Kapitel 6
»Er ist im Haus!«, flüsterte Joe Hegarty rau, als Jess am Montagmorgen an seinem Schalter vorbeikam.
Er lehnte über dem Tresen, der seinen Schreibtisch vom Rest der Eingangshalle trennte, und starrte sie an. Er sah aus wie einer jener grotesken Köpfe, die in Kirchen den Abschluss von Kragsteinen und Simsen bilden und die dazu dienen sollten, unbefugte Eindringlinge mit ihrem versteinerten Blick festzuhalten.
»Danke sehr, Joe«, sagte sie.
»Er ist schon etwas älter«, fügte Joe hinzu. »Grauhaarig.« Joe hatte ebenfalls graue Haare.
»Sehr gut, Joe. Ich werde Superintendent Carter zweifelsohne schon sehr bald selbst treffen.«
Die milde Zurechtweisung entging Hegarty vollkommen. Er hatte nur noch wenige Monate bis zu seiner Pensionierung, und er scherte sich nicht länger um Vorgesetzte und Dienstalter. Bald schon würde er ein Zivilist sein. Ein Expolizist. Und wenn dieser lang herbeigesehnte Tag kam, war es gleichgültig, ob sie Superintendent oder Inspector war. Er musste nicht mehr »Ja, Sir« und »Ja, Ma’am« sagen. Und das, so stellte Jess amüsiert fest, schien er jetzt schon zu üben.
Sie war trotzdem dankbar für die Warnung und zugleich verärgert über die Information, die sie enthielt. Es war nur natürlich, dass der neue Boss am ersten Tag ganz früh in seinem Büro eintraf. Sie hatte selbst darauf geachtet, nur ja nicht zu spät zu kommen. Ein Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass sie volle zehn Minuten zu früh war.
Superintendent Carter war trotzdem früher da gewesen. Hatte er vor, sie alle zu überrumpeln? Sie überlegte, ob sie Joe Hegarty fragen sollte, wann Carter gekommen war, doch dann entschied sie sich dagegen. Es würde Hegarty nur amüsieren, wenn er sah, dass sie nervös war.
Und ich bin nervös, gestand sie sich ein, während sie die Treppe hinaufstieg. Nicht nur, weil sie einen neuen Boss hatte, sondern auch, weil sie eine neue Mordermittlung eingeleitet hatte. Ihre Strategie bis zum jetzigen Zeitpunkt und die Erfolge in den kommenden Wochen würden festlegen, wie Carter sein Team sah. Falls sie sich als effizient erwiesen, hatten sie es in Zukunft leichter. Falls sie versagten, würde er es nicht vergessen. Er würde es ihnen immer wieder unter die Nase reiben.
Normalerweise hingen an einem Montagmorgen zu so früher Stunde die verschiedensten Kollegen auf den Gängen herum, um sich zu begrüßen und darüber zu unterhalten, wie sie ihre Wochenenden verbracht hatten. An diesem Morgen jedoch war keine Menschenseele zu sehen. Zum einen, weil zwei der Kollegen in Urlaub waren und einer krank, zum anderen, weil die anderen alle die Köpfe eingezogen und sich geflissentlich an ihre Schreibtische verkrümelt hatten.
Sie warf einen Blick in das Büro, das Morton und Nugent sich teilten (der gegenwärtig in der Algarve seine Golftechnik verbesserte). Morton blickte erschrocken auf, als er die Tür hörte.
»Ich bin es nur«, sagte sie mit einem schiefen Grinsen.
»Er ist da«, erwiderte Morton. »Er kam rein, stellte sich vor, informierte mich, dass er um zehn Uhr eine Besprechung abhalten will, und ging wieder raus. Schätzungsweise ein Mann weniger Worte, unser neuer Superintendent. Und da im Augenblick nur Sie, Stubbs, Bennison und ich im Dienst sind, wird es ein gemütliches Beisammensein.«
Jess seufzte. »Wo stehen wir?«, fragte sie.
»Nun ja. Vor drei Minuten hat Doc Palmer angerufen und mitgeteilt, dass er die Obduktion heute Morgen um halb zehn durchführen wird.«
Jess stieß einen ärgerlichen Laut aus. »Einer von uns beiden sollte dort sein, und das bedeutet, dass er die Besprechung mit dem Superintendent um zehn Uhr versäumt. Haben Sie Carter informiert?«
»Ich wollte gerade, als Sie reingekommen sind. Ich nehme an, ich werde gehen und Palmer Gesellschaft leisten?«, fragte er düster. »Sie werden sicher an der Besprechung teilnehmen?«
»Ja. Und Sie machen sich besser gleich auf den Weg. Palmer gehört zur pünktlichen Sorte.«
»Immer muss ich bei den Obduktionen dabei sein«, sagte Morton. »Ah, hier habe ich übrigens noch was für Sie.« Er schwang einen Hefter. »Sie haben gesagt, ich soll Eli Smith in der Datenbank recherchieren, also bin ich noch am Freitagabend wieder hergefahren, um ihn zu überprüfen. Ich nahm an, dass er am Samstag vorbeikommen würde, um seine Aussage zu unterzeichnen, und wenn er in der Datenbank ist, dann wollte ich das vorher wissen. Ich habe sicherheitshalber auch den Namen der Farm eingegeben, und was soll ich sagen? Volltreffer.« Er ließ sich zu einem zufriedenen Lächeln hinreißen. »Ich habe alles für Sie ausgedruckt.«
»Danke. Und? Ist er vorbeigekommen, um seine Aussage zu unterzeichnen?« Jess nahm den Hefter entgegen. »Ich glaube, ich weiß schon, was darin steht. Doppelmord auf der Farm. Richtig?«
»Oh. Sie haben die Geschichte gehört, wie?« Morton blickte enttäuscht drein. »Es ist siebenundzwanzig Jahre her, und ja, der alte Bursche kam vorbei und hat sein Kreuz gemacht, wie er es gesagt hat. Ich komme nicht darüber hinweg, dass er nicht schreiben kann. Er hatte nichts Neues hinzuzufügen zu dem, was er uns schon auf der Farm gesagt hat.« Morton deutete auf den Hefter. »Bei dieser Hintergrundgeschichte wundert es mich nicht, dass er so verschlossen ist. Ich habe immer gesagt, dass man die Leute auf dem Land im Auge behalten muss. Sie haben allen möglichen Dreck am Stecken.«
Jess schlug den Hefter auf und blickte auf die erste Seite.
