Kapitel 18

»Meiner Meinung nach ist er ein Fall für die Klapsmühle«, sagte Phil Morton später zu Jess. »Egal, ob ein Psychiater das auch so sieht oder nicht.« Er saß in ihrem Büro, und in den vergangenen zwanzig Minuten waren sie die gesamte Vernehmung von Andrew Ferris durchgegangen.

»Er ist nicht verrückt genug, um ungeschoren davonzukommen, soweit es das Gesetz betrifft. Er ist ein bösartiger Killer und sich vollkommen im Klaren über das, was er tut. Hoffen wir, dass die Jury zum gleichen Ergebnis kommt«, entgegnete Jess entschieden. »Und dass der Richter ihn so lange wie möglich wegsperrt. Er ist selbstsüchtig, nachtragend und weist jede Verantwortung für das, was er tut, weit von sich. Ein Halunke, wie er im Bilderbuch steht.«

»Schön und gut, aber er hat Ihnen eins über den Kopf gegeben. Sein Verteidiger wird sagen, dass Sie deswegen voreingenommen sind«, erwiderte Morton weise. »Sie wissen selbst, wie diese Strafverteidiger sind.«

»Meiner Meinung nach ist Ferris ein eiskalter Mörder. Was war seine Erklärung dafür, dass er mich niedergeschlagen hat? Ich bin zu seinem Haus zurückgekehrt und habe in seiner Garage geschnüffelt. Er war gezwungen, so zu handeln. Es war meine eigene Schuld. Er ist von der allerschlimmsten Sorte, sieht sich immer nur als das Opfer.«

»Wie die Hälfte aller Insassen unserer Gefängnisse«, erwiderte Morton. Mit weinerlicher Stimme fuhr er fort: »›Ich hätte diesen Kerl bestimmt nicht niedergestochen, wenn er nicht versucht hätte, mir das Handy zu klauen‹ …« Er schnitt eine Grimasse.

»Genau. Ein Psychopath.«

»Sage ich doch. Er ist ein Irrer. Wie geht es Ihnen übrigens? Nicht, dass es nicht eine Freude wäre, Sie wieder zurück im Dienst zu sehen, Ma’am.«

»Mir geht es gut, danke der Nachfrage. Nun denn, wir haben einen hieb- und stichfesten Fall gegen Ferris. Aber er ist gerissen und schlagfertig, und wenn wir nicht höllisch aufpassen, windet er sich aus beiden Mordanklagen heraus.«

»Das ist er«, sagte Morton düster. »Ein Schlaumeier wie er im Buche steht.«

Jess kippte ihren Stuhl gegen die Wand, was sie als Kind nie gedurft hatte. Sie starrte hinauf zur Decke, wo im Luftzug vom halb geöffneten Fenster ein Spinnfaden tanzte.

Lose Enden, dachte sie. Kommt Andrew Ferris am Ende ungeschoren davon, weil wir – weil ich irgendetwas übersehen habe?

Sie begann die einzelnen Punkte im Kopf abzuzählen. Ferris gibt zu, dass er mit Eva im Wagen war. Sie haben sich gestritten. Es gab Handgreiflichkeiten. Er gibt zu, dass er die Hände um ihren Hals gelegt und sie erdrosselt hat. Die Körperflüssigkeiten zeigen, dass er sie im Kofferraum des Citroën transportiert hat, was er nicht abstreitet. Was mich vor Rätsel stellt, ist die Frage, wie er sie dort hinein verfrachtet hat. Ein Saxo hat keinen sehr großen Kofferraum. Schön, Eva war eine kleine Person. Was für eine Schande, dass das Blut im Wagen sein eigenes war. Ein guter Strafverteidiger wird darauf hinweisen, dass sie tatsächlich einen körperlichen Angriff gegen seinen Mandanten gestartet hat, auch wenn sie nur halb so groß und schwer wie Ferris war. Ferris wird bei seiner Aussage bleiben, dass er sich verteidigt hat und alles außer Kontrolle geriet. Wir müssen auf die Jury vertrauen, schätze ich. Er hat sich nicht verteidigt. Sie hat sich verteidigt. Sie hat einen glücklichen Treffer auf seiner Nase gelandet, daher das Blut.

