FECHTÜBUNGEN
»Vorwärts, Jezal, angreifen! Seien Sie nicht so schüchtern!«
Jezal war nur zu gern bereit, dieser Aufforderung nachzukommen. Er sprang nach vorn und holte mit der Rechten aus. West war bereits aus dem Gleichgewicht gekommen und stolperte rückwärts, ohne eine der vorgegebenen Figuren einzuhalten, nur noch fähig, mit der kurzen Klinge zu parieren. Sie nahmen diesmal halb geschärfte Fechtdegen her, um die Sache ein wenig gefährlicher zu machen. Zwar konnte man wohl niemanden wirklich damit erstechen, aber man fügte sich gegenseitig schon so einige schmerzhafte Kratzer zu, wenn man sich Mühe gab. Und für die gestrige Erniedrigung wollte Jezal dem Major nur zu gern eins verpassen.
»So ist es recht, machen Sie ihm die Hölle heiß, Jezal! Stoßen, zustoßen!«
West vollführte einen ungelenken Hieb, aber Jezal sah ihn kommen und schmetterte die Klinge beiseite, während er weiter nach vorn drängte und zustieß, was das Zeug hielt. Mit der Linken schlug er wieder und wieder zu. West versuchte ihn verzweifelt abzublocken und stolperte nach hinten gegen die Mauer. Jetzt hatte Jezal ihn endlich. Er lachte vor Entzücken auf, als er mit der langen Klinge einen neuen Ausfall machte, aber sein Gegner war plötzlich und unerwartet lebendig geworden. West entschlüpfte ihm und wehrte den Ausfall mit enttäuschender Festigkeit ab. Jezal stolperte nach vorn, verlor das Gleichgewicht und stöhnte erschrocken auf, als sich die Spitze seines Degens in einer Ritze zwischen zwei Steinen verkeilte. Die Klinge entwand sich seiner betäubten Hand und blieb zitternd stecken.
West warf sich nach vorn, duckte sich an Jezals verbliebener Waffe vorbei und rammte ihn mit seiner Schulter. »Pff«, schnaufte der Hauptmann, als er rückwärts taumelte und zu Boden stürzte, während er ungeschickt mit seiner kurzen Klinge herumfuchtelte. Sie rutschte ihm aus der Hand und schepperte über den steinernen Fußboden, bis Lord Marschall Varuz sie geschickt mit dem Fuß abbremste. Die stumpfe Spitze von Wests Degen schwebte über Jezals Kehle.
»Verdammt!«, fluchte er, als ihm der grinsende Major die Hand bot, um ihm aufzuhelfen.
»Ja«, brummte Varuz mit einem tiefen Seufzer, »wirklich verdammt. Das ist ja eine noch verabscheuungswürdigere Leistung als gestern, wenn das möglich ist. Sie haben sich von Major West wieder einmal komplett vorführen lassen!« Jezal schlug Wests Hand grimmig dreinblickend zur Seite und stand auf. »Er hat bei dieser Runde nicht einmal die Kontrolle verloren! Sie haben sich täuschen und dann entwaffnen lassen. Entwaffnen! Mein Enkel hätte diesen Fehler nicht gemacht, und der ist erst acht Jahre alt!« Varuz schlug mit seinem Stock auf den Boden. »Erklären Sie mir bitte, Hauptmann Luthar, wie Sie einen Fechtkampf gewinnen wollen, wenn Sie flach auf dem Rücken liegen und keine Waffe mehr haben?«
Jezal rieb sich beleidigt den Hinterkopf.
»Da fällt Ihnen nichts ein? Wenn Sie in Zukunft von einer Klippe stürzen, wünsche ich, dass man Sie dann zerschmettert im Abgrund findet, die Klingen noch fest umklammert, haben Sie mich verstanden?«
»Ja, Herr Marschall«, murmelte Jezal verdrossen und wünschte sich nichts sehnlicher, als den alten Drecksack selbst eine Klippe hinunterstürzen zu sehen. Oder vielleicht den Kettenturm. Das würde zu schön passen. Vielleicht könnte Major West gleich mit ihm den Abgang machen.
»Übertriebenes Selbstvertrauen ist der Fluch des Degenfechters! Sie müssen jeden Gegner so behandeln, als wäre er Ihr letzter. Was Ihre Beinarbeit betrifft«, Varuz zog ein angeekeltes Gesicht, »so ist das ja sehr schön anzusehen, wenn Sie vorpreschen, aber wenn man Sie nach hinten drängt, dann haben Sie überhaupt kein Stehvermögen. Der Major musste Sie nur antippen, und schon sind Sie umgefallen wie ein ohnmächtig werdendes Schulmädchen.«
West grinste ihn an. Er genoss diese Szene. Er genoss jeden Augenblick. Verdammter Hund.
»Es heißt, Bremer dan Gorst habe auch beim Rückwärtsgehen einen sicheren Stand wie ein stählerner Pfeiler. Ein stählerner Pfeiler, jawohl! Es wäre leichter, das Haus des Schöpfers umzuwerfen als ihn.« Der Lord Marschall deutete auf die Umrisse des großen Turmes, der die Gebäude rund um den Innenhof überschattete. »Das Haus des Schöpfers!«, bellte er zornerfüllt.