»Was ist?«, fragte Morton scharf.
Es gelang ihr, sich den Schock nicht anmerken zu lassen. »Nichts«, antwortete sie hastig.
Doch das stimmte natürlich nicht. Ihr war etwas aufgefallen, das Phil Morton offensichtlich übersehen hatte. Penny Gower hatte erzählt, dass sie nicht wusste, welcher der beiden Smith-Jungen der ältere gewesen war, Nathan oder Eli. Doch Penny wusste keine Einzelheiten über die Familientragödie. Tatsache war, die beiden Brüder waren Zwillinge gewesen. Wie Simon und ich, dachte Jess unbehaglich. Nur, dass sie beide Jungen gewesen waren.
Zwillinge standen sich näher als gewöhnliche Geschwister. Sie hatte immer genau gewusst, als sie noch alle unter einem Dach gelebt hatten, was ihr Bruder gerade dachte. Und er hatte die gleiche beinahe telepathische Verbindung zu ihr gehabt. Sie hatten ihre gegenseitigen Antworten, Reaktionen, Absichten immer schon vorher gekannt. Es war wie ein Schock gewesen, festzustellen, als sie erwachsen wurden und ihre eigenen Wege gingen, dass der eine plötzlich nicht mehr wusste, was der andere tat und dachte. Andererseits redete Simon bei seinen seltenen Heimatbesuchen immer noch mit einer Offenheit über seine Arbeit als Arzt zu ihr, die er bei seinen Eltern nicht zeigen konnte oder wollte. Ihr Vater hatte wahrscheinlich eine Ahnung, welchen Gefahren Simon und seine Kollegen ausgesetzt waren. Ihre Mutter malte sich alle möglichen Schrecken aus – und wusste wahrscheinlich herzlich wenig über die tatsächlichen.
Wie hatte es bei Nathan und Eli ausgesehen? Hatte Eli in den Wochen vor der Tat gespürt, dass Nathan zunehmend in einen Zustand mentaler Instabilität abgeglitten war? Hatte er etwas von seinen Mordabsichten gespürt? Wie groß war der Schock tatsächlich gewesen, als Eli nach Hause gekommen war und die blutbesudelte Küche betreten hatte? Oder war ihm das Massaker als Höhepunkt eines langen Reifungsprozesses im Kopf seines Bruders erschienen? War sein erster Gedanke gewesen, dass Nathan es endlich getan hatte? Empfand Eli eine Mitschuld? Dachte er, dass er es hätte wissen müssen, dass er die inneren Qualen und die Frustration seines Bruders hätte spüren müssen? Hatte Nathan jemals seinen Eltern gegenüber eine Drohung ausgestoßen? Was war mit dem späteren Selbstmord? Hatte Eli eine Vorahnung gehabt, dass sein Bruder sich das Leben nehmen wollte?
Sie blieb mitten im Korridor stehen, als ihr ein ganz neuer Gedanke kam. Hastig blätterte sie durch die restlichen Seiten. Waren Nathan und Eli eineiige Zwillinge gewesen? Es stand nichts davon in den Unterlagen. Elis Alibi für die Zeit des Todes seiner Eltern war, dass er einen örtlichen Viehmarkt besucht hatte. Er war dort gesehen worden. Doch die Smiths waren eine Familie von Einzelgängern gewesen. Sie hatten sich nicht mit anderen abgegeben, laut Aussage von Selina Foscott. Selina hatte eine Kindheitserinnerung an die Tragödie. Sie musste also aus der Gegend stammen, und trotz ihrer merkwürdigen Art, jede Unterhaltung an sich zu reißen, konnte sie sich als eine Fundgrube an Informationen erweisen. Wenn die Smith-Brüder keine Freunde gehabt hatten, dann hatten sie auf den verschiedenen Viehmärkten wahrscheinlich auch keine längeren Unterhaltungen mit anderen Farmern geführt. Konnte Nathan und nicht Eli unterwegs gewesen sein, als die Tragödie ihren Lauf nahm? Hatte am Ende Elis Finger den Abzug der Schrotflinte betätigt und seine Eltern getötet?