Dann die Reihenfolge, in der sich die Dinge seinen Worten zufolge ereignet haben. Zuerst, sagt er, war der Tod Evas ein Unfall. Erst als sie tot ist, kommt ihm die Idee, Burton hineinzuziehen, weil er Burton loswerden wollte. Was, wenn es genau umgekehrt war und er Burton loswerden wollte und deswegen beschloss, zu diesem Zweck Eva zu töten, eine weitere Person, die ihm lästig geworden war?

Sie kippte ihren Stuhl wieder nach vorn in die richtige Position. »Wie dem auch sei«, sagte sie laut. »Er kann nicht abstreiten, dass er mich hinterrücks niedergeschlagen und mich in diesem Haus des Grauens eingesperrt oder dass er Penny Gower in ihrem Büro eingesperrt und dann das Gebäude in Brand gesteckt hat.«

»Stimmt«, erwiderte Morton freudig, bevor er in seine natürliche Trübsal zurücksank. »Aber wir haben so gut wie nichts in der Hand, womit wir ihm den Tod von Lucas Burton anhängen könnten. Er streitet die Tat weiterhin ab. Ich wünschte, wir hätten die Tatwaffe gefunden. Ich habe ein schlechtes Gefühl wegen dieser Sache. Der halbe Handballenabdruck legt die Vermutung nahe, dass Ferris in der Garage war. Unglücklicherweise ist er unvollständig. Nicht ausreichend.«

Er kratzte sich im Nacken und blickte nachdenklich drein. »Wissen Sie, als Carter ihm sagte, wir hätten seinen Abdruck in der Garage gefunden, da hat Ferris ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut. Überrascht und erschrocken. Er ist ein vorsichtiger Bursche, aber er hat nicht daran gedacht, dass er vielleicht den Wagen berührt haben könnte.«

»Seine Verteidigung lautet, dass der Abdruck wahrscheinlich zu einem früheren Zeitpunkt entstanden ist«, entgegnete Jess. »Bei einem Besuch Burtons anlässlich einiger Fragen bezüglich seiner Buchführung. Ferris arbeitet zu Hause, und er geht immer mit nach draußen, um seine Mandanten zu verabschieden. Er sagt, dass er Burtons Wagen bei dieser Gelegenheit berührt haben muss. Er sagt auch, dass Burton diese Stelle wohl übersehen haben muss, als er seinen Wagen später gewaschen hat. Andrew Ferris hat auf alles eine Antwort.«

Morton schnaubte. »Burton hat nach seiner Rückkehr von der Cricket Farm seine Zeit damit verbracht, den Mercedes auf Hochglanz zu polieren! Es wäre ein verdammtes Wunder, wenn er ausgerechnet diesen älteren Abdruck vergessen hätte!«

»Trotzdem dürfen wir uns auf eine heiße Schlacht zwischen Anklage und Verteidigung gefasst machen wegen dieses Abdrucks.« Jess seufzte. »Niemand hat ihn bei der Garage gesehen, das ist das Problem, und er behauptet, er habe nicht einmal gewusst, wo sie war. Dazu kommt, dass Burton mit großer Wahrscheinlichkeit Feinde hatte, eine ganze Menge Feinde sogar. Ein raffiniertes Schlitzohr wie er muss auf dem Weg nach oben zahllosen Leuten auf die Füße getreten sein.«

Morton sah sie fragend an. »Was meint der Superintendent dazu?«

»Er argumentiert, Burton habe nur einen einzigen Feind gehabt, von dem wir wissen, und das sei Ferris. Wir wissen, wie sehr Ferris sich danach sehnte, ihn loszuwerden. Carter glaubt – und ich auch –, dass Ferris nicht sicher war, Burton ein für alle Mal vom Hals zu haben, nicht einmal nach der Falle, die er ihm gestellt hatte. Burton war schon einmal nach einer ganzen Reihe von Jahren wieder in seinem Leben aufgetaucht, vergessen Sie das nicht. Wer kann schon sagen, ob er nicht nach einer Weile wieder aufgetaucht wäre, nachdem er seinen Schrecken überwunden hätte, Eva gefunden zu haben? Carter und ich glauben, dass Ferris ganz sicher sein wollte.«

