, was nun folgte.

»Ihre Köpfe, Herr Major. Die Nordmänner haben uns ihre Köpfe geschickt.« West schluckte und blickte auf das gelbe Haar, das innen in der Kiste klebte. »Drei Zeichen, haben sie gesagt, wenn die Zeit gekommen sei.« Burr erhob sich von seinem Stuhl und sah aus dem Fenster. »Die Außenposten waren nicht der Rede wert, ein paar Holzbaracken, ein Palisadenzaun, Gräben und so weiter, mit nur geringer Besatzung. Von geringer strategischer Bedeutung. Aber Dunbrec – das ist etwas anderes.«

»Die Garnison bewacht die Furten der Weißflut«, sagte West matt, »den besten Weg, der aus Angland hinausführt.«

»Oder hinein. Ein entscheidender Punkt. Beträchtliche Zeit und beträchtliche Mittel wurden auf die Verteidigungsanlagen dort verwendet. Man hat die neuesten Erkenntnisse und die besten Architekten eingesetzt. Eine Garnison von dreihundert Mann, mit genügend Waffen und Nahrungsmitteln, um einer einjährigen Belagerung standzuhalten. Sie wurde als unüberwindbar betrachtet, der Dreh- und Angelpunkt unserer Strategie für die Verteidigung der Grenze.« Burr verzog das Gesicht, und tiefe Furchen bildeten sich über seiner Nasenwurzel. »Vernichtet.«

Wests Kopf hatte wieder zu dröhnen angefangen. »Wann, Herr Marschall?«

»Das ist eine gute Frage. Es muss mindestens zwei Wochen her sein, damit diese ›Geschenke‹ uns jetzt erreichen konnten. Man nennt mich ja gern einen Schwarzseher«, sagte Burr säuerlich, »aber ich vermute, die Nordmänner haben inzwischen schon halb Angland überrannt. Eine Bergarbeitersiedlung oder zwei, ein paar Strafkolonien, bisher vermutlich nichts von wirklicher Bedeutung, keine größeren Städte, aber sie sind auf dem Weg, West, und das schnell, darauf können Sie sich verlassen. Man schickt seinem Feind doch nicht ein paar Köpfe, um dann höflich auf eine Antwort zu warten.«

»Was wird unternommen?«

»Verdammt wenig! Angland ist natürlich in Aufruhr. Lord Statthalter Meed ruft jeden Mann zu den Waffen und ist entschlossen, loszumarschieren und Bethod allein zu schlagen, dieser Idiot. Es gibt die widersprüchlichsten Berichte, laut denen die Nordmänner überall und nirgends sind, mit tausend Mann oder gleich hunderttausend. Die Häfen sind verstopft von Zivilisten, die verzweifelt außer Landes fliehen wollen, es gehen zahllose Gerüchte über Spitzel und Mörder um, die im Land unterwegs sind, und der Pöbel macht Jagd auf Menschen mit Nordmannblut, prügelt sie, raubt sie aus oder tut ihnen noch Schlimmeres an. Schlicht gesagt, es herrscht Chaos. Und wir sitzen währenddessen hier auf unseren fetten Ärschen und warten ab.«

»Aber … wurden wir nicht gewarnt? Haben wir das nicht gewusst?«

»Natürlich!« Burr machte eine verächtliche Geste mit seiner breiten Hand. »Aber das hat ja niemand ernst genommen, ob Sie’s glauben oder nicht! Da sticht sich so ein verdammter bemalter Wilder im Offenen Rat ein Messer in den Arm, fordert uns im Angesicht des Königs heraus, und nichts passiert! Die Regierung setzt ein Komitee dafür ein! Jeder zieht ein bisschen in seine eigene Richtung! Und immer kann man nur reagieren, nie Vorsorge treffen!« Der Marschall hustete und rülpste, spuckte dann auf den Boden. »Uh! Verdammt noch mal! Verflixte Magenschmerzen!« Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und rieb sich mit unglücklichem Gesicht den Bauch.

West wusste nicht so recht, was er sagen sollte. »Wie gehen wir nun vor?«, murmelte er.