Jess schüttelte den Kopf. Es würde bedeuten, dass Nathan die Schuld für Elis Verbrechen auf sich genommen hatte. Warum sollte er das tun? Nein, Nathan war der Täter, und entweder Reue oder Depression oder mentale Instabilität hatten ihn hinterher getrieben, sich das Leben zu nehmen. Trotzdem. Es fiel Jess schwer, den brüsken Kommentar von Selina Foscott zu vergessen. Glauben Sie mir, wenn Eli jemanden umbringen wollte, würde er es auf die gleiche Weise tun wie damals sein Bruder Nathan. Weil es das ist, was ein Zwilling tun würde, dachte Jess.
Mit den sich neu eröffnenden Möglichkeiten im Kopf vergaß sie Superintendent Carter völlig. Sie vergaß ihn, heißt das, bis sie ihr Büro betrat, mit der aufgeschlagenen Akte in der Hand und den Augen auf den bedruckten Seiten, und bis das Scharren eines Fußes ihre Aufmerksamkeit weckte. Sie erschrak.
Ein Mann stand am anderen Ende des Raums und sah aus dem Fenster. Sie bemerkte, dass er groß gewachsen war und sich sehr aufrecht hielt. Er erinnerte sie an einige Freunde ihres Vaters vom Militär. Der Mann hatte dichtes, eisengraues Haar und trug einen Anzug, der in ihren unerfahrenen Augen aussah, als wäre er sehr kostspielig gewesen. Sie brauchte keine kriminalistische Ausbildung, um dahinterzukommen, wer er war.
Die Überraschung brachte ihre schwelende Verärgerung zum Hochkochen. Wenn er sie sprechen wollte, warum hatte er nicht unten eine Nachricht hinterlassen, dass sie in sein Büro kommen sollte? Oder bis zur Besprechung um zehn Uhr gewartet? Warum hatte er herkommen und in ihrem Büro schnüffeln und sie auf dem Sprung überraschen müssen? In ihr regte sich der Gedanke, dass ihr die Art und Weise nicht gefiel, wie der neue Superintendent die Dinge anging – und das, noch bevor sie sein Gesicht gesehen oder auch nur ein einziges Wort aus seinem Mund gehört hatte.
Aus diesem Grund erwiderte sie seinen Gruß auch sehr steif, als er sich umdrehte und freundlich »Guten Morgen« wünschte.
Er sah sie verwirrt an, nur einen kurzen Moment, und ihr wurde klar, dass sie ihn wütend anfunkelte. Hastig setzte sie eine neutrale Miene auf.
»Superintendent Carter, nehme ich an? Ich … wir sind sehr erfreut, Sie kennen zu lernen.«
»Danke sehr«, sagte er. »Und Sie sind Inspector Jessica Campbell. Die Freude ist ganz meinerseits.«
Er streckte ihr die Hand hin, und Jess ergriff sie. Er wusste, wie man einer Frau die Hand schüttelte – weder zerquetschte er ihr die Finger, noch balancierte er ihre Hand in der seinen, als wäre sie ein zerbrechliches Fabergé-Ei. Damit waren die Höflichkeiten zufriedenstellend ausgetauscht. Er sah jünger aus im Gesicht, als die grauen Haare von hinten vermuten ließen, wahrscheinlich erst Mitte vierzig. Manche Männer ergrauten früh. Jess hob den Hefter. »Das hier hat Sergeant Morton mir eben gegeben. Sie wurden darüber informiert, dass wir einen neuen Mordfall haben?«
»Ja, und das dort ist wichtig, nehme ich an?« Er nickte in Richtung des Schnellhefters. Sein Tonfall war immer noch lässig, doch es hing definitiv Verlegenheit in der Luft. Sie waren wie Fremde auf einer besonders langweiligen Stehparty, die verkrampft nach einem Gesprächsthema suchten.
Jess musste an Alan Markby denken, der auf ihrer früheren Dienststelle ihr Vorgesetzter gewesen war. Markby war ein Achtung gebietender Mann gewesen, doch er hatte alles Mögliche getan, um ihr die Nervosität zu nehmen. Superintendent Carter, so viel schien klar, besaß nicht Markbys Geschick, was den Umgang mit Menschen betraf. Der angemessene Händedruck war irreführend gewesen. Andererseits war es Carters erster Tag. Die Vorzeichen waren anders als damals, als sie zu Markbys Team gestoßen war und der Vorgesetzte ein erstes Gespräch mit der neuen Kraft geführt hatte. Hier war der Vorgesetzte der Neue und in einem eigenartigen Rollentausch derjenige, der von den anderen, Alteingesessenen, abgeschätzt wurde.
Sie riss sich zusammen und antwortete rasch. »Jawohl, Sir. Es handelt sich um den Leichnam einer unidentifizierten jungen Frau. Er wurde von einem Mann namens Eli Smith gefunden, dem Besitzer der Cricket Farm. Er fand die Tote in einem ausgedienten Kuhstall.«
»Ausgedient?« Er hob fragend eine Augenbraue.