Jezal zog beleidigt die Luft ein und trat mit dem Stiefel gegen den Boden. Zum hundertsten Mal dachte er daran, alles hinzuwerfen und nie wieder eine Klinge in die Hand zu nehmen. Aber was würden die Leute sagen? Sein Vater war lächerlich stolz auf ihn und prahlte vor jedem, der es hören wollte, mit den Fähigkeiten seines Sohnes. Sein ganzes Sinnen und Trachten war darauf gerichtet, dass sein Sohn auf dem Marschallsplatz vor einer tobenden Menge kämpfte. Wenn Jezal jetzt die Brocken hinwarf, wäre sein Vater fürchterlich verletzt, und er, Jezal, könnte sich von seiner Offizierskarriere verabschieden, von seiner Apanage und all seinen Träumen. Seine Brüder würden wahrscheinlich begeistert sein.
»Der Schlüssel liegt im Gleichgewicht!«, trompetete Varuz. »Ihre Stärke liegt in den Beinen! Von jetzt an werden wir noch eine Stunde auf dem Schwebebalken zu Ihren Übungen hinzunehmen. Jeden Tag.« Jezal sah ihn mit gequältem Gesichtsausdruck an. »Also: Eine Runde Laufen, Übungen mit der schweren Stange, Figuren, eine Stunde Zweikampf, wieder Figuren und eine Stunde auf dem Balken. Das sollte wohl einstweilen reichen. Wir sehen uns also um sechs Uhr morgen früh, absolut stocknüchtern, wenn ich bitten darf.« Varuz kniff die Augen zusammen: »Absolut. Stock. Nüchtern.«
»Ewig halte ich das nicht aus«, stöhnte Jezal, als er mit steifen Gliedern zurück in sein Quartier marschierte. »Wie viel von dieser grässlichen Scheiße muss ein Mann ertragen?«
West grinste. »Das ist noch gar nichts. Ich habe den alten Drecksack noch nie so sanft mit jemandem umgehen sehen. Er muss Sie wirklich mögen. Zu mir war er nie so freundlich.«
Jezal traute seinen Ohren kaum. »Es war noch schlimmer?«
»Ich hatte nicht die Grundlagen, die Sie mitbringen. Er hat mich die schwere Stange einen ganzen Nachmittag über dem Kopf hochhalten lassen, bis sie mir aufs Hirn fiel.« Der Major verzog das Gesicht, als ob selbst die Erinnerung daran ihm noch Schmerzen bereitete. »Ich musste in voller Rüstung den Kettenturm rauf und runter rennen. Und jeden Tag waren vier Stunden Zweikampf angesagt.«
»Wie haben Sie das ausgehalten?«
»Ich hatte keine Wahl. Ich bin kein Edelmann. Das Fechten war meine einzige Möglichkeit, Anerkennung zu erlangen. Aber letzten Endes hat es sich gelohnt. Wie viele Männer von einfacher Geburt kennen Sie, die es bis in die Königstreuen geschafft haben?«
Jezal zuckte die Achseln. »Wenn ich so drüber nachdenke, ziemlich wenige.« Da er selbst zu den Edelleuten gehörte, fand er zudem, dass sie dort auch nichts zu suchen hatten.
»Aber Sie sind aus guter Familie, und Sie haben bereits den Rang eines Hauptmanns. Wenn Sie das Turnier gewinnen, dann steht Ihnen doch alles offen. Hoff, der Lord Schatzmeister, Marovia, der Kronrichter, nicht zuletzt Varuz selbst – sie alle haben zu ihrer Zeit den Titel geholt. Ein Turniersieger mit edlem Blut bringt es stets zu hohen Ehren.«
Jezal schnaubte. »Wie Ihr Freund Sand dan Glokta?«
Der Name fiel wie ein Schatten zwischen sie. »Na ja … jedenfalls die meisten.«
»Major West!«, ertönte eine raue Stimme hinter ihnen. Ein stämmiger Korporal mit einer Narbe auf der Wange eilte zu ihnen herüber.
»Korporal Forest, wie geht es Ihnen?«, fragte West und klopfte dem Soldaten herzlich auf den Rücken. Er hat ein Händchen für den Umgang mit dem Bauernvolk, dachte Jezal und erinnerte sich sogleich daran, dass West schließlich selbst kaum besser als ein Bauer war. Er mochte gebildet sein und es zum Offizier gebracht haben, aber dennoch hatte er, wenn man einmal genau darüber nachdachte, immer noch mehr mit diesem Bauern gemeinsam als mit einem dan Luthar.
Der Korporal strahlte. »Sehr gut, danke, Herr Major.« Er nickte Jezal respektvoll zu. »Guten Morgen, Herr Hauptmann.«
Jezal schenkte ihm ein knappes Nicken und drehte sich dann um, um die Prachtstraße entlangzublicken. Ihm fiel kein Grund ein, weshalb ein Offizier mit den gemeinen Soldaten auf vertrautem Fuß stehen sollte. Außerdem war der Mann vernarbt und hässlich. Für hässliche Menschen hatte Jezal nichts übrig.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte West.
»Marschall Burr möchte Sie sprechen, Herr Major, in einer dringenden Angelegenheit. Alle höheren Offiziere sind zu ihm befohlen worden.«
Wests Gesicht verdüsterte sich. »Ich komme, sobald ich kann.« Der Korporal salutierte und schritt davon.
»Worum geht es denn?«, fragte Jezal nachlässig, während er einem Schreiber zusah, der einem Stück Papier nachjagte, das ihm aus der Hand gefallen war.
