Kapitel 8
»Hallo Inspector, sind Sie hergekommen, um sich die blutigen Details anzuhören? Ich bin eben mit meinem Bericht fertiggeworden. Warten Sie, ich muss ihn hier irgendwo haben …« Tom Palmer kramte zwischen den Papieren auf seinem Schreibtisch. »Elender Mist, jetzt fällt es mir wieder ein. Ich hab ihn meiner Sekretärin gegeben. Aber ich kann mich an alles erinnern, wenn Sie also Fragen haben …?«
Er beendete seine erfolglose Suche und blickte unter erhobenen Augenbrauen zu Jess auf.
Dies hier war eine Leichenhalle, und ihre Aufgabe an diesem Dienstagmorgen war Mord und Totschlag – trotzdem erwiderte sie unwillkürlich sein freundliches Grinsen, bevor sie sich zu professioneller Ernsthaftigkeit zwang.
»Ich habe bereits mit Phil Morton gesprochen«, sagte sie. »Von ihm weiß ich, dass Sie Erwürgen mit bloßen Händen als Todesursache festgestellt haben.«
»Setzen Sie sich.« Palmer deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und nahm ebenfalls wieder Platz. »Ja, das ist richtig. Ich bin ziemlich sicher. Da wäre zum einen die charakteristische Fraktur des Zungenbeins. Es gibt Hämatome am Hals, die konsistent sind mit Fingerabdrücken, allerdings ohne Nägel. Also hatte unser Täter kurze Fingernägel.« Er hob die behaarten Hände und machte würgende Bewegungen damit.
»Ein Mann, glauben Sie?«
»Manche Frauen haben ziemlich große Hände und schneiden sich die Nägel kurz«, entgegnete Palmer vorwurfsvoll. »Ich kannte mal ein Mädchen … na ja, spielt keine Rolle. Aber sie hatte Hände wie ein Kanalarbeiter.«
Jess versteckte unwillkürlich die eigenen Hände. Sie waren nicht groß, doch sie hatte ebenfalls kurze Fingernägel. »Ersparen Sie mir die Details Ihres Liebeslebens«, flehte sie. »Ganz egal, wie komisch es sein mag.«
Er kicherte. »Ich meine, es würde nicht sonderlich viel Kraft oder Zeit erfordern, jemanden durch Würgen zu töten. Das ist es doch, was wir unseren Kindern immer wieder erzählen, nicht wahr? Leg niemals einem Freund die Hände um den Hals, auch nicht im Spiel. Wenn du zudrückst, verliert er ziemlich schnell das Bewusstsein …«, (weitere Demonstration mit den Händen), »… weil die Halsschlagader abgedrückt wird, sehen Sie? Es kommt kein Blut mehr ins Gehirn. Darüber hinaus kann das Opfer nicht mehr atmen.« Palmer verdrehte den Nacken und röchelte überzeugend. »Es wird ohnmächtig, und der Täter kann sein Werk ohne Eile beenden.« Er legte die Hände auf den Schreibtisch.
»Danke sehr für die Demo«, sagte Jess.
»Keine Ursache. Um auf Ihre Frage zu antworten, ja, eine Frau wäre dazu imstande, erst recht, wenn sie fit ist. Unsere Leiche hat eine zerbissene Unterlippe, und ich würde sagen, sie stammt von dem kurzen Zeitraum, in dem sie sich gewehrt hat. Sie hat sich die eigene Lippe zerbissen. Doch falls der Mörder sie überrascht hat oder sie keinen Grund zu der Annahme hatte, ihn fürchten zu müssen, dann war ihre Reaktion sicherlich langsam. Falls es ein ›Er‹ war, dann war ein gewisses Moment von Rauheit im, äh, körperlichen Umgang vielleicht normal.«
Der Pathologe räusperte sich und zeigte eine unerwartete Verlegenheit.
»Sexuelle Aktivitäten?«, fragte Jess unmittelbar.