»Smith betreibt keine Landwirtschaft mehr. Er ist weiterhin im Besitz des Landes, und er benutzt den Farmhof noch als Lager für seinen Schrott. Er ist eine Art Lumpensammler. Als wir am Freitag bei der Farm ankamen, hatte er seinen Laster vollbeladen mit allem möglichen Plunder. Alte Herde, Waschmaschinen und dergleichen. Er wohnt in der Nähe, aber nicht auf der Farm. Das Farmhaus ist vernagelt.« Sie hob den Schnellhefter. »Hier steht drin, warum. Er hat mit seinen Eltern und seinem Bruder dort gelebt, bis der Bruder vor siebenundzwanzig Jahren eine Schrotflinte nahm und beide Eltern erschoss. Eli war zum fraglichen Zeitpunkt nicht zu Hause. Er war auf einem Viehmarkt. Jede Menge Zeugen haben ihn dort gesehen. Vielleicht hatte er Glück. Vielleicht hätte ihn sein Bruder Nathan sonst ebenfalls erschossen.«
»Also haben wir drei Morde auf der Farm. Ein ziemlich grausiger Zufall. Was für ein Typ Mensch ist dieser Eli Smith?«
»Ein merkwürdiger alter Bursche«, antwortete Jess. »Er muss Mitte bis Ende sechzig sein. Er hat ausgesagt, dass er zur Farm gefahren ist, um dort eine Ladung Schrott zu deponieren und dass er die Tote rein zufällig entdeckt hat. Ich habe allerdings am Samstagmorgen mit einer Frau namens Penny Gower gesprochen. Sie führt einen kleinen Reitstall in einem Tal ganz in der Nähe der Farm. Sie hat am Freitagnachmittag einen silbernen Mercedes bemerkt, der zwischen der Farm und ihrem Stall am Straßenrand stand. Der Fahrer hat sich im Innern zur Seite geduckt, als wollte er nicht gesehen werden. Penny Gower fand dies eigenartig und hat mit einem Freund darüber gesprochen, einem Mann namens Andrew Ferris, der sie beim Stall besucht hat. Ferris fand die Geschichte ebenfalls merkwürdig und rief Smith auf seinem Mobiltelefon an. Das war der Grund, aus dem Smith ungefähr eine Stunde später zur Farm fuhr und den Hof kontrollierte. Er hatte rein zufällig den Laster voll Schrott und dachte, er könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Als wir ihn befragt haben, hat er kein Telefongespräch mit Ferris erwähnt. Ich habe Gower und Ferris davon erzählt, und beide schienen es amüsant zu finden. Sie meinten, das wäre typisch für Eli.«
Sie tippte auf den Hefter. »Das hier erklärt meiner Meinung nach eine Menge von dem, was Smith gesagt und getan hat. Die Geschehnisse auf der Farm sind eine schreckliche Erinnerung. Smith war sehr aufgebracht wegen der Leiche auf seinem Grund und Boden, und es wurde noch schlimmer, als er erfuhr, dass wir das alte Farmhaus öffnen und hineingehen würden. Andererseits konnte er sich vermutlich denken, dass eine dritte Leiche auf der Farm nach außen hin wie ein merkwürdiger Zufall aussieht. Er gab seiner Sorge Ausdruck, was die Nachbarn wohl sagen würden. Obwohl er, wie Phil Morton meint, keine Nachbarn im herkömmlichen Sinn hat. Er wohnt fast einen Kilometer abseits von allem in einem einzeln stehenden Cottage. Oh, und er ist Analphabet.«
»Ein wahrscheinlicher Verdächtiger?«, fragte Carter auf seine ruhige, gelassene Art.
»Ich bezweifle es«, antwortete Jess entschieden, indem sie ihre eigenen jüngsten Gedanken dazu verwarf. »Er hätte sie irgendwo anders versteckt, oder nicht? Nicht in der Nähe seines eigenen Anwesens, ganz sicher nicht im Kuhstall. Er hat jede Menge Land ringsum. Er hätte sie überall verschwinden lassen können. Auf irgendeinem seiner Felder verscharren. Niemand hätte es je erfahren.«
»Aber das gilt für jeden anderen auch«, bemerkte Carter.
Sie spürte, dass er sie genau beobachtete, während sie sprach. Seine Augen waren haselnussbraun und kühl. Es irritierte sie beinahe genauso stark wie der erste Anblick von ihm am Fenster.
»Ja, es ist eigenartig, dass der Mörder sein Opfer im Kuhstall versteckt hat«, pflichtete sie ihm bei. »Es sei denn natürlich, er hat sie dort umgebracht und ihre Leiche einfach liegen lassen.«
»Es erscheint mir trotzdem logischer, sie von dort wegzuschaffen. Falls der Farmhof noch in irgendeiner Weise genutzt wird, ist die Wahrscheinlichkeit einer Entdeckung viel zu groß.«
Beide schwiegen. »Wollen Sie andeuten«, sagte Jess schließlich langsam, »dass die Leiche absichtlich dort zurückgelassen wurde? Damit man sie findet?« Sie runzelte die Stirn. »Merkwürdig. Eli Smith hat genau das gesagt. Dass sie absichtlich dort hingelegt wurde. Allerdings dachte ich, er meint, weil jemand ihm eins auswischen wollte. Jemand, der von den früheren Morden weiß und einen Groll gegen Smith hegt.«
»Und? Sind Sie dieser Möglichkeit nachgegangen? Gibt es jemanden mit einem Groll gegen Smith?«
Seine ruhige Art und der gelassene Gesichtsausdruck machten Jess zunehmend nervös.