»Angland. Dieser König der Nordmänner, Bethod.« West sprach den Namen mit einem schiefen Gesicht aus, als ob er einen schlechten Geschmack in seinem Mund hinterließe. »Es heißt, dass er all seine Feinde im Norden überwunden hat und es jetzt auf einen Kampf mit der Union anlegt.«
»Tja, wenn er Kampf will, soll er ihn haben«, sagte Jezal leichthin. Kriege waren seiner Meinung nach eine schöne Sache, eine gute Gelegenheit, um Ruhm zu erlangen und befördert zu werden. Das Papier flatterte in der leichten Brise direkt an seinem Stiefel vorbei, und der schnaufende Schreiber rannte noch immer dahinter her, weit vornüber gebeugt in seinen ungeschickten Bemühungen, es zu fassen zu bekommen. Jezal grinste ihn an, als er an ihm vorbeilief.
Der Major schnappte sich das schmutzige Dokument und reichte es dem Mann. »Danke, mein Herr«, sagte der Schreiber, dessen schweißnasses Gesicht vor Dankbarkeit überzufließen schien, »vielen, vielen Dank!«
»Keine Ursache«, brummte West. Der Schreiber machte eine anbiedernde Verbeugung und eilte weiter. Jezal war enttäuscht. Er hatte an der Jagd seinen Spaß gehabt. »Es könnte zum Krieg kommen, aber das ist im Augenblick meine geringste Sorge.« West stieß einen langen Seufzer aus. »Meine Schwester ist in Adua.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Schwester haben.«
»Nun, ich habe eine, und sie ist hier.«
»So?« Jezal hatte wenig Lust, etwas über die Schwester des Majors zu hören. West hatte sich vielleicht hocharbeiten können, aber der Rest seiner Familie war weiterhin völlig unter Jezals Würde. Ihn interessierten entweder arme Mädchen aus einfachem Hause, die er ausnutzen konnte, oder reiche aus gutem Hause, die für eine Heirat infrage kamen. Alles, was dazwischen lag, spielte keine Rolle.
»Nun, meine Schwester kann recht charmant sein, aber sie ist auch ein wenig … unkonventionell. Wenn sie in der falschen Laune ist, dann ist sie nur sehr schwer im Zaum zu halten. Wenn ich ehrlich bin, würde ich mich lieber mit einer Bande Nordmänner herumschlagen als mit ihr.«
»Kommen Sie schon, West«, sagte Jezal abwesend. Er hatte kaum gehört, was der Major sagte. »So schwierig wird sie schon nicht sein.«
Wests Gesicht hellte sich auf. »Ach, ich bin erleichtert, dass Sie das sagen. Sie wollte gern eine Tour durch den Agriont machen, und ich habe ihr schon seit Jahren versprochen, dass ich ihr alles zeige, wenn sie hierher käme. Eigentlich hatten wir das für heute ausgemacht.« Jezal bekam allmählich ein ungutes Gefühl. »Nun ja, und da ich jetzt zu dieser Besprechung muss …«
»Aber ich habe im Augenblick so wenig Zeit!«, jammerte Jezal.
»Ich verspreche Ihnen, ich werde mich dafür erkenntlich zeigen. Wir treffen uns in einer Stunde in meinem Quartier.«
»Warten Sie …« Aber West marschierte schon davon.
Lass sie nicht zu hässlich sein, dachte Jezal, als er sich langsam der Tür zu Major Wests Quartier näherte und unwillig die Faust hob, um zu klopfen. Bitte lass sie nicht zu hässlich sein. Und auch nicht zu blöd. Nichts ist schlimmer als ein Nachmittag in der Gesellschaft eines dämlichen Frauenzimmers. Seine Hand hatte schon fast die Tür berührt, als er von der anderen Seite erhobene Stimmen hörte. Er fühlte sich ein wenig schuldig, aber sein Ohr näherte sich mehr und mehr dem Holz, als er hoffte, etwas Schmeichelhaftes über sich selbst zu hören.
»… und was ist mit deiner Zofe?«, war dumpf Major West zu hören, der ausgesprochen verärgert klang.
»Die musste ich zu Hause lassen, es war ja so viel zu tun. Da ist seit Monaten niemand gewesen.« Wests Schwester. Jezals Herz sank. Sie hatte eine tiefe Stimme und klang, als sei sie dick. Jezal konnte es sich nicht leisten, mit einem dicken Mädchen am Arm bei einem Bummel durch den Agriont gesehen zu werden. Sein Ruf wäre ruiniert.