»Gut zu wissen, dass wir alle der gleichen Meinung sind«, sagte Morton geheimnisvoll. »Hoffen wir nur, dass der Anwalt der Krone mit von der Partie ist und ebenfalls zu dieser Schlussfolgerung gelangt.«

Das Spinnengewebe schwang immer noch anmutig im Luftzug hin und her. Jess ertrug den Anblick nicht länger. Sie stand auf und nahm den angerosteten, schwarzen Regenschirm, der in der Ecke des Büros sein Dasein fristete und unerwarteter Wolkenbrüche harrte. Er war schon viel länger in diesem Büro als Jess. Vergessen vor Jahren von einem unbekannten Besitzer und so schäbig, dass jeder, der ihn auslieh, ihn auch unweigerlich wieder zurückbrachte. Unter Mortons interessierten Blicken streckte sie den Schirm aus, löste die Spinnwebe mit der Eisenspitze und zog sie nach unten.

»Hab ich dich!«, sagte sie und zeigte Morton die Spitze. Er hob die Augenbrauen.

»Wissen Sie, was schön wäre, Phil? Es wäre schön, wenn wir beweisen könnten, dass Ferris in Burtons Haus war, und zwar nach dem Zeitpunkt seines Todes. Ich wette ein Monatsgehalt darauf, dass Ferris dort war. Er hat die Schlüssel benutzt, die er dem Toten abgenommen hatte, das Haus von oben bis unten durchsucht und alles mitgenommen, was auf eine Verbindung zwischen ihm und Burton in der Vergangenheit hinweisen konnte.«

»Meine Oma hat immer gesagt, Junge, wette nie, wenn du dir nicht leisten kannst, zu verlieren«, entgegnete Morton scheinheilig grinsend. »Wir können nicht beweisen, dass er im Haus war. Die Spurensicherung hat es von oben bis unten auseinandergenommen. Nichts. Kein Fingerabdruck, keine DNA. Kein Zeuge, der ihn beim Betreten oder Verlassen gesehen hätte. Keine verwendbare Aussage von dieser merkwürdigen Putzfrau, die für Burton gearbeitet hat. Sie beharrt immer nur darauf, dass alles unverändert aussah für sie. Sie muss die unachtsamste Person in ganz Gloucestershire sein!« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich fasse es immer noch nicht, dass sie dreimal die Woche in Burtons Haus aufgetaucht ist, um sich in die Küche zu setzen und Tee zu trinken.«

»Es ist der Modus Operandi von Ferris«, sagte Jess. »Er nimmt seinen Opfern sämtliche persönlichen Dinge ab. Mobiltelefon, Schlüssel, Kreditkarten, Schmuck, Geld, alles. Er hat Eva das Handy und den Lippenstift und sämtliches andere Make-up weggenommen, das sie bei sich hatte.«

»Milada sagt, Eva wäre nie ohne ihr Handy aus dem Haus gegangen.«

»Welche Neunzehnjährige würde das tun? Und trotzdem haben wir nichts dergleichen in ihrem Besitz gefunden, absolut gar nichts. Wenn wir nur einen einzigen Gegenstand finden könnten … Was macht er mit all diesen Sachen? Wir haben sein Haus auf den Kopf gestellt, ohne eine Spur der verschwundenen Sachen zu finden. Wir haben Reggie Foscott dazu gebracht, den versiegelten Umschlag zu öffnen, den Burton bei ihm hinterlegt hat. Er enthielt lediglich persönliche Papiere, hauptsächlich im Zusammenhang mit der Namensänderung. Nichts, was auf Ferris hindeuten würde.«

»Er muss irgendwo ein Versteck haben«, mutmaßte Morton. »Er mag die Mordwaffe erfolgreich beiseitegeschafft haben, aber er hatte nicht genügend Zeit, um alles zu vernichten oder irgendwo anders hin zu schaffen.« Er nahm den Regenschirm, den Jess auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen, und stellte ihn ordentlich wieder in seinen Ständer in der Ecke.