»Wir werden uns erneut mit ihm unterhalten. Aber nein, bis jetzt haben wir diese Möglichkeit noch nicht verfolgt. Ich habe mich mit einer Einheimischen unterhalten, einer Frau namens Selina Foscott. Sie war noch ein Kind, als sich die Morde auf der Cricket Farm ereigneten, und sie erinnert sich, dass die Smiths Außenseiter waren, die keinen Kontakt zu Nachbarn pflegten. Ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich jemand die Mühe macht, eine junge Frau zu ermorden, nur um Smith in Verlegenheit zu bringen?« Sie ignorierte seine leicht erhobenen Augenbrauen. »Abgesehen davon haben wir einen weiteren möglichen Verdächtigen.«
»Den Fahrer des Mercedes am Straßenrand.«
»Genau. Er wurde kurze Zeit später erneut gesehen. Das heißt, Selina Foscott wollte gerade vom Reitstall auf die Straße abbiegen, als ein silbergrauer Mercedes an ihr vorüberschoss. Sie konnte gerade noch einem Zusammenstoß entgehen.«
»Was unternehmen wir, um diesen scheuen Mercedesfahrer zu finden?«
»Wir«, nicht »Sie«. Das gefiel ihr.
»Phil Morton hat sich mit der Verkehrsüberwachung in Verbindung gesetzt, Sir, für den Fall, dass der Mercedes von einer Radarkamera erfasst wurde. Außerdem haben wir eine Probe silbergrauen Lacks von einem Torpfosten der Farm. Es sieht ganz danach aus, als wäre unser Mann am fraglichen Nachmittag tatsächlich dort gewesen. Die Forensik wird zweifelsfrei bestätigen, ob die Farbe von einem Mercedes stammt oder nicht. Der Fahrer ist definitiv ein Verdächtiger.«
»Wann führt der Pathologe die Obduktion durch?«, fragte Carter unvermittelt.
Verdammt! Das hatte sie völlig vergessen! Sie spürte, wie sie errötete. »Um halb zehn heute Morgen, Sir. Was bedeutet …« Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Ungefähr jetzt. Sergeant Morton ist hingefahren. Ich weiß, Sie wollten alle um zehn Uhr sehen, aber Morton ist nicht im Haus, zwei haben Urlaub, und einer ist krank …«
»Vergessen Sie die Besprechung«, unterbrach Carter sie. »Die holen wir nach, wenn Morton zurück ist. Im Augenblick interessiert mich die Cricket Farm viel mehr, und die Stelle, wo die Leiche gefunden wurde. Meinen Sie, Sie könnten mich hinfahren?«
»Was denn, jetzt?«, fragte Jess verblüfft.
»Ja, jetzt«, antwortete er. »Es sei denn, Sie haben etwas Dringenderes zu tun?«
»Äh, nein«, sagte Jess und stopfte den Bericht über die Morde an den Smiths in den Mini-Rucksack, den sie anstatt einer Hängetasche überallhin mitschleppte. »Im Gegenteil, Sir, mit dem größten Vergnügen. Ich will nur eben sehen, ob ich die Schlüssel für das Farmhaus finde. Phil Morton hatte sie. Sie liegen vielleicht noch in seinem Schreibtisch.«
»Gut. Und auf dem Weg zur Cricket Farm können Sie mir alles erzählen, was ich sonst noch wissen sollte.«
»Selbstverständlich.« Was immer das auch bedeutete.
Die Farm lag verlassen da wie eh und je, doch jede Menge Spuren der Aktivitäten des vergangenen Wochenendes waren zurückgeblieben. Absperrband flatterte vor dem Eingang. Kein Uniformierter bewachte das Anwesen, demzufolge waren die Jungs von der Spurensuche fertig mit ihrer Arbeit. Später würden vielleicht Gaffer kommen, angezogen von Neugier und der Aussicht auf Nervenkitzel, doch bis jetzt hatten sie den Weg zu diesem abgelegenen Flecken noch nicht gefunden.
Jess und Carter duckten sich unter dem Absperrband hindurch, und sie zeigte ihm den Kuhstall, wo Eli Smith den Leichnam gefunden hatte. Ein weißer Umriss aus Kreide markierte die Stelle im Dreck, doch er war bereits teilweise verwischt. Schon beim nächsten Regen, wenn der Wind die Wassertropfen in den offenen Bau wehte, würde er endgültig verschwinden und nichts mehr auf den grausigen Fund hindeuten.
»Und wir wissen immer noch nicht, wer sie ist?«, fragte Carter, während er auf die Stelle starrte.
»Noch nicht, nein. Es wurde keine junge Frau als vermisst gemeldet, auf die unsere Beschreibung gepasst hätte. Ich hatte vermutet, dass sie eine Einheimische ist, aufgrund der Entfernung zur nächstgrößeren Stadt. Auf der anderen Seite war sie ziemlich modisch und leger angezogen. Über der Leiche lag ein Frauenmantel, vermutlich ihr eigener, und er sah nagelneu aus. So, wie sie angezogen war, hatte ich den Eindruck, dass sie ausgegangen war, um sich mit jemandem zu treffen.«
»Einem Mann?«, fragte Carter und blickte sie stirnrunzelnd an. Schockiert stellte sie fest, dass seine Augen, die ihr vorhin im künstlichen Licht ihres Büros noch haselnussbraun erschienen waren, im natürlichen Tageslicht grün leuchteten.