»Wir sind mit sofortiger Wirkung nach Norden abkommandiert, und sofort bedeutet natürlich, sobald sich irgendjemand die Mühe macht, mir Männer und Waffen zuzuteilen. Der König, im Klartext also dieser Säufer Hoff, hat mir den Befehl erteilt, die Nordmänner in die Knie zu zwingen. Zwölf Regimenter der Königstreuen – sieben zu Fuß, fünf beritten – sollen durch die Aushebungen der Edelleute ergänzt werden, und natürlich durch die Truppen, die in Angland noch vorhanden sind, wenn wir dort eintreffen.«

West rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. »Das wäre eine überwältigende Kriegsmacht.«

»Hm«, brummte der Marschall. »Hoffentlich. Es ist alles, was wir haben, jedenfalls mehr oder weniger, und das ist es, was mir Sorgen bereitet.« West sah ihn fragend an. »Dagoska, Herr Major. Wir können nicht gleichzeitig gegen die Gurkhisen und gegen die Nordmänner Krieg führen.«

»Aber, Herr Marschall, die Gurkhisen werden doch so schnell keinen Krieg riskieren? Ich dachte, das seien alles Gerüchte?«

»Das hoffe ich, das hoffe ich.« Burr schob geistesabwesend ein paar Dokumente auf seinem Schreibtisch hin und her. »Aber dieser neue Imperator, Uthman, ist anders, als wir erwartet haben. Er war der jüngste Sohn, aber als er vom Tod seines Vaters erfuhr … hat er all seine Brüder erwürgen lassen. Einige hat er selbst erwürgt, heißt es. Uthman-ul-Dosht nennen sie ihn. Uthman den Gnadenlosen. Er hat bereits die Absicht verkündet, Dagoska zurückzuerobern. Vielleicht ist das nur leeres Gerede, wer weiß. Vielleicht auch nicht.« Burr spitzte die Lippen. »Man sagt, er habe überall Spitzel. Vielleicht hat er schon von unseren Schwierigkeiten in Angland erfahren und bereitet sich möglicherweise darauf vor, unsere Schwäche auszunutzen. Wir müssen schnell mit diesen Nordmännern fertig werden. Sehr schnell. Mit den zwölf Regimentern und den Soldaten, die uns die Edelleute zur Seite stellen. Gerade in dieser Hinsicht könnte es gar keinen schlechteren Zeitpunkt für diesen Angriff geben.«

»Ich verstehe nicht?«

»Diese Sache mit den Tuchhändlern. Eine üble Geschichte. Einigen der großen Edelleute hat man damit sehr auf die Füße getreten. Brock, Ischer, Barezin und anderen. Die lassen sich jetzt Zeit mit ihren Einberufungen. Wer weiß, was die uns schicken werden, und wann? Einen Haufen halb verhungerter unbewaffneter Bettler vermutlich, wenn sie die Gelegenheit nutzen wollen, den Abschaum von ihren Ländereien loszuwerden. Eine nutzlose Horde überzähliger Esser, die auch noch eingekleidet und bewaffnet werden muss. Darüber hinaus haben wir viel zu wenige taugliche Offiziere.«

»Ich habe einige gute Männer in meinem Bataillon.«

Burr machte eine ungeduldige Geste. »Gute Männer, sicher! Ehrliche Männer, einsatzfreudige Männer, aber sie haben keine Erfahrung! Den meisten, die an den Kämpfen im Süden beteiligt waren, hat nicht gefallen, was sie dort erleben mussten. Sie haben die Armee verlassen und beabsichtigen nicht, wieder einzutreten. Ist Ihnen aufgefallen, wie jung die Offiziere heutzutage sind? Die kommen doch alle frisch von der Schulbank! Und jetzt hat auch noch Seine prinzliche Hoheit die Absicht bekundet, ein Kommando zu übernehmen. Der weiß nicht mal, an welchem Ende man den Degen festhält, aber er ist ganz wild auf Ruhm und Ehre, und ich kann ihn nicht zurückweisen!«

»Prinz Raynault?«

»Schön wär’s!«, rief Burr. »Raynault könnte man vielleicht sogar sinnvoll einsetzen! Nein, ich spreche von Ladisla! Der will eine Division kommandieren! Ein Mann, der tausend Mark im Monat für Kleidung ausgibt! Sein Mangel an Disziplin ist legendär! Ich habe sagen hören, dass er sich mehreren Bediensteten im Palast aufgedrängt hat, aber dem Erzlektor ist es wohl gelungen, die Mädchen zum Schweigen zu bringen.«

»Das kann doch nicht sein«, sagte West, dem dieses Gerücht allerdings auch schon zu Ohren gekommen war.