»Wissen Sie«, sagte er zweifelnd über die Schulter, »vielleicht vernichtet er die Dinge ja gar nicht. Vielleicht ist er eine Art Sammler. Er behält die persönlichen Dinge, wie Trophäen.«

»Die Toby Jugs!«, rief Jess sofort. »Er sammelt diese eigenartigen Figurenkrüge. Er hat eine ganze Glasvitrine voll davon in seinem Haus.« Sie rief sich die Umzugskartons vor Ferris’ Garage ins Gedächtnis und die Berge von persönlichen Dingen in der Einfahrt und im Hausflur. »Seine Frau hortet alles Mögliche. Sie haben die Berge von Kram gesehen, als Sie bei ihm waren.«

»Oh, seine Frau«, sagte Phil. »Sie ist auch von einer speziellen Sorte. Sie ist zwanghaft kaufsüchtig, wenn Sie mich fragen.«

»Ich hatte überlegt, dass er die Besitztümer seiner Opfer unter den Sachen seiner Frau versteckt hat«, fuhr Jess fort. »Aber wir haben jeden einzelnen dieser Umzugskartons umgestülpt, und wir fanden nichts, außer Bergen von Schuhen, dass Imelda Marcos neidisch geworden wäre, und einen ganzen Andenkenladen voll mit Reisesouvenirs. Er wollte alles einlagern …« Sie brach ab und schnippte mit den Fingern.

»Einlagern! Das ist es! Penny Gower hat mir erzählt, dass Ferris die Sachen seiner Frau einlagern wolle, sobald er alles zusammengepackt habe. Machen Sie sich an die Arbeit, Phil! Lagerhäuser, Bankschließfächer, alles, wo man Dinge einlagern kann!«

»Wird erledigt«, versprach Morton.

Bennison klopfte und trat ein. »Da sind Sie ja, Ma’am. Ich habe nach Ihnen gesucht. Wie geht es Ihnen?«

»Danke sehr, Hayley, es geht mir ausgezeichnet. Das ist alles, was Sie von mir wollten? Wissen, wie es mir geht?«

»Oh, nein«, antwortete Bennison strahlend. »Unten wartet eine Frau, die mit Ihnen sprechen möchte. Sie sagt, sie sei Lucas Burtons Tante.«

Ihr Name war Mrs. Joy Gotobed. Bei der Lotterie für die unglückseligste Kombination von Vor- und Nachnamen hätte Mrs. Gotobed wahrscheinlich einen Hauptgewinn gezogen, wie Jess in tiefem Mitgefühl dachte. Vielleicht war sie daran gewöhnt und an die Lawine von Witzen, die damit einherging, weil sie die Bürde schon eine ganze Weile trug.

»Ich hieß früher Joy Crapper«, berichtete sie. »Und Marvin – Lucas, wie er sich später nannte – war der Sohn meiner Schwester Marilyn.«

Ihr Aussehen verlieh dem Namen eine subtile Grausamkeit. Sie war ältlich und dünn und trug ein schlecht sitzendes dunkles Kostüm. Die Haut auf ihren von Arbeit gezeichneten Händen war lose und faltig wie zu große Handschuhe. Ihr Ehering saß ebenfalls zu locker. Sie trug keinen Verlobungsring. Ihre Zähne waren falsch, sie saßen schlecht und waren zu weiß. Doch es war etwas durch und durch Rechtschaffenes an ihr, etwas Ehrliches, das nach Respekt verlangte.