»Keine Hinweise auf kürzliche Aktivitäten, nein.« Palmer hatte sich wieder gefangen. »Sie war keine Jungfrau mehr. Andererseits, die jungen Frauen von heute …« Er wich ihrem Blick aus. »Sie war noch jung. Ich würde sagen achtzehn oder neunzehn, höchstens zwanzig.«
»Und wie lange war sie schon tot? Wurde sie nach ihrem Tod bewegt?«
»Ich würde sagen, meine ursprüngliche Annahme von etwa dreißig Stunden ist korrekt, jedenfalls so korrekt, wie wir festzustellen vermögen. Im Gegensatz zu dem, was das Fernsehen und Krimiautoren uns weismachen wollen, kann man das in Wirklichkeit nämlich nie so ganz genau feststellen. Es spielen eine Menge Faktoren hinein. In diesem Fall die Tatsache, dass der Leichnam in dem kalten Stall gelegen hat, ungeschützt vor der nächtlichen Kälte und den Regentropfen, die der Wind hineinweht … allerdings war ihre Kleidung nicht durchnässt, sondern feucht«, fügte Palmer unvermittelt hinzu. »Wann hat es geregnet?«
»Es fing am Freitag an zu regnen, dem Tag, an dem sie gefunden wurde«, antwortete Jess. »Davor hat es sicher achtundvierzig Stunden lang nicht geregnet, obwohl wir in letzter Zeit eine Menge Regen hatten. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass es eine willkommene Abwechslung war.«
»Hm, nun ja, Sie sind die Ermittlerin. Was die Frage angeht, ob sie nach dem Tod bewegt wurde, so würde ich sagen ja, aber ziemlich bald, innerhalb von fünf Stunden, nachdem sie umgebracht wurde. Sie wurde in diesen Kuhstall geschafft und danach nicht mehr bewegt, bis wir sie abgeholt haben. Wenn ich wetten müsste, würde ich sagen, dass sie woanders umgebracht wurde. Dann, nachdem der Täter ein paar Stunden lang überlegt hatte, was er mit der Leiche tun sollte, beschloss er, sie im Stall abzulegen.«
»Also wusste er von der Farm und dass sie mehr oder weniger verlassen war«, sagte Jess nachdenklich. »Was außerdem bedeutet, dass er die Leiche irgendwo lagern musste, nachdem er sie umgebracht hatte, bis er sich darüber im Klaren war, was er mit ihr machen würde.«
»Im Kofferraum seines Wagens?«, schlug Palmer vor. »Er hat sicherlich ein Fahrzeug benötigt, um sie zu transportieren. Und vielleicht hat er nichts von der Farm gewusst. Vielleicht ist er vier oder fünf Stunden lang durch die Gegend gefahren, vielleicht noch länger, während er sich gefragt hat, was zum Teufel er mit der Leiche machen soll. Dann plötzlich kommt er an der Farm vorbei. Sie sieht verlassen aus. Er steigt aus dem Wagen, wirft einen genaueren Blick in die Runde und entscheidet, dass sie wie geschaffen ist für seine Zwecke.«
»Aber was waren seine Zwecke?«, hakte Jess nach einigen Sekunden des Nachdenkens ein. »Er hat die Leiche ganz in der Nähe des Eingangs zu diesem Stall abgelegt. Jeder, der mehr als einen beiläufigen Blick hineingeworfen hätte, musste sie entdecken. Schön, er hat sie mit dem Mantel zugedeckt und mit Sackleinen, aber es war trotzdem offensichtlich, dass etwas darunter lag, etwas, das nicht dorthin gehörte. Offensichtlicher hätte es kaum sein können, außer, wenn er einen roten Pfeil auf den Boden gezeichnet hätte.«
Palmer kratzte sich den Schopf schwarzer Locken und schnitt eine Grimasse. »Sie arbeiten an seinem Motiv, Sherlock. Ich weiß nicht, was seine Beweggründe waren. Ich bin nur der Knochensäger. Die Postmortem-Hypostase weist darauf hin, dass die Tote die meiste Zeit in dieser Haltung gelegen hat. Die Leichenflecken sind relativ stark fixiert, was mich zu der Annahme führt, dass sie sehr früh nach ihrer Ermordung bewegt wurde. Sie wissen sicher, wovon ich rede?« Erneut gingen die schwarzen Augenbrauen in die Höhe.