»Aber du kannst doch nicht ganz allein durch die Stadt spazieren!«
»Ich bin gut bis hierher gekommen, oder? Du vergisst, wer wir sind, Collem. Ich kann hervorragend ohne eine Bedienstete auskommen. Für die meisten Leute hier bin ich selbst kaum mehr als eine Dienstmagd. Davon mal abgesehen wird ja dein Freund, Hauptmann Luthar, auf mich aufpassen.«
»Das ist doch noch schlimmer, wie du sehr wohl weißt!«
»Nun, ich konnte ja nicht wissen, dass du beschäftigt sein würdest. Ich hätte gedacht, dass du dir vielleicht für deine Schwester ein wenig Zeit nehmen würdest.« Wie eine Idiotin klang sie nicht, das war ja schon mal was, aber dafür dick und zickig. »Bin ich bei deinem Freund etwa nicht gut aufgehoben?«
»Er ist schon ganz in Ordnung, aber ist er bei dir gut aufgehoben?« Jezal war sich nicht sicher, was der Major mit diesem kleinen Seitenhieb meinte. »Und wenn du allein durch den Agriont schlenderst, mit einem Mann, der für dich ein Fremder ist? Spiel nicht die Närrin, dazu kenne ich dich zu gut! Was werden die Leute denken?«
»Scheiß auf das, was sie denken.« Jezal zuckte vor der Tür zusammen. Er war es nicht gewöhnt, dass sich Damen einer derart rüden Sprache bedienten. Dick, zickig und vulgär, verdammt noch eins. Das war vielleicht sogar schlimmer, als er befürchtet hatte. Er sah den Korridor entlang und überlegte, ob er nicht einfach verschwinden sollte; ja, er ersann sogar schon eine Entschuldigung. Aber zu seinem Pech kam ausgerechnet jetzt jemand die Treppe hinauf. Er konnte also nicht gehen, ohne gesehen zu werden. Er musste anklopfen und die Sache hinter sich bringen. Jezal biss die Zähne zusammen und trommelte schlecht gelaunt an die Tür.
Die Stimmen erstarben plötzlich, und Jezal setzte ein wenig überzeugendes freundliches Grinsen auf. Ran an den Feind. Die Tür schwang auf.
Aus irgendeinem Grund hatte er eine kleinere, dickere Ausgabe von Major West in einem Kleid erwartet. Er hatte sich gründlich geirrt. Sie hatte vielleicht eine etwas vollere Figur, als es die Mode derzeit verlangte, laut der sich dürre Mädchen der größten Beliebtheit erfreuten, aber man konnte sie nicht dick nennen, überhaupt nicht. Sie hatte dunkles Haar und dunkle Haut, einen Ton dunkler, als man es allgemein für schön befunden hätte. Er wusste, dass sich eine Dame wenn möglich nicht der Sonne aussetzen sollte, aber nun, als er sie ansah, verstand er überhaupt nicht mehr, weshalb. Ihre Augen waren sehr dunkel, beinahe schwarz, und in dieser Saison galten blaue Augen als begehrenswert. Aber die ihren leuchteten im schwachen Licht des Flurs auf äußerst bezaubernde Weise.
Sie lächelte ihn an. Es war ein seltsames Lächeln, auf einer Seite etwas höher als auf der anderen. Es gab ihm ein leicht unsicheres Gefühl, als ob sie etwas Lustiges entdeckt hatte, das ihm nicht aufgefallen war. Jedenfalls hatte sie sehr gute Zähne, weiß und glänzend. Jezals Zorn verrauchte augenblicklich. Je länger er sie ansah, desto besser gefiel sie ihm und desto schneller rannen alle zusammenhängenden Gedanken aus seinem Kopf.
»Hallo«, sagte sie.
Er öffnete leicht den Mund, wie aus Gewohnheit, aber es kam nichts heraus. Sein Hirn war wie eine leere Buchseite.
»Sie sind sicher Hauptmann Luthar?«
»Äh …«
»Ich bin Collems Schwester, Ardee.« Sie schlug sich vor die Stirn. »Ich bin so blöd, Collem hat Ihnen ja sicher schon alles über mich erzählt. Sie beide sind ja sehr gute Freunde.«
Jezal sah etwas verlegen zum Major herüber, der ihm einen schiefen Blick zurückwarf und etwas überrumpelt wirkte. Er konnte nun wohl schlecht sagen, dass er von ihrer Existenz bis heute Morgen absolut nichts gewusst hatte. Mit aller Mühe versuchte er, eine zumindest halbwegs amüsante Antwort zustande zu bringen, aber ihm fiel nichts ein.
Ardee nahm ihn am Ellenbogen und zog ihn ins Zimmer, während sie unentwegt redete. »Ich habe gehört, dass Sie ein großartiger Fechter sind, aber man hat mir auch gesagt, Ihr Witz sei sogar noch schärfer als Ihr Degen. Sogar so sehr, dass Sie Ihren Freunden gegenüber nur die Klinge ziehen, da Ihr Witz so viel tödlicher ist.« Sie sah ihn erwartungsvoll an. Stille.
»Na ja«, murmelte Jezal schließlich. »Ich fechte tatsächlich ein bisschen.« Wie lächerlich. Das war ja schauderhaft.