»Möglicherweise mit einem Mann. Oder einer Freundin. Ein Einkaufsbummel oder ein Kinobesuch vielleicht.«
Sie traten hinaus in den Hof. Carter nickte in Richtung des Wohnhauses. »Was gefunden da drin?«
»Nicht, dass ich wüsste, Sir. Sergeant Morton hat nichts erwähnt, aber ich habe heute Morgen nur kurz mit ihm reden können, bevor er zum Obduktionstermin musste.«
»Hm«, sagte Carter. »Nun gut, wir werden nachher eine Konferenz abhalten. Jetzt, wo wir schon mal hier sind, können wir auch einen Blick ins Haus werfen.« Er setzte sich in Richtung des düsteren, heruntergekommenen Kastens in Bewegung. Nach einer Sekunde des Zögerns folgte ihm Jess.
Das Haus schien zunehmend weniger einladend, je näher sie ihm kamen. Die Bretter waren von der Vordertür mit der abblätternden braunen Farbe entfernt worden, ebenso von zwei Fenstern im Erdgeschoss. Ausgefranste kleine Löcher im Rahmen verrieten, wo die Nägel herausgezogen worden waren. Im ersten Stock waren die Bretter geblieben, doch sie verdeckten die Fenster nicht vollständig.
Jess nahm den Schlüsselbund hervor, den sie in Mortons Schreibtisch gefunden hatte. Auf einem kleinen Etikett stand in Phils Handschrift »Cricket Farm« zu lesen. Der zweite Schlüssel war bereits der richtige, und die Tür öffnete sich knarrend. Sie traten ein.
Das Erste, was Jess bewusst wurde, war der überwältigende Gestank nach Feuchtigkeit und Moder. Er schlug über ihr zusammen und erfüllte ihre Nase, er klebte an ihrer Haut und befiel ihr Haar und ihre Kleidung wie ein Pesthauch. Sie würde diesen Gestank für den Rest des Morgens riechen, wenn nicht für den Rest des Tages. Jess verspürte den Wunsch, zu duschen und sich umzuziehen, sobald sie hier rauskam, doch das musste warten bis zum Abend.
Carter machte keine Bemerkung, doch er hustete und legte sich die Hand über Mund und Nase.
Licht fiel nur durch die offene Vordertür, und das Dämmerlicht im Flur wurde von den vergilbten braunen Rosenmustertapeten nicht gerade verbessert. Selbst neu waren sie nicht besonders hübsch gewesen. Jetzt hatten sich in der feuchten Atmosphäre breite Bahnen gelöst und hingen unansehnlich herab wie sich schälende Haut nach einem schlimmen Sonnenbrand. Auf dem Putz dahinter hatte sich schwarzer Schimmel gebildet.
Sie blickten in die beiden kleinen Zimmer rechts und links des Hausflurs, von deren Fenstern die Bretter entfernt worden waren und die nach draußen auf den Farmhof zeigten. Eines davon schien das ehemalige Wohnzimmer gewesen zu sein. Es enthielt eine dreiteilige Couchgarnitur und einen ausgetretenen Teppich mit frischen Schmutzspuren von den erst kurz zuvor hier gewesenen Kriminaltechnikern. Einer der Lehnsessel hatte ein Loch im Sitz. Er sah aus, als hätte sich ein Nager einen Weg zur Rosshaarpolsterung im Innern gebahnt, die herausgezogen worden war und ringsum in schwarz glänzenden Büscheln verteilt lag.
Ein Nest, dachte Jess erschauernd. Hoffentlich ist es verlassen.
Über dem Kamin hing ein stumpf gewordener Spiegel. Zwei Porzellanvasen, die aussahen wie aus edwardianischer Zeit, standen eingehüllt in dicke Spinnweben auf dem Sims. Dazwischen wartete eine stehen gebliebene Uhr vergeblich auf eine Hand, die sie wieder aufzog. Sie war, wie Jess bemerkte, um zehn Minuten nach vier stehen geblieben – in gespenstischer Übereinstimmung mit dem Zeitpunkt, zu dem Selina Foscott den Beinaheunfall mit dem silbergrauen Mercedes gehabt hatte.
Der andere Raum war ein Esszimmer gewesen mit einem breiten Eichentisch, auf dem eine dicke Staubschicht eine stumpfgraue Tischdecke bildete, mit vier hochlehnigen schwarzen Stühlen ringsum. Zwei weitere Stühle standen an einer Wand, was bedeutete, dass man den Tisch wahrscheinlich ausziehen konnte. Auch hier sah alles aus, als entstamme es einer Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. An der Wand hingen zwei ausgebleichte, vergilbte Lithographien. Die nähere der beiden zeigte zwei weibliche Gestalten in antiken Gewändern, eine davon komplett verschleiert. Sie standen bei einer Weggabelung. Die verschleierte deutete nach rechts, die andere, jünger aussehende hatte eine Hand auf die Brust gelegt und zeigte mit der anderen in dieselbe Richtung. Jess kniff die Augen zusammen, als sie die Bildunterschrift entzifferte.
»Ruth und Naomi«, las sie laut. »Wohin du gehst, will ich dir folgen.«
Sie musterte das zweite Bild auf der anderen Seite des Raums. Es zeigte ein ähnliches biblisches Thema.
»Sie haben nie irgendetwas neu gekauft«, sagte Carter unerwartet. »Es sieht so aus, als hätten schon ihre Großeltern hier Landwirtschaft betrieben. Vielleicht sogar die Urgroßeltern, und ganz sicher die Eltern. Eli Smith ist der Name des gegenwärtigen Eigentümers? Wäre alles nach Plan verlaufen, hätten Eli und sein Bruder die Farm von ihren Eltern übernommen und ebenfalls Landwirtschaft betrieben.«
Wenn Nathan Smith nicht alldem mit einer doppelläufigen Schrotflinte ein Ende bereitet hätte.