»Selbstverständlich, Doc. Beim Eintritt des Todes hört das Blut auf zu zirkulieren und sammelt sich an den tiefsten Stellen des Körpers, wodurch sich rosafarbene bis dunkelrote Flecken bilden. Nach relativ kurzer Zeit bleiben sie permanent. Sie müssten unter der Leiche sein. Falls nicht, falls sie an den Seiten oder oben sind, dann wurde die Tote bewegt.«
»Ja. Sicher. Sie wissen also Bescheid. Natürlich. Im Allgemeinen stimmt das, was Sie sagen, auch wenn wir heute den Leichenflecken nicht mehr ganz so viel Aufmerksamkeit widmen wie noch vor einigen Jahren. Doch im Prinzip stimmt das, was Sie sagen, und es ist auch heute noch richtig. Die Tatsache, dass die Tote an einem so kalten Ort gelegen hat, mag eine Erklärung sein für die tiefrote Verfärbung der Leichenflecken. Sie hat übrigens kurz vor ihrem Tod noch eine Mahlzeit zu sich genommen.«
»Wissen wir, was sie gegessen hat?«
»Wahrscheinlich frittiertes Zeug. Der Fettgehalt im Magen ist relativ hoch. Fleisch, Kartoffeln, irgendein Salat. Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, Steak und Pommes frites, mit einem Salat dazu. Die Art von Mahlzeit, die man in einem Pub bekommt.« Palmer grinste erneut. »Und es gibt Hunderte von Pubs in Gloucestershire, die Steak mit Pommes und Salat servieren.«
Womit er leider Recht hatte. »Sie wurde um fünf Uhr nachmittags gefunden«, sinnierte Jess laut. »Wenn wir dreißig Stunden abziehen, dann sind wir am Tag vorher in der Mittagszeit. Vielleicht hatte sie eine Verabredung, und er führte sie in einen örtlichen Gasthof. Wir müssen herumfragen, denke ich. Es ist ein guter Anfang. Danke, Tom.«
»Hey – es war nur eine Vermutung, weiter nichts!«, erwiderte Palmer hastig. »Ich kann mich auch irren.«
»Irgendwo müssen wir anfangen, Doc. Was ist mit ihren Habseligkeiten? Irgendetwas darunter, was uns bei der Identifikation helfen könnte?«
Palmer deutete auf die ordentlich in Plastiktüten verpackten und beschrifteten Dinge in einem Regal an der Wand. »Ich glaube nicht, dass Sie damit viel Freude haben werden«, sagte er. »Tut mir leid.« Er ging zum Regal, und Jess folgte ihm.
Einmal mehr ging Jess eine Liste im Kopf durch, während ihr Blick über die Kleidungsstücke schweifte. Kein Schmuck, keine Armbanduhr, kein Notizbuch, kein Handy, keine Geldbörse, nichts. Absolut überhaupt nichts, nicht einmal ein Lippenstift. Jess runzelte die Stirn.
»Eigenartig«, murmelte sie. »Sind Sie sicher, dass das alles ist?«
Tom Palmer nickte düster. »Ich fand es ebenfalls etwas merkwürdig. Sie hat kein Geld. Jeder hat Geld bei sich, entweder in Form von Kreditkarten oder Bargeld.«
»Der Täter – ich sage der Einfachheit halber Täter, aber ich habe nicht vergessen, dass Sie auch eine Frau in Betracht ziehen – hat die Leiche offensichtlich durchsucht und sämtliche persönlichen Dinge entfernt. Er ist eiskalt, meinen Sie nicht? Keine Spur von Panik. Die meisten Leute würden in Panik ausbrechen, sobald ihnen klar wird, dass sie jemanden versehentlich erwürgt haben. Nicht so dieser hier. Andererseits glaube ich nicht, dass er, wie Sie meinen, fünf Stunden lang mit dem Wagen durch die Gegend gefahren ist, um nach einem Platz zu suchen, wo er sich seines Opfers entledigen könnte. Viel zu lang. Zwei Stunden, vielleicht auch drei, aber fünf? Bestimmt nicht. Er hat sie irgendwo hingebracht, wo er warten konnte, bis die Luft auf der Farm seiner Meinung nach rein war. Wobei ich für den Augenblick davon ausgehe, dass sein Motiv nichts mit Raub zu tun hat. Ein Räuber hätte sie liegen gelassen, wo sie war, und Fersengeld gegeben.«
»Das ist nichts, wozu ich etwas sagen könnte«, meinte Palmer. Er war plötzlich vorsichtig geworden. »Mord oder Totschlag? Das sollen Sie und der Anwalt der Krone herausfinden.«
»Schon gut, ich weiß. Ich bin die Ermittlerin.«
Vor ihrem geistigen Auge entwickelte sich ein mögliches Szenario.