»Ich habe in meiner Zeitung gelesen, was passiert ist.« Ihre Hände führten ein nervöses Eigenleben in ihrem Schoß. »Darin stand, dass er ermordet wurde. Es hat mich wirklich sehr erschüttert. Er war nicht, ich meine, ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, aber er war unser Fleisch und Blut und Marilyns Junge. Ich habe ihn aufgezogen, verstehen Sie? Mein Mann und ich, gemeinsam, heißt das. Wir hatten keine eigenen Kinder, und Marilyn … na ja, sie konnte sich nicht um das Baby kümmern. Wir haben nie erfahren, wer der Vater war. Marilyn hat es uns nie gesagt. Wahrscheinlich hat sie es selbst nicht gewusst.«

Mrs. Gotobed sah auf ihre Hände hinunter und wurde sich ihrer nervösen Bewegungen bewusst. Sie verschränkte die Hände im Schoß, um sie unter Kontrolle zu bringen. »Es ist nicht nett, so etwas über die eigene Schwester zu sagen«, fuhr sie fort, »aber es ist die Wahrheit. Marilyn hat das Leben in vollen Zügen genossen. Sie trank gerne. Am nächsten Morgen konnte sie sich nicht erinnern, wo sie gewesen war oder mit wem … Trotzdem. Sie war ein herzensguter Mensch. Ich mochte sie sehr.«

»Sie ist tot, nehme ich an?«, erkundigte sich Jess, als Mrs. Gotobed ins Stocken geriet und verstummte.

»Was? Oh ja. Sie ist nicht alt geworden. Kein Wunder, bei ihrem Lebensstil, nicht wahr? Marvin muss um die fünf Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter starb. Aber wie ich schon sagte, Ronnie – das ist mein Mann –, Ronnie und ich, wir waren Marvins Eltern. Wir haben ihn aufgezogen. Ronnie ist auch schon tot, seit zehn Jahren. Asbest, wissen Sie? Seine Lungen. Er hat auf Abrissbaustellen gearbeitet, bevor man wusste, wie gefährlich dieses Zeug ist, und die alten Gebäude waren voll davon.«

Mrs. Gotobed schien etwas einzufallen, und sie kramte in ihrer großen Handtasche aus Plastik. Sie brachte zwei Zeitungsausschnitte zum Vorschein. »Das hier ist der Artikel, in dem steht, dass er tot aufgefunden wurde. Und das hier …« Sie hielt den anderen Ausschnitt hoch. »… das hier ist von irgendeinem Anwalt, der nach nächsten Angehörigen sucht. Ich hab in seiner Kanzlei angerufen und bin heute aus London hergekommen, um mit ihm zu reden. Er hat gesagt, dass ich Dokumente mitbringen soll.« Die letzten Worte sprach sie sorgfältig aus, als hätte sie Angst, den unvertrauten Begriff falsch zu betonen. »Ich habe alles mitgebracht, was ich habe. Meine Eheschließungs- und Marvins Geburtsurkunde und seine Zeugnisse und Photos …« Sie kramte erneut in der Tasche. »Ich hab auch Marilyns Totenschein. Ihre Leber hat nicht mehr mitgemacht. Na ja, war zu erwarten, nicht wahr?«

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Jess. »Ich dachte nur, ich komme vielleicht zuerst hierher. Ich wollte Sie zuerst fragen, ob Sie wissen, wer Marvin getötet hat? Ich möchte, dass Sie ihn schnappen.«

»Das möchten wir auch, Mrs. Gotobed«, antwortete Jess. »Und wir tun unser Bestes, glauben Sie mir. Wann haben Sie Ihren Neffen zum letzten Mal gesehen?«

Mrs. Gotobed antwortete nicht sogleich. Jess spürte, dass die alte Frau verlegen war.

»Einen Monat vor Ronnies Tod«, sagte sie schließlich, den Blick starr geradeaus an Jess vorbei auf die Wand gerichtet.

»Vor zehn Jahren?«

Mrs. Gotobed errötete. »Wir hatten uns auseinandergelebt, wie es manchmal so ist. Er hatte sehr jung geheiratet, und die Ehe klappte nicht. Danach haben wir ihn weniger und weniger gesehen.