»Sind Sie denn wirklich der Richtige, oder habe ich hier den Gärtner erwischt?« Sie sah ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, der schwer zu entschlüsseln war. Vielleicht war es derselbe Blick, mit dem Jezal ein Pferd musterte, das er zu kaufen überlegte: vorsichtig, prüfend, aufmerksam und stets ein kleines bisschen abschätzig. »Selbst die Gärtner tragen hier ja aufwändige Uniformen, wie es scheint.«
Jezal war sich beinahe sicher, dass dies eine Art Beleidigung gewesen war, aber er war zu sehr damit beschäftigt, sich eine witzige Entgegnung zu überlegen, dass er gar nicht richtig darauf eingehen konnte. Er wusste, dass er jetzt etwas sagen musste, wenn er nicht den ganzen Tag in peinlichem Schweigen verharren wollte, also öffnete er den Mund und vertraute auf sein Glück. »Es tut mir leid, wenn ich sprachlos wirke, aber Major West ist ein derart unattraktiver Mann, und ich konnte wahrhaftig nicht erwarten, dass seine Schwester so schön ist.«
West schnaubte vor Lachen. Seine Schwester zog eine Augenbraue in die Höhe und zählte an ihren Fingern die Punkte ab. »Leicht beleidigend für meinen Bruder, das ist schon mal gut. Ein wenig amüsant, das ist ebenfalls gut. Offenkundig ehrlich, das ist erfrischend – und ausgesprochen schmeichelhaft für mich, und das ist natürlich hervorragend! Kam ein bisschen spät, aber im Großen und Ganzen hat sich das Warten gelohnt.« Sie sah Jezal ins Gesicht. »Da wird der Nachmittag ja vielleicht doch keine Verschwendung.«
Jezal war sich nicht sicher, ob ihm diese letzte Bemerkung gefiel, und er war sich auch nicht sicher, ob er es mochte, wie sie ihn ansah, aber er betrachtete sie einfach zu gern, daher war er bereit, eine Menge zu verzeihen. Die Frauen in seinen Kreisen sagten selten etwas Geistreiches, die Gutaussehenden schon gar nicht. Sie waren wahrscheinlich angehalten, zu lächeln und zu nicken, während die Männer die Unterhaltung bestritten. Insgesamt fand er das auch in Ordnung so, aber die geistreichen Bemerkungen standen Wests Schwester gut zu Gesicht, und sie hatte seine Neugier mehr als geweckt. Fett und zickig hatte sich erledigt, das stand schon mal fest. Und was das Vulgäre anging: Schöne Menschen waren niemals vulgär, oder? Sie waren höchstens … unkonventionell. Er kam allmählich zu der Ansicht, dass sich der Nachmittag, genau wie sie gesagt hatte, vielleicht doch nicht als Verschwendung entpuppen würde.
West ging hinüber zur Tür. »Ich glaube, ich muss euch beide nun allein lassen, damit ihr euch ohne mich zum Narren haltet. Lord Marschall Burr erwartet mich. Tut nichts, das ich nicht auch täte, in Ordnung?« Diese Aufforderung hätte an Jezal gerichtet sein können, aber West sah dabei seine Schwester an.
»Dann können wir uns ja sozusagen alles erlauben«, sagte sie und fing Jezals Blick. Überrascht merkte der Hauptmann, dass er wie ein kleines Mädchen errötete, und er hüstelte und sah wieder auf seine Schuhe.
West rollte mit den Augen. »Das kann ja heiter werden«, murmelte er, als die Tür ins Schloss fiel.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Ardee, die sich bereits Wein in ein Glas goss. Allein mit einer schönen, jungen Frau. Das war nun nicht unbedingt eine neue Erfahrung, beruhigte Jezal sich selbst, aber dennoch schien ihm plötzlich das gewohnte Selbstbewusstsein abhanden gekommen zu sein.
»Vielen Dank, das ist sehr nett.« Ja, etwas zu trinken, das würde die Nerven beruhigen. Sie hielt ihm das Glas hin und schenkte sich selbst ein weiteres ein. Er fragte sich, ob eine junge Dame um diese Tageszeit überhaupt geistige Getränke zu sich nehmen sollte, aber es schien unangebracht, etwas dazu zu sagen. Schließlich war sie ja nicht seine Schwester.
»Erzählen Sie mir, Herr Hauptmann, woher kennen Sie meinen Bruder?«
»Nun, er ist mein Vorgesetzter, und wir fechten zusammen.« Allmählich begann sein Gehirn wieder zu funktionieren. »Aber … das wissen Sie ja bereits.«
Sie grinste ihn an. »Natürlich, aber meine Gouvernante hat mir eingebläut, dass man jungen Männern auf alle Fälle Gelegenheit geben sollte, etwas zum Gespräch beizutragen.«
Jezal verschluckte sich ungalant und verschüttete ein wenig Wein über seine Jacke. »Ach du meine Güte«, sagte er.
»Hier, halten Sie das einen Augenblick.« Sie reichte ihm ihr Glas, und er nahm es, ohne nachzudenken, hatte aber keine Hand mehr frei. Als sie dann seine Brust mit einem weißen Taschentuch abtupfte, konnte er kaum etwas dagegen einwenden, auch wenn das Ganze etwas ungehörig vertraut erschien. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, er hätte vielleicht etwas dagegen gesagt, wenn sie nicht so verdammt gut ausgesehen hätte. Er fragte sich, ob ihr wohl klar war, welch hübschen Einblick sie ihm in den Ausschnitt ihres Kleides gewährte – aber das war ihr sicher nicht bewusst, wie denn auch? Sie war lediglich neu in der Stadt, an höfische Manieren nicht gewöhnt, sondern eher der ungekünstelten Art eines Mädchens vom Land verpflichtet … dennoch, ein sehr hübscher Anblick, das war nicht zu leugnen.
»So, das ist besser«, sagte sie, obwohl das Tupfen keinen erkennbaren Unterschied gemacht hatte. Jedenfalls nicht auf seiner Uniform. Sie nahm ihm die Gläser ab, leerte ihres mit einer geübten Bewegung, bei der sie den Kopf kurz in den Nacken legte, und schob es auf den Tisch. »Gehen wir?«
»Ja … natürlich. Oh.« Er bot ihr seinen Arm.