Er führt sie zum Essen aus. Sie ist glücklich. Vertrauensvoll … Irgendwie überredet er sie, mit ihm zu einer einsamen Stelle zu fahren, wo er sie dann umbringt. Es muss ein Dutzend einsamer Stellen im näheren Umkreis der Farm geben. Er wartet bis zum Abend, nimmt ihr sämtliche persönlichen Dinge ab, legt sie in den Kuhstall, wirft ihren Mantel über sie und, weil er nicht groß genug ist, noch einen Sack dazu, dann macht er sich aus dem Staub. Nein, das ist kein Totschlag. Das ist eiskalter Mord, mit dem wir es hier zu tun haben.
Aber … ist der Mann im silbernen Mercedes der Täter? Hat er kalte Füße bekommen, nachdem er die Leiche hier zurückgelassen hatte? Ist er zurückgekehrt, um noch einmal nachzusehen? War er überrascht, dass noch niemand sie gefunden hatte? Konnte er sich einfach nicht fernhalten …?
»Ihre Kleidung sieht aus wie neu, wenn Sie mich fragen«, sagte Palmer in diesem Augenblick und stocherte mit dem Finger im nächsten Plastikbeutel. »Andererseits bin ich kein Experte für Damenbekleidung.«
»Die Sachen sehen tatsächlich aus wie neu«, pflichtete Jess ihm bei.
Die Frage ist also, hat sie in letzter Zeit unerwartetes Geld bekommen? Hat der Mann, der sie zum Essen eingeladen hat, auch die neuen Sachen bezahlt? Hat sie einen neuen Job angetreten mit besserem Lohn? War sie eine Studentin mit einem Nebenjob, dass sie sich die Sachen leisten konnte?
Jess nahm den Beutel mit dem pinkfarbenen Mantel auf.
»Das ist das markanteste Kleidungsstück, und ich würde sagen, auch das teuerste. Damit gehen wir an die Öffentlichkeit. Wir bringen ein Bild in der Presse, und mit ein wenig Glück im Fernsehen.« Für einen Moment stand sie mit dem Plastikbeutel in der Hand stirnrunzelnd da.
»Ich würde trotzdem gerne wissen, warum er sie so nah beim Eingang von diesem Kuhstall hingelegt hat. Als hätte er gewollt, dass man sie findet. Es gibt ein Dutzend bessere Verstecke auf der Farm.«
»Haben Sie je versucht, einen Leichnam zu bewegen?«, fragte Palmer. »Ich kann Ihnen eins verraten – es ist verdammt schwer. ›Totes Gewicht‹ ist nicht nur so ein dahergesagter Ausdruck. Vielleicht hat er sie bis zum Eingang geschleppt und konnte nicht mehr weiter. Man braucht nicht viel Kraft, um jemanden zu erwürgen, eher Ausdauer und Beharrlichkeit. Aber um jemanden über die Farm zu schleifen … vielleicht war er nicht stark genug.«
»Oder es war kein Er«, sagte Jess. »Vielleicht war es eine Sie.«
Die Neuigkeit von der »Toten im Kuhstall« war raus. Später an jenem Nachmittag hielten Superintendent Carter und Jess Campbell eine hastig einberufene Pressekonferenz ab und baten die Öffentlichkeit um Mithilfe bei der Identifikation des Opfers. Sie gaben Photographien des rosafarbenen Mantels heraus.
Sie war eine kleine, stämmige junge Frau mit einem Schopf gelbbrauner Haare und rauchgrauen Augen. Phil Morton meinte fast, den Rauch aus ihnen aufsteigen zu sehen. Er wünschte, sie würden ihn ein wenig freundlicher ansehen. Es war Mittwochmorgen.
»Miss Svo-bo-dova …« Er brach ab.
Sie beugte sich vor, und ihre Aggressivität nahm unverkennbar zu. »Svobodová!«, verbesserte sie ihn.