Sie verließen den Raum und gingen weiter. Im hinteren Bereich des Hauses gab es eine große Küche mit einer angebauten kleinen Waschküche. Die handbetriebene Mangel war so schwergängig, dass man die Kräfte eines Bauarbeiters benötigte, um sie zu betätigen. In einer Ecke stand ein großer emaillierter Waschkessel auf einem Tonsockel.
»Meine Güte!«, entfuhr es Carter, als er den Deckel abnahm und ins Innere blickte. »Damit haben sie ihre Wäsche gemacht! Dieses Ding ist mindestens sechzig Jahre alt, wenn nicht noch älter. Sie haben anscheinend nie eine moderne Waschmaschine besessen.«
Sie kehrten in die Küche zurück. In einem Regal standen verstaubte Teller. An Haken baumelten gleichermaßen verstaubte Töpfe und Pfannen. Ein Kalender von vor siebenundzwanzig Jahren hing an der Wand. Das Fenster war von dichten Spinnweben verhangen, auch wenn die Spinnen längst verschwunden waren. In einer Ecke stand ein Paar mit knochentrockenem Schlamm verkrusteter Gummistiefel, und an einem Haken hinter der Tür hing eine alte, brüchige Öljacke.
»Smith hat das Haus einfach vernagelt, nachdem die Ermittlungen abgeschlossen waren, und ist weggegangen«, sagte Jess verwundert. »Er hat alles so gelassen, wie es war. Es ist wie das Haus von Miss Havisham in Charles Dickens’ Große Erwartungen.«
Carter sah sie neugierig an. »Haben Sie das Buch gelesen? Oder nur den Film gesehen?«
»Beides«, antwortete Jess gereizt. »Ich habe einen Abschluss in Englisch.«
»Ich habe nur den Film gesehen«, gestand Carter unbeeindruckt. »Aber ich war auch Botaniker.«
Ein Botaniker! Eine Sekunde lang drohte Jess in die Falle zu gehen und zu fragen, was um alles auf der Welt einen Mann mit einem Interesse für Botanik getrieben hatte, zur Polizei zu gehen. Doch sie wusste selbst, dass alle möglichen Gründe Männer und Frauen bewogen, in den Staatsdienst zu treten. Sie hatte ihre gehabt. Carter hatte seine. Was hätte er für eine Alternative gehabt? Lehrer? Trotzdem fragte sie sich, warum er nicht in die Forensik gegangen war.
Carter suchte den Boden ab und nahm die Oberfläche des Kiefernholztisches in Augenschein. »Hier ist es passiert? Hier in der Küche? Damals, meine ich?«
»Nathan saß in der Küche, als Eli vom Markt nach Hause kam«, berichtete Jess. »Die Schrotflinte lag vor ihm auf dem Tisch. Die Eltern waren tot, aber ich bin nicht sicher, ob er sie hier in der Küche erschossen hat. Vielleicht draußen im Hof. Warten Sie, ich werfe einen Blick in den Bericht, den Phil Morton für mich ausgedruckt hat.« Sie zog den Hefter aus ihrem Rucksack und ging damit zu dem spinnwebverhangenen Fenster, durch das kaum Licht in den Raum fiel. »Mr. Smith senior wurde … oh. Er wurde hier drin erschossen.« Sie sah auf und begegnete Carters Blick. Dann beugte sie sich vor und starrte auf den Kiefernholztisch, den er studiert hatte.
Waren das etwa getrocknete Blutflecken unter dem Staub?
Jess atmete tief durch. »Die Mutter starb nebenan in der Waschküche. Die Leichen lagen dort, wo sie gestorben waren.«
»Glauben Sie an Gespenster?«, fragte Carter unerwartet. Seine Frage war von einem leichten Lächeln begleitet, als wolle er andeuten, dass sie nicht ernst gemeint war.
Doch wenn Superintendent Carter eine Frage stellte, so viel war Jess inzwischen klar geworden, dann lag es daran, dass er wissen wollte, was man zu einem Thema dachte.
»Wenn ich anfangen würde an Gespenster zu glauben«, erwiderte sie, »dann sicherlich in dieser Küche. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie Nathan hier sitzt …« Sie klopfte auf die Rückenlehne eines Stuhls. »… und Eli dort drüben in der Tür steht. Mit dem Unterschied, dass Eli nicht tot ist.«
Falsch, dachte sie unvermittelt. Eli ist an jenem Tag gestorben, als er nach Hause kam und Nathan am Tisch sitzend vorfand, besudelt mit dem Blut ihrer Eltern. Dieses leere Haus war Elis Gruft. Seine physische Hülle lief noch da draußen herum, keine Frage. Seine Seele war hier zurückgeblieben. Gefangen, mumifiziert, zusammen mit all den anderen staubigen, modrigen Überresten.
Carter lächelte und nickte schweigend.