»Der Thronerbe inmitten der Gefahr, und das, während der König bei so schlechter Gesundheit ist? Eine unsinnige Vorstellung!« Burr stand wieder auf, rülpste und verzog das Gesicht. »Verdammte Magengeschichte!« Er schritt zum Fenster hinüber und sah mit gerunzelter Stirn auf den Agriont hinaus.

»Sie glauben, dass die Sache leicht beizulegen ist«, fuhr er dann mit leiser Stimme fort. »Der Geschlossene Rat. Ein kleiner Ausfall in Angland, der vorbei sein wird, wenn der erste Schnee fällt. Trotz des Entsetzens über Dunbrec. Die lernen es nie. Dasselbe haben sie über den Krieg mit den Gurkhisen gesagt, und der hätte uns fast erledigt. Diese Nordmänner sind nicht die primitiven Wilden, für die sie sie halten. Ich habe mit Söldnern aus dem Norden in Starikland gekämpft: harte Männer, an ein hartes Leben gewöhnt. Männer, die mit Kriegen groß geworden sind, furchtlos und stur, und die bestens wissen, wie man in den Bergen, in den Wäldern und in der Kälte kämpft. Sie gehorchen unseren Regeln nicht, sie verstehen sie nicht einmal. Sie werden so viel Gewalt und Grausamkeit auf das Schlachtfeld bringen, dass selbst die Gurkhisen erblassen würden.« Burr wandte sich vom Fenster ab und sah wieder zu West. »Sie sind doch in Angland geboren, nicht wahr, Herr Major?«

»Jawohl, im Süden, in der Nähe von Ostenhorm. Der Hof meiner Familie war dort, bevor mein Vater starb …« Er verstummte.

»Sie sind dort aufgewachsen?«

»Ja.«

»Dann kennen Sie das Land?«

West runzelte die Stirn. »Das Gebiet dort schon, aber ich bin dort nicht mehr gewesen seit …«

»Kennen Sie diese Nordmänner?«

»Einige. Es leben noch viele in Angland.«

»Sprechen Sie ihre Sprache?«

»Ja, ein wenig, aber es gibt viele verschiedene …«

»Gut. Ich stelle gerade einen Kommandostab zusammen, gute Männer, bei denen ich mich darauf verlassen kann, dass sie meine Befehle ausführen, und die dafür sorgen, dass diese unsere Armee nicht schon vor der ersten Feindberührung auseinander fällt.«

»Natürlich, Herr Marschall.« West zermarterte sich den Kopf. »Hauptmann Luthar ist ein fähiger und intelligenter Offizier, Leutnant Jalenhorm …«

»Pah!«, rief Burr und hob abwehrend die Hände. »Ich kenne Luthar, der Bursche ist ein Vollidiot! Genau die Sorte ahnungsloser Schuljunge, die ich vorhin meinte! Sie sind derjenige, den ich brauche, West.«

»Ich?«

»Ja, Sie! Marschall Varuz, der wohl berühmteste Soldat der ganzen Union, hat Ihnen ein ausgezeichnetes Zeugnis ausgestellt. Er sagt, Sie seien so engagiert, hartnäckig und zupackend wie kein anderer. Und jemanden mit diesen Eigenschaften brauche ich! Als Leutnant haben Sie in Gurkhul unter Oberst Glokta gedient, nicht wahr?«

West schluckte. »Ja, das stimmt.«

»Und es ist doch bekannt, dass Sie der Erste waren, der die Bresche von Ulrioch gestürmt hat.«