»Ich war noch nie gut mit Fremdsprachen«, gestand Morton.
Sie starrte ihn an, als glaubte sie ihm.
Er versuchte es erneut. »Svobod-ova …« Er hob die Hand. »Sie müssen sich wohl damit abfinden, wie ich es ausspreche, okay? Oder darf ich Sie einfach Milada nennen? Das wäre leichter für mich.«
»Sie können mich nennen, wie Sie wollen!«, sagte sie. »Aber schneiden Sie dabei nicht so eine Grimasse!«
»Hab ich doch gar nicht!«, protestierte Morton in dem unbehaglichen Gefühl, dass die Rollen bei dieser Befragung vertauscht sein könnten.
»Haben Sie doch. Sie können sich nicht selbst sehen. Ich kann Sie sehen. Haben Sie einen Namen, Sergeant?«
»Morton«, antwortete er.
»Tsss, tsss.« Sie winkte ärgerlich ab. »Ist das Ihr Vorname? Sie wurden doch getauft, oder?« Sie starrte ihn zweifelnd an.
»Ja, ich wurde getauft!«, schnappte Morton. »Ich heiße Philip, wie mein Dad.«
»Gut, na dann. Wenn ich Philip Morton sagen kann, ohne eine Grimasse zu schneiden, dann können Sie mir die gleiche Höflichkeit erweisen, meinen Sie nicht?«
»Was können wir für Sie tun, Milada?«, fragte Morton müde. »Sie sagen, Sie wollen mit einem Beamten über die unbekannte Tote reden, die vor einigen Tagen gefunden wurde?«
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Ihr aufsässiger Gesichtsausdruck wich Traurigkeit, als sie Morton jetzt ansah. Sie hatte volle, wohlgeformte Lippen, die sie nach unten verzog, und Morton wünschte sich einmal mehr, aus einem Grund, den er nicht zu artikulieren vermochte, sie würden sich nach oben biegen und ihn anlächeln. Und er wünschte, dass sich dieses Lächeln in den grauen Augen widerspiegelte.
»Sie war meine Freundin«, sagte sie leise. »Ich bin ganz sicher.«
»Wieso denken Sie das?«
»Sie ist verschwunden. Ich kann sie nirgends finden. Ich muss ihre Schicht zusätzlich zu meiner arbeiten.«
Morton nahm einen Stift und zückte sein Notizbuch. »Wo genau arbeiten Sie beide, und wie lautet der Name Ihrer Freundin?« In seine Stimme schlich sich ein besorgter Unterton.
»Eva Zelená«, antwortete sie. »Wir wohnen und arbeiten beide im Foot to the Ground. Das ist ein Pub und ein Restaurant. Ich weiß, es ist ein eigenartiger Name, aber …« Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist auf dem Land, und es ist sehr einsam dort, aber es kommen viele Gäste.«
»Ich glaube, ich kenne das Lokal«, sagte Morton. »Oder zumindest weiß ich, wo es ist. Es heißt, das Essen soll sehr gut sein, aber auch recht teuer. Wie lange arbeiten Sie beide schon dort?«
»Eva hat vor mir angefangen. Als ich kam, war sie schon, äh, zwei Monate dort. Glaube ich. Ich arbeite jetzt seit fast drei Monaten dort, also ist Eva seit fünf Monaten im Foot to the Ground.«
»Und Sie beide wohnen dort? Oder wo genau?«
»Oh, ja. Wir wohnen unter dem Dach. Wir haben ein gemeinsames Zimmer. Es ist groß, es zieht sich fast durch die gesamte Länge des Dachbodens, und an einem Ende gibt es eine kleine Dusche, die wir uns teilen. Es ist wirklich ganz nett dort.«
»Und wann genau haben Sie Miss Zelená zum letzten Mal gesehen?«
»Vergangene Woche, am Donnerstag vor dem Frühstück. Sie hatte ihren freien Tag. Sie war früh aufgestanden und wollte nach Cheltenham fahren. Ich habe sie gefragt, wie sie denn dorthin kommt. Verstehen Sie, das Foot to the Ground ist meilenweit abgelegen von allem. Es gibt nicht mal einen Bus!« Sie blickte entrüstet drein.