Als ich ihm das letzte Mal über den Weg gelaufen bin, war es kurz vor Weihnachten, und meine Freundin meinte zu mir, Joy, du brauchst etwas Abwechslung, komm, wir machen einen Bummel durch die Geschäfte. Wir müssen ja nichts kaufen, nur ansehen. Ich wollte nur ungern weg und Ronnie länger als eine Stunde allein lassen. Er war damals schon sehr krank. Aber ein alter Freund von ihm sagte, er würde vorbeikommen und sich zu ihm setzen. Ronnie gefiel die Idee, und ich ging mit meiner Freundin los. Wir spazierten die Oxford Street hinunter, und wer kam geradewegs auf uns zu? Marvin. Er war älter geworden und hatte zugenommen, und er war sehr vornehm angezogen, aber es war mein Marvin, kein Zweifel.

Ich rief ihm zu: ›Marvin! Ich bin es, deine Tante Joy!‹ Er sah aus, als hätte ihn der Schlag getroffen. Doch er war sehr freundlich und erkundigte sich nach Onkel Ronnie. Ich sagte ihm, dass es Ronnie nicht so gut ging. Ich wollte ihn nicht damit belasten, dass ich ihm erzählte, wie schlecht es um meinen Ronnie wirklich stand. Er sagte, das täte ihm leid. Sein Name wäre jetzt nicht mehr Marvin, sondern Lucas. Lucas Burton. Sie können sich denken, wie überrascht ich war. Ein schöner Name, sagte ich. Was hätte ich sonst sagen können? Er sah aus, als habe er es zu etwas gebracht. Er war schon immer voller Ideen gewesen, wie man Geld verdienen kann. Und er war ein heller Junge gewesen in der Schule, hatte immer gute Noten. Ich stellte ihm meine Freundin vor. Wir unterhielten uns ein wenig über die Menschenmassen und die Weihnachtsbeleuchtung auf den Straßen. Plötzlich zog er seine Brieftasche und gab mir fünfzig Pfund. ›Hier, lade deine Freundin zum Mittagessen ein, Tantchen.‹ Es tat ihm leid, dass er nicht mitkommen konnte, aber er hatte eine geschäftliche Verabredung. Weg war er, und meine Freundin und ich gingen essen. Als ich wieder zu Hause war, erzählte ich Ronnie, dass ich Marvin gesehen und dass er ausgesehen hatte, als ginge es ihm gut. Ich glaube, Ronnie war erfreut darüber. Obwohl, um ehrlich zu sein, hatte Ronnie zu diesem Zeitpunkt schon das Interesse an allem verloren.«

»Ja«, sagte Jess verlegen. »Ihr Neffe hatte es zu etwas gebracht. Er war ein reicher Mann.«

Was hätte sie dieser Frau sonst sagen sollen? Joy Gotobed, geborene Crapper, hatte ihr ganzes Leben lang für wenig Geld hart gearbeitet. Ihr Leben war kein Zuckerschlecken gewesen. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte zu jammern, also jammerte sie nicht. Und jetzt, spät im Leben, sah es plötzlich aus, als könnte sie die alleinige Erbin eines großen Vermögens werden. Hatte sie eine Vorstellung gehabt, wie reich ihr Neffe Marvin gewesen war, als er starb? Wahrscheinlich nicht. Reggie Foscott würde warten, bis er ihre Papiere geprüft hatte, bevor er sie informierte. Doch falls es wirklich niemanden sonst gab, war Joy Gotobed jetzt eine sehr reiche Frau. Was sollte sie mit dem Geld anfangen? Es war zu spät, um es mit Ronnie zu teilen. Es fiel schwer, sich vorzustellen, dass sie auf eine Weltreise gehen würde oder auch nur in der Oxford Street zum Einkaufsbummel anstatt bloß zum Anschauen. Wahrscheinlich war ihr die Sparsamkeit zur zweiten Natur geworden.

Sie war außerdem nicht mehr die Jüngste. Wer würde das Vermögen erben, wenn sie starb? Sie hatte keine Kinder.