»Nun ja, einer der Ersten, ich war …«

»Sie haben Männer ins Feld geführt, und Ihr persönlicher Mut steht außerhalb jeden Zweifels! Es gibt keinen Grund zur Bescheidenheit, Herr Major, Sie sind mein Mann!« Burr lehnte sich mit einem Lächeln auf den Lippen zurück und schien überzeugt, seine Meinung klar dargelegt zu haben. Dann rülpste er wieder und hob die Hand. »Entschuldigung. Diese verdammte Magengeschichte!«

»Herr Marschall, darf ich offen sprechen?«

»Ich bin kein Höfling, West. Sie müssen immer offen mit mir sein, das verlange ich!«

»Eine Berufung in den Stab eines Lord Marschalls – das müssen Sie verstehen. Ich bin der Sohn eines gemeinen Mannes. Ein Bürgerlicher. Schon jetzt habe ich als Kommandant eines Bataillons meine Schwierigkeiten, mir den Respekt jüngerer Offiziere zu verschaffen. Die Männer, denen ich als Mitglied Ihres Stabs Befehle erteilen müsste, wären allesamt hochrangige Offiziere aus edlem Geschlecht …« Er hielt verärgert inne. Der Marschall sah ihn verständnislos an. »Sie werden es nicht zulassen!«

Burrs Augenbrauen zogen sich zusammen. »Es nicht zulassen?«

»Ihr Stolz wird es ihnen nicht erlauben, Herr Marschall, ihr …«

»Zur Hölle mit ihrem Stolz!« Burr beugte sich nach vorn und sah West mit seinen dunklen Augen ernst ins Gesicht. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Die Zeiten ändern sich. Ich brauche keine Männer von edlem Geschlecht. Ich brauche Männer, die planen, organisieren, Befehle geben und sie ausführen können. In meiner Armee wird kein Platz sein für solche, die sich einer Anweisung nicht fügen können, ganz egal, aus welch edlem Stall sie kommen. Als Mitglied meines Stabs repräsentieren Sie mich, und ich werde nicht zulassen, dass man mich nicht respektiert oder übergeht.« Er rülpste und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Dafür werde ich schon sorgen!«, brüllte er. »Die Zeiten ändern sich! Das mögen sie noch nicht erkannt haben, aber das werden sie schon bald tun!«

West blickte stumm zurück. »Und sowieso«, fuhr Burr fort und machte eine abwehrende Handbewegung, »ich berate mich in dieser Frage nicht mit Ihnen, ich habe Sie lediglich informiert. Dies ist Ihr neuer Posten. Ihr König braucht Sie, Ihr Land braucht Sie, und das ist alles. Sie haben fünf Tage, um das Kommando Ihres Bataillons zu übergeben.« Damit wandte sich der Lord Marschall wieder seinen Papieren zu.

»Jawohl, Herr Marschall«, murmelte West.

Mit tauben Fingern zog er die Tür hinter sich ins Schloss, dann ging er langsam den Gang hinunter und starrte dabei zu Boden. Krieg. Krieg im Norden. Dunbrec gefallen, die Nordmänner in Angland. Offiziere eilten über den Korridor. Einige drängten sich an ihm vorbei, aber er nahm sie kaum war. Es waren Menschen in Gefahr, in tödlicher Gefahr! Menschen, die er möglicherweise kannte, Nachbarn von zu Hause. Es wurde gekämpft, jetzt in diesem Augenblick, innerhalb der Grenzen der Union! Er rieb sich das Kinn. Dieser Krieg konnte ganz schrecklich werden. Schlimmer als der Krieg mit Gurkhul vielleicht, und er würde mittendrin stecken. Auf einem Posten im Kommandostab des Lord Marschalls. Er? Collem West? Ein Bürgerlicher? Er mochte es noch immer nicht recht glauben.

West fühlte mit leichtem Schuldbewusstsein, wie sich ein Gefühl der Befriedigung an ihn heranschlich. Auf genau einen solchen Posten hatte er die ganzen Jahre mit aller Kraft hingearbeitet. Wenn er sich dort bewährte, dann war nicht vorauszusagen, wohin ihn sein Glück noch führen mochte. Dieser Krieg war eine schlimme Sache, eine schreckliche Sache, das stand außer Frage. Er merkte, dass er grinste. Eine schreckliche Sache. Aber vielleicht würde er ihm genau die richtigen Türen öffnen.