Sie führte ihn auf den Korridor und die Treppen hinunter und erzählte dabei, was ihr in den Sinn kam. Es waren schnell aufeinander folgende Konversationsattacken, und wie Marschall Varuz bereits am Morgen festgestellt hatte, war seine Verteidigung lausig. Er versuchte verzweifelt zu parieren, als sie sich auf den Weg zum großen Marschallsplatz machten, konnte aber kaum ein Wort in ihrem Redefluss unterbringen. Es schien, als sei es Ardee, die seit Jahren hier in der Stadt lebte, und Jezal sei der Bauerntrampel aus der Provinz.
»Die Heereshallen liegen dort dahinter?« Sie nickte zu der hohen Mauer hinüber, die das Hauptquartier der Streitkräfte der Union vom Rest des Agrionts trennte.
»So ist es. Dort haben die Lord Marschälle ihre Diensträume und so. Und dort befinden sich auch die Kasernen, die Waffenkammern, und … äh …« Er hatte den Faden verloren, und es fiel ihm nicht mehr viel ein, was er hätte sagen können. Aber Ardee kam ihm zu Hilfe.
»Also ist mein Bruder jetzt irgendwo dort drin. Er ist ein ziemlich berühmter Soldat, glaube ich. Der Erste, der die Bresche von Ulrioch stürmte, und so weiter.«
»Ja, Major West genießt hier sehr großes Ansehen …«
»Er kann aber trotzdem ein echter Langweiler sein, oder? Er liebt es, geheimnisvoll und sorgenumwölkt zu erscheinen.« Sie setzte ein leises, übertrieben nachdenkliches Lächeln auf und rieb sich gedankenverloren das Kinn, wie ihr Bruder es auch so gern tat. Sie hatte ihn hervorragend getroffen, und Jezal musste lachen, obwohl er sich allmählich fragte, ob es nicht ungehörig war, dass sie so nahe bei ihm stand und seinen Arm in einer derart vertrauten Weise umklammert hielt. Nicht, dass ihm das etwas ausgemacht hätte. Im Gegenteil, aber die Leute sahen schon zu ihnen herüber.
»Ardee …«, begann er.
»Dann ist das hier sicher der Weg der Könige.«
»Äh, ja, Ardee …«
Sie blickte zur faszinierenden Statue von Harod dem Großen auf, der mit seinen strengen Augen etwas in mittlerer Entfernung anzusehen schien. »Harod der Große?«, fragte sie.
»Äh, ja. In den finsteren Tagen, bevor es die Union gab, kämpfte er darum, die drei Königreiche zu vereinen. Er war der erste Hochkönig.« Du Idiot, dachte Jezal, das weiß sie längst, das weiß doch jeder. »Ardee, ich denke, Ihr Bruder würde es nicht schätzen …«
»Und das ist Bayaz, der Erste der Magi?«
»Ja, er war Harods vertrautester Berater. Ardee …«
»Stimmt es, dass man noch immer einen Sitz im Geschlossenen Rat für ihn bereit hält?«
Jezal war verdutzt. »Ich habe davon gehört, dass dort ein leerer Stuhl steht, aber ich wusste nicht, dass …«
»Sie sehen alle so ernsthaft aus, nicht wahr?«
»Äh … na ja, ich denke, das waren auch ernste Zeiten«, sagte er und versuchte ein lahmes Grinsen.
Ein Heroldsritter kam auf einem riesigen, schweißnassen Pferd die Straße entlanggesprengt; die Sonne glänzte auf den goldenen Flügeln seines Helmes. Die Schreiber und Amtsbeauftragten beeilten sich, ihm Platz zu machen, und Jezal versuchte, Ardee sanft aus dem Weg zu schieben. Zu seinem großen Entsetzen blieb sie jedoch unverwandt stehen. Das Pferd galoppierte nur wenige Zoll von ihr entfernt vorüber, so nahe, dass der Lufthauch ihr Haar in Jezals Gesicht wehte. Sie wandte sich ihm mit vor Aufregung leicht geröteten Wangen zu, schien sich aber nicht bewusst zu sein, dass sie um ein Haar hätte schwer verletzt werden können. »Ein Heroldsritter?«, fragte sie, nahm erneut Jezals Arm und zog ihn den Weg der Könige hinunter.