Es schien ihr natürlicher Gesichtsausdruck zu sein, dachte Morton. Trotzdem hatte er das Gefühl, sich für die unzureichenden Buslinien auf dem Land entschuldigen zu müssen. »Das ist heutzutage überall so, fürchte ich.«
»Jedenfalls, Eva hat gesagt, jemand würde sie mitnehmen. Ein Bekannter, der nicht weit weg wohne und ebenfalls nach Cheltenham wolle. Sie sollte um neun Uhr unten an der Straßenecke sein, wo dieser Bekannte sie aufsammeln würde. Das Foot to the Ground liegt an einer schmalen Straße, die nach ein paar Hundert Metern in eine breitere Straße mündet, die nach Cheltenham führt.«
»Ja …«, sagte Morton. »Ja, ich erinnere mich. Ich kenne die Stelle. Ja, ich kenne auch das Foot to the Ground. Aber ich war schon länger nicht mehr da. Ich habe Sie nicht dort gesehen. Und das tote Mädchen aus dem Kuhstall auch nicht.« Doch er war seit wenigstens einem halben Jahr nicht mehr in diesem Pub gewesen. Damals hatte noch keine der beiden jungen Frauen dort gearbeitet. Schade, dass er so lange nicht mehr dort gewesen war. Vielleicht hätte er Milada etwas weniger kratzbürstig kennen gelernt.
»Diese Person«, berichtete Milada weiter, »dieser Bekannte wollte sie auch am Abend wieder mit zurücknehmen und an der Straßenecke absetzen. Aber sie kam nicht, und Mr. Westcott ist sehr wütend deswegen. Er sagt, sie wäre einfach abgehauen. Aber ich weiß, dass sie nicht abgehauen ist.«
»Mr. Westcott?«
»Der Besitzer des Lokals. Ich habe ihm gesagt, ganz bestimmt ist Eva nicht abgehauen, weil sie mir erzählt hätte, wenn sie weggewollt hätte. Außerdem hat sie all ihre Sachen dagelassen und …« Milada kramte in ihrer Umhängetasche und brachte ein kleines Büchlein zum Vorschein. »… und ihren Pass. Sie hat ihren Pass dagelassen! Sie wäre bestimmt nicht ohne Pass weggelaufen!«
»Ah, was ist denn das?«, fragte Morton, indem er den Pass entgegennahm. »Das ist interessant. Tschechische Republik, wie? Sie kommen ebenfalls aus Tschechien?«
Sie nickte.
Er öffnete den kleinen Reisepass und studierte das Photo. Es konnte die Tote sein, doch das Bild stammte aus glücklicheren Zeiten, und das Gesicht der Toten in seiner Erinnerung war verzerrt und farblos gewesen.
»Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte er, »dann behalten wir diesen Pass. Ich werde Ihnen eine Quittung ausstellen, und falls Ihre Freundin wieder auftaucht, geben Sie ihr diese Quittung. Damit kann sie herkommen und sich ihren Pass zurückholen, einverstanden?«
»Behalten Sie den Pass!«, rief Milada ungeduldig. »Eva hat keine Verwendung mehr dafür. Sie ist tot, und sie kommt nicht zurück!«
»Ein paar Tage ohne Vorwarnung zu verschwinden ist eine Sache«, erwiderte Morton. »Aber tot … das ist eine ganz andere Geschichte. Hat sie einen Freund?«
Milada schürzte die Lippen und neigte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Vielleicht. Ich denke schon, ja. Aber ich weiß nicht, wie er heißt oder wer er ist. Sie hat es nicht gesagt. Aber sie ist ein paar Mal zu dieser Straßenecke gegangen, wenn sie ihren freien Tag hatte, und dieser Bekannte hat sie dort abgeholt.«
»Haben Sie den Wagen gesehen?«, fragte Morton hoffnungsvoll.