Sie stiegen die knarrenden Stufen zur ersten Etage hinauf. Hier oben kam das einzige Licht durch die Ritzen zwischen den Brettern, mit denen die Fenster vernagelt waren. Vereinzelte hellere Flecken leuchteten, wo sich im Lauf der beinahe drei Jahrzehnte ein Brett gelöst hatte und abgefallen war. In der Luft hing ein unangenehmer, stechender Geruch. Carter zog eine kleine Taschenlampe hervor, und der Lichtkegel tanzte durch das Zimmer. Er fiel auf ein Doppelbett mit verrottenden Laken und Daunendecke, eine Frisierkommode voller Staub, auf der noch immer ein Glastablett mit dazu passenden Kristallglastiegeln stand. Hinter der Tür hing ein Morgenmantel, und der quastenverzierte Gürtel reichte bis zum Boden. Auf dem Boden lag eine tote, vertrocknete Maus.
Jess stieß einen leisen Laut aus und zeigte auf die Wand. Carter leuchtete auf die bezeichnete Stelle, wo ein heller, ovaler Fleck auf der vergilbten Tapete zu sehen war.
»Ist Ihnen aufgefallen, Sir, dass nirgendwo Familienphotos an den Wänden hängen? Eli hat die beiden Lithographien unten und den Wandkalender in der Küche hängen lassen. Er hat alles stehen und liegen lassen, wie es war. Nur die Familienphotos hat er entfernt, wie es aussieht, bevor er das Haus vernagelt hat. Ich frage mich, ob er sie noch besitzt. Oder ob er sie vielleicht vernichtet hat.«
Sie stiegen eine weitere schmale, wacklige Treppe hinauf, die zum Dachboden führte. Als Carter die Tür öffnete, schlug ihnen der beißende Gestank, den sie schon früher bemerkt hatten, mit voller Wucht entgegen. Aus der Dunkelheit erklangen ein ärgerliches Rascheln und das Flattern von Flügeln. Etwas rauschte vorbei und streifte Jess’ Haare. Sie zuckte zusammen, und ihr Herz hämmerte wie wild, obwohl sie sofort wusste, was es gewesen sein musste.
»Fledermäuse!«, ächzte sie.
»Eine geschützte Spezies«, stellte Carter fest. »Smith wird Probleme bekommen, sollte er eines Tages wieder hier einziehen wollen.«
Sie stiegen wieder hinunter ins Erdgeschoss.
»Es gibt keinerlei Hinweise, dass jemand eingebrochen und hier gewohnt haben könnte«, meinte Carter. »Weder vor kurzem noch überhaupt. Man sollte meinen, ein leerstehendes Haus würde Hippies oder Landstreicher anziehen. Aber es gibt keine leeren Dosen oder benutzten Spritzen. Keinerlei Anzeichen, dass die Ruhe dieses Ortes gestört wurde.«
»Halten Sie es für möglich, dass Eli einen Eindringling überrascht und die Nerven verloren haben könnte?«, fragte Jess.
»Das könnte sein. Aber es müsste Spuren geben, die jünger sind als siebenundzwanzig Jahre. Wesentlich jünger. Doch bevor die Spurensuche am Freitag herkam, war dieses Haus unberührt. Alles war noch ganz genauso wie vor siebenundzwanzig Jahren, als Eli die Tür absperrte und die Fenster vernagelte. Wie Sie schon sagten, genau wie bei Miss Havisham.«
Sie verließen das Haus, und Jess drehte sich um, um die Haustür zu verschließen. Sie spürte, wie sich ihre Stimmung deutlich besserte. Es war ein schreckliches Haus, und sie hoffte inbrünstig, dass sie es nie wieder betreten musste.
Carter liebte die unerwarteten Fragen, wie es schien, denn in diesem Moment stellte er die nächste. »Sie waren in Alan Markbys Team drüben in Cheriton, wenn ich recht informiert bin?«
»Ja, Sir.«
»Warum sind Sie hierhergekommen?«
»Hauptsächlich, weil ich eine Wohnung gebraucht habe«, gestand Jess. »Ich habe keine gefunden in Bamford oder der näheren Umgebung. Ich hatte gehofft, ich könnte das Haus von Meredith kaufen – Meredith Mitchell, die damals mit Mr. Markby verlobt war und heute seine Frau ist. Aber sie musste den Verkauf zurückstellen, weil er sein Haus bereits veräußert hatte und das neue Haus, das sie gemeinsam gekauft hatten, noch nicht fertig war. Sie brauchten Merediths Haus, um darin zu wohnen. Damit war ich in einer grottenelenden Mietswohnung gestrandet. Eines Tages kam mir zu Ohren, dass hier ein Inspector gesucht wurde, und ich bewarb mich um die Stelle.«
»Und? Haben Sie inzwischen etwas gefunden, in dem Sie sich wohl fühlen?«
»Allerdings, Sir. Ich habe eine Wohnung in Cheltenham. In der ersten Etage eines alten Hauses, das in Wohnungen aufgeteilt wurde.«
»Sehr gut«, sagte Carter.
Jess gab ihrer Neugier nach. »Sie kennen Mr. Markby, Sir?«, fragte sie.
»Was? Oh, ja. Ja, ich bin ihm hin und wieder begegnet im Verlauf der Jahre.«
Mit diesen Worten setzte er sich in Richtung Tor und dahinterliegender Straße in Bewegung.
Er hat keine Hemmungen, anderen persönliche Fragen zu stellen, dachte Jess. Aber er hat etwas dagegen, wenn man ihm welche stellt. Und er beantwortet sie nur sehr ungern. Aber was soll’s? Ich schätze, es ist sein Privileg als Vorgesetzter.
Trotzdem.
Sie war immer noch neugierig.