»Ja«, krächzte Jezal, der verzweifelt versuchte, seine Stimme in den Griff zu bekommen, »den Heroldsrittern sind ernste Verpflichtungen übertragen. Sie bringen Botschaften des Königs in jeden Teil der Union.« Das beschleunigte Hämmern seines Herzens ließ allmählich wieder nach. »Selbst über das Meeresrund nach Angland, Dagoska und Westport. Sie haben die Aufgabe, mit der Stimme des Königs zu sprechen, und daher ist es ihnen ansonsten nicht erlaubt zu reden, außer im Auftrag des Königs.«
»Fedor dan Haden war auf dem Schiff, das uns hierher brachte, und er ist ein Heroldsritter. Wir haben stundenlang geredet.« Jezal versuchte erfolglos, seine Überraschung zu verbergen. »Er hat von Adua erzählt, von der Union, von seiner Familie. Ihr Name wurde dabei auch genannt.« Wieder gelang es Jezal nicht, gleichmütig zu wirken. »Im Zusammenhang mit dem anstehenden Turnier.« Ardee lehnte sich noch näher an ihn. »Fedor war der Meinung, dass Bremer dan Gorst Sie in Stücke hauen wird.«
Jezal gab ein ersticktes Husten von sich, fing sich aber schnell. »Leider scheint dies eine weit verbreitete Meinung zu sein.«
»Aber Sie sehen das sicherlich anders?«
»Äh …«
Sie blieb stehen, nahm seine Hand und sah ihm ernst in die Augen. »Ich bin sicher, dass Sie ihn besiegen werden, ganz gleich, was die Leute sagen. Mein Bruder hält große Stücke auf Sie, und er ist mit Lob ansonsten äußerst geizig.«
»Äh …«, murmelte Jezal. Seine Finger prickelten angenehm. Ihre Augen waren groß und dunkel, und er wusste nicht, was er sagen sollte. Ihre Angewohnheit, an ihrer Unterlippe zu kauen, ließ seine Gedanken immer wieder abschweifen. Eine schöne, volle Unterlippe. Daran hätte er selbst auch ganz gern mal geknabbert. »Ja, vielen Dank.« Er lächelte idiotisch.
»Das ist dann hier wohl der Park«, sagte Ardee und wandte sich von ihm ab, um das Grün zu bewundern. »Er ist noch schöner, als ich ihn mir vorgestellt hatte.«
»Äh … ja.«
»Wie wundervoll, so im Herzen des Geschehens zu sein. Ich habe viel Zeit meines Lebens mehr am Rande verbracht. Hier werden sicher viele wichtige Entscheidungen gefällt, von vielen wichtigen Leuten.« Ardee ließ die Blätter eines Weidenbaums, der an der Straße stand, durch ihre Hand gleiten. »Collem befürchtet, dass es im Norden bald Krieg geben könnte. Er war um meine Sicherheit besorgt. Deswegen wollte er vermutlich, dass ich hierher komme. Meiner Ansicht nach macht er sich zu viel Sorgen. Was meinen Sie, Hauptmann Luthar?«
Bis vor einigen Stunden war er angenehm unwissend gewesen, was die politische Lage anging, aber das konnte er ihr natürlich nicht sagen. »Nun ja«, erklärte er und versuchte sich an den Namen zu erinnern, bevor er erleichtert fortfuhr: »Dieser Bethod braucht wohl mal was auf die Finger.«
»Man sagt, er habe zwanzigtausend Nordmänner unter seinem Banner.« Sie beugte sich zu ihm hinüber. »Barbaren«, murmelte sie, und dann fügte sie flüsternd »Wilde« hinzu. »Nach dem, was ich gehört habe, zieht er seinen Gefangenen bei lebendigem Leib die Haut ab.«
Jezal fand ein derartiges Thema für eine junge Dame höchst unschicklich. »Ardee …«, begann er.
»Aber ich bin sicher, solange uns Männer wie Sie und mein Bruder beschützen, haben wir nichts zu befürchten.« Dann wandte sie sich ab und ging schnell den Weg hinauf. Jezal musste ich beeilen, um mit ihr mitzuhalten.
»Und das ist das Haus des Schöpfers?« Ardee nickte in Richtung der dunklen Umrisse des riesigen Turmbaus.
»Aber ja, das ist es.«
»Geht dort nie jemand rein?«
»Nein, niemand, jedenfalls nicht, solange ich mich erinnern kann. Die Brücke ist mit Schloss und Riegel gesichert.« Er verzog das Gesicht, als er den Turm betrachtete. Jetzt erschien es ihm seltsam, dass er nie darüber nachgedacht hatte. Wenn man im Agriont lebte, dann war dieses riesige Gemäuer immer irgendwie da. Man gewöhnte sich daran. »Das Gebäude ist versiegelt, glaube ich.«
»Versiegelt?« Ardee kam ihm jetzt sehr nahe. Jezal blickte sich unruhig um, aber niemand sah zu ihnen herüber. »Ist es nicht komisch, dass niemand dort hineingeht? Ist das nicht geheimnisvoll?« Beinahe konnte er ihren Atem an seinem Hals spüren. »Ich meine, wieso tritt nicht einfach mal jemand die Tür ein?«
Jezal fand es äußerst schwer, sich zu konzentrieren, nun, da sie ihm so nahe war. Einen Augenblick dachte er zugleich erschreckt und auch erregt darüber nach, ob sie vielleicht mit ihm anzubandeln versuchte? Nein, nein, natürlich nicht! Sie war einfach nicht an die Umgangsformen gewöhnt, die in der Stadt herrschten. Die ungekünstelte Art eines Mädchens vom Lande … aber sie kam ihm schon sehr nahe. Wenn sie doch nur etwas weniger anziehend gewesen wäre oder aber etwas weniger selbstbewusst. Wenn sie nur weniger … Wests Schwester gewesen wäre.
Er hüstelte und sah den Weg entlang, nach einer Ablenkung suchend. Es waren einige Leute unterwegs, aber niemand, den er kannte, abgesehen von … Ardees Zauber brach plötzlich, und Jezal fühlte, wie ein Schauer über seine Haut kroch. Eine gebeugte Gestalt, für diesen sonnigen Tag viel zu warm gekleidet, humpelte auf sie zu und stützte sich dabei schwer auf einen Stock. Der Mann ging verkrampft, und jeder Schritt schien ihm Schmerzen zu bereiten; die anderen Spaziergänger machten einen weiten Bogen um ihn. Jezal versuchte, Ardee in eine andere Richtung zu führen, bevor er sie entdeckte, aber sie weigerte sich elegant und ging direkt auf den elenden Inquisitor zu.