»Nur einmal. Ich war draußen vor dem Lokal und hab zur Straßenecke gesehen, weil es angefangen hatte zu regnen. Ich wollte sehen, ob Eva noch dasteht und wartet. Genau in diesem Moment kam ein silberner Wagen vorbei. Es waren zwei Leute drin. Ich glaube, Eva saß auf dem Beifahrersitz. Den Fahrer konnte ich nicht erkennen.«
»Was für eine Marke?«, fragte Morton drängend. »Wissen Sie vielleicht, was für eine Marke es war?«
»Nein. Ich kenne mich nicht aus mit Autos. Nur Skoda.«
»BMW? Renault? Mazda? Toyota? Mercedes …?« Morton betonte den letzten Namen; er war sich bewusst, dass er die Zeugin zu einer Aussage verführte, doch es gab keinen Richter in der Nähe, der ihn hören konnte.
Milada schüttelte nur den Kopf und machte seine Hoffnungen zunichte. »Alles ausländische Wagen. Ich kenne nur Skoda.«
»War es ein großer Wagen? Oder ein kleiner?«
»Nicht sehr groß.«
Verdammt. Das klang ganz und gar nicht nach dem mysteriösen Mercedes, den sie suchten. Andererseits, aus einer Entfernung von mehr als hundert Metern war Milada der Wagen vielleicht kleiner vorgekommen. Sie kannte sich schließlich nicht aus mit den verschiedenen Marken.
»Warum hat Eva Ihrer Meinung nach nicht über ihren Freund mit Ihnen geredet?«, fragte er.
Milada zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Sie war eine stille Person. Und es war ihre Angelegenheit; es ging mich nichts an.«
»Zehn zu eins, dass er verheiratet ist«, sagte Morton eine kleine Weile später zu Jess Campbell. »Zumindest ist er vorsichtig wie ein Ehebrecher. Er trifft sich am Ende der Straße mit ihr, obwohl er ohne Probleme bis zum Lokal vorfahren und sie dort einsteigen lassen könnte. Selbst im Regen muss sie zur Straßenecke laufen. Er wollte nicht gesehen werden, und sicher hat er ihr gesagt, mit niemandem zu reden und seinen Namen nicht zu verraten.«
Jess musterte das Passbild von Eva Zelená. »Neunzehn Jahre alt«, murmelte sie. »Das Alter ist ungefähr richtig, und sie sieht unserer Toten ähnlich. Andererseits sehen viele Mitteleuropäerinnen so aus. Wir müssen jemanden finden, der sie persönlich kannte, damit er die Leiche identifizieren kann. Wäre Miss Svobodová vielleicht dazu bereit, was meinen Sie?«
Morton blickte zweifelnd drein. »Könnten wir nicht den Besitzer dieses Lokals fragen, diesen Westcott? Er war schließlich ihr Arbeitgeber. Es wäre keine angenehme Sache für Milada, ich meine Miss Svobodová, die Leiche zu identifizieren, insbesondere nicht, wo es doch ihre Zimmergenossin ist. Sie hatten ein gemeinsames Zimmer über dem Lokal. Stellen Sie sich vor, wie es sein muss, abends das Licht auszuschalten mit einem leeren Bett im Raum und dem Bild einer Leiche im Kopf.«
Es geschah selten, dass Phil Morton so besorgt war um das Seelenleben anderer. Vielleicht war Milada Svobodová eine Frau wie Penny Gower: eines von diesen zerbrechlich scheinenden Wesen, die bei Männern einen Beschützerinstinkt weckten (und die in Wahrheit so zäh und hart waren wie ein alter Stiefel). Herrgott, Jess! Hör auf, solche Dinge zu denken!
»Hm. Ich muss hinfahren und mit Westcott reden und mit jedem anderen, der die vermisste Person kennt. Aber da sie noch nicht lange vermisst wird und trotz aller Ähnlichkeit mit diesem Bild hier …«, Jess wedelte mit dem Pass, »… und trotz allem, was uns unsere Informantin erzählt hat, könnte sie immer noch jederzeit wieder auftauchen. Falls sie einen Freund hat, sind sie vielleicht zusammen für ein paar Tage nach Wales durchgebrannt, wer weiß?«
»Nicht, wenn dieser Freund verheiratet ist«, entgegnete Morton.