Lucas Burton!, dachte Jess empört. Diese Frau und ihr Mann haben dich aufgezogen. Sie haben dir ein Zuhause gegeben, was deine nichtsnutzige Mutter nicht fertiggebracht hat. Sie und ihr Mann haben dich wie einen eigenen Sohn aufgezogen. Und du schaffst es nicht einmal, mit ihr in Verbindung zu bleiben! Als du ihr zufällig über den Weg gelaufen bist, hast du ihr fünfzig Mäuse in die Hand gedrückt. Fünfzig Pfund! Dafür kriegt man nicht einmal mehr ein Paar Schuhe. Ursprünglich hast du dein Vermögen deiner geschiedenen Frau vermacht und gegenüber Foscott niemals erwähnt, dass es noch jemand anderen gab. Du hast die beiden aus deiner Erinnerung gelöscht. Du wusstest, wie arm sie sind. Hättest du in all den Jahren nicht etwas für deine Tante und deinen Onkel tun können? Was war der Sinn von all deinem verdammten Geld, Lucas? Jemand hätte dir etwas ganz Wichtiges klarmachen müssen: Du kannst es nicht mitnehmen ins Grab.

»Ich hab’s«, sagte Phil Morton befriedigt und legte den Hörer auf die Gabel zurück. »Ein privates Lagerhaus. Sie wissen schon, die Sorte von Lager, wo man gegen Bezahlung Dinge einlagern kann, angefangen bei persönlichen Dokumenten über Antiquitäten bis hin zu irgendwelchem Kram, für den man zu Hause keinen Platz hat. Die Betreiber stellen keine Fragen. Viele ihrer Kunden wollen nicht, dass jemand weiß, was sie dort eingelagert haben. Deswegen finden wir nach einem Einbruch in so ein Lagerhaus – wie er von Zeit zu Zeit vorkommt, trotz aller Sicherheitsvorkehrungen – auch nie genau heraus, was alles abhandengekommen ist. Niemand will es uns sagen.«

Genauso schwierig war es, wie sich herausstellen sollte, an den verschlossenen Container von Andrew Ferris zu kommen, selbst mit einem richterlichen Beschluss. Der Manager, ein plumper, besorgt dreinblickender Bursche undefinierbaren Alters mit zurückweichendem Haaransatz, war unübersehbar noch besorgter angesichts dieses unerwarteten Besuchs von Seiten der Polizei.

»Wir fragen unsere Kundschaft nicht, was genau sie hier zu deponieren gedenkt, Inspector, das geht uns nichts an …«, sagte der Manager, während er mit entsetzten Blicken auf den Durchsuchungsbeschluss starrte, den Jess ihm unter die Nase hielt. »Wir achten lediglich darauf, dass keine gefährlichen oder gesundheitsschädlichen Substanzen eingelagert werden, die unser Personal schädigen könnten … Unsere Kunden müssen eine Erklärung in dieser Hinsicht unterschreiben. Die Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften sind heutzutage sehr strikt. Aber wir können nicht fragen, was in den Boxen ist. Unsere Kunden bezahlen für unsere Diskretion, nicht nur für die Sicherheit der uns anvertrauten Dinge. Sie vertrauen uns. Wo wäre unser Geschäft ohne Vertrauen?«

»Wissen Sie, was mein Geschäft ist?«, entgegnete Jess ungerührt. »Gerade jetzt, in diesem Augenblick, ist es Mord.«

Und damit wurden sie endlich zu Ferris’ Container vorgelassen, wo sie zu guter Letzt in einem alten schwarzen Japanlackkästchen alles fanden: Evas Schminksachen, ihr Mobiltelefon, Burtons Mobiltelefon, sein kleines schwarzes Adressbüchlein … alles. In einem separaten Müllsack fanden sie sogar Jess’ grünen Rucksack mit ihrem Mobiltelefon und ihrem Dienstausweis darin.

»Ich hab gleich gesagt, der Kerl ist ein Sammler«, sagte Morton selbstgefällig.

»Wenn Sie mich fragen, ist er kein Sammler …«, entgegnete Jess und schwang das Adressbüchlein, »… sondern ein potentieller Erpresser.«