Sein Kopf ging ruckartig nach oben, als sie sich näherten, und das Funkeln seiner Augen verriet, dass er den Hauptmann erkannte. Jezals Mut sank. Jetzt konnte man ihm nicht mehr aus dem Weg gehen.
»Nanu, Hauptmann Luthar«, sagte Glokta mit warmer Stimme, schlurfte etwas zu nahe und schüttelte ihm die Hand, »welch eine Freude! Ich bin überrascht, dass Varuz Sie so früh am Tag hat gehen lassen. Er wird wohl weich auf seine alten Tage.«
»Der Lord Marschall ist noch immer sehr anspruchsvoll«, erwiderte Jezal scharf.
»Ich hoffe, meine Praktikalen haben Sie neulich Abend nicht belästigt.« Der Inquisitor schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie haben keine Manieren, überhaupt keine. Aber sie sind die Besten in dem, was sie tun! Ich schwöre, der König hat keine wertvolleren Diener.«
»Vermutlich dienen wir alle dem König auf unsere eigene Weise.« Jezal klang etwas feindseliger, als er eigentlich beabsichtigt hatte.
Falls Glokta beleidigt war, zeigte er es nicht. »So ist es. Ich glaube, Ihre Freundin kenne ich noch nicht.«
»Nein. Das ist …«
»Wir sind uns tatsächlich schon einmal begegnet«, erklärte Ardee nun zu Jezals großer Überraschung und reichte dem Inquisitor ihre Hand. »Ardee West.«
Glokta hob die Brauen. »Nein!« Steif verbeugte er sich und küsste ihren Handrücken. Jezal sah, dass sein Mund zuckte, als er sich wieder aufrichtete, aber das zahnlose Grinsen kehrte schnell wieder zurück. »Collem Wests Schwester! Sie haben sich so sehr verändert.«
»Zum Besseren, wie ich hoffe«, lachte sie. Jezal fühlte sich fürchterlich unbehaglich.
»Aber ja doch«, bestätigte Glokta.
»Und auch Sie haben sich verändert, Sand.« Ardee blickte plötzlich sehr traurig. »Meine ganze Familie hat sich so große Sorgen um Sie gemacht. Wir haben gehofft und gehofft, dass Sie sicher zurückkehren würden.« Jezal sah, dass ein kurzer Krampf Gloktas Züge verzerrte. »Dann erfuhren wir, dass Sie verletzt wurden … Wie geht es ihnen?«
Der Inquisitor sah zu Jezal hinüber, und seine Augen waren so kalt wie der langsame Tod. Jezal starrte auf seine Stiefel und spürte einen Knoten Angst in seiner Kehle. Dabei gab es doch keinen Grund, vor diesem Krüppel Angst zu haben, oder? Dennoch wünschte er sich plötzlich, noch immer beim Fechtunterricht zu sein. Glokta starrte Ardee an, sein linkes Auge zuckte leicht, und sie erwiderte seinen Blick, unerschrocken und mit ruhiger Besorgnis in den Augen.
»Mir geht es gut. Jedenfalls im Rahmen dessen, was man erwarten kann.« Sein Gesichtsausdruck hatte sich seltsam verändert. Jezal fühlte sich so unbehaglich wie nie zuvor. »Vielen Dank, dass Sie fragen. Wirklich. Das tut sonst niemand.«
Es entstand ein verlegenes Schweigen. Der Inquisitor drehte den Kopf zur Seite, und ein lautes Knacken war zu hören. »Ah«, sagte er, »das war’s. Es war ein Vergnügen, Sie beide wiederzusehen, aber die Pflicht ruft.« Er gönnte ihnen ein letztes schauerliches Lächeln und humpelte dann weiter; sein linkes Bein schrammte über den Kies.
Ardee sah seinem gebeugten Rücken mit umwölkter Miene nach, als er langsam davonhinkte. »Es ist so tragisch«, murmelte sie leise.
»Was denn?«, fragte Jezal. Er dachte an den großen weißen Fiesling neulich abends, mit den zusammengekniffenen rosa Augen. An den Gefangenen mit dem Sack über dem Kopf. Wir alle dienen dem König auf unsere eigene Weise. In der Tat. Unwillkürlich überlief ihn ein Schauer.
»Er und mein Bruder waren sehr eng befreundet, und er war einen Sommer bei uns zu Gast. Meine Familie war so stolz, dass er bei uns war, es war schon peinlich. Jeden Tag hat er mit meinem Bruder gefochten und jedes Mal gewonnen. Wie er sich bewegte – das war schon ein großartiger Anblick. Sand dan Glokta. Er war der hellste Stern am Himmel.« Wieder zeigte sie ihr wissendes Halblächeln. »Und nun sind das wohl Sie.«
»Äh …«, erwiderte Jezal, der nicht wusste, ob sie ihn gelobt hatte oder sich über ihn lustig machen wollte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er an diesem Tag zweimal besiegt worden war, durch beide Geschwister.
Dabei konnte er den Verdacht nicht abschütteln, dass es die Schwester gewesen war, die ihm die schwerere Niederlage beigebracht hatte.