»Und wenn seine Frau zu Besuch bei ihrer kranken Mutter ist oder etwas in der Art? Es gibt ein Dutzend Gründe, warum er eine unerwartete Gelegenheit findet, ein paar Tage mit seiner Geliebten zu verbringen. Ja, das Mädchen auf diesem Passphoto sieht aus wie unsere Tote, aber das könnte Zufall sein. Die andere Möglichkeit wäre Mädchenhandel. Sie ist jung, sie ist hübsch, und sie ist Ausländerin und ohne Familie hier in England. Jemand könnte sich mit bösen Absichten an sie herangemacht haben. Sie wäre nicht die erste junge Ausländerin, die zur Prostitution gezwungen wurde. Wie dem auch sei, ich fahre raus zum Foot to the Ground und rede mit dem Wirt.«
»Ich könnte das erledigen«, erbot sich Morton. »Milada muss irgendwie nach Hause zurück. Sie wartet immer noch unten, bei einer Tasse Tee. Sie ist per Anhalter hergekommen, mit einem Lieferwagen, der regelmäßig das Restaurant beliefert, und sie muss selbst für ihren Heimweg sorgen.«
»Dann rede ich jetzt mit ihr«, entschied Jess und erhob sich. »Und anschließend fahre ich sie nach Hause.«
Morton blickte enttäuscht drein.
»Ich will sehen, wo die vermisste junge Frau wohnt, und ich will mit ihren Kolleginnen reden und ihrem Boss, diesem Westcott. Kopf hoch, Phil. Ich bin sicher, Sie werden Milada wiedersehen.«
»Das ist das Foot to the Ground!«, erklärte Milada mit Besitzerstolz in der Stimme und deutete mit ausholender Geste auf das niedrige, langgestreckte Gebäude.
Es war ein altes Haus auf dem Kamm eines Hügels in einer rollenden Landschaft mit herrlichem Ausblick auf grasbewachsene Hänge und dichte Wälder. In der Ferne weitere Wälder am Horizont wie eine herannahende Armee, die sich über die Hügelkämme ergoss. Die Straße, an der das Lokal stand, war wenig mehr als ein Weg, obwohl früher einmal wahrscheinlich eine Landstraße. Es war eine ruhige Gegend, keine Frage, doch auf dem Weg hierher waren sie an einer Reihe verstreut liegender Cottages und ein oder zwei älteren Häusern vorbeigekommen, kaum zu erkennen in der Landschaft und verborgen hinter hohen Steinmauern und schmiedeeisernen Toren. Kurz vor dem Lokal stand eine weitere Reihenhaussiedlung aus grauem Stein. Dahinter ein leerstehendes, vernageltes Gebäude, das aussah wie eine nicht anglikanische Kapelle aus der Zeit um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und das nun langsam verfiel. Merkwürdig, dass niemand sie für billiges Geld gekauft und zu einer extravaganten, kostspieligen Residenz umgebaut hatte. Früher musste es eine blühende Gemeinde gegeben haben. Eine Gemeinde gab es zwar immer noch, doch Jess fragte sich, wie viele der Cottages heutzutage nur noch Zweitwohnungen waren, Wochenendhäuser von wohlhabenden Städtern. Es gab nicht viele Zeichen von Leben.
Wie viele alte Pubs war das Foot to the Ground im Verlauf der Jahrhunderte unzählige Male umgebaut und erweitert worden. Die verschiedenen Anbauten passten nicht zusammen und ergaben dennoch ein chaotisches, attraktives Ganzes. Ein Architekt hätte sicherlich seine Freude daran gehabt, die mittelalterlichen oder georgianischen Teile herauszusuchen; selbst Jess war imstande, die viktorianischen oder edwardianischen äußeren Installationen zu erkennen.
»Unsere Küche ist wirklich ganz ausgezeichnet«, beharrte Milada, indem sie kräftig Werbung für ihren Arbeitgeber machte.
Jess hatte schnell gemerkt, dass Phil Mortons Wunsch, Miss Svobodovás Gefühle zu schonen, nicht auf der scheinbaren Zerbrechlichkeit der jungen Frau beruhte. Ihr Verhalten erinnerte weniger an ein klammerndes Weibchen als vielmehr an eine Suffragette. Pass auf, Phil, dass du dir nicht die Finger verbrennst.
»Sergeant Morton sagt, es wäre ein teures Lokal.«
Auf Miladas Gesicht spiegelte sich der Widerstreit zwischen dem Wunsch, ihr Lokal zu preisen, mit der angeborenen slawischen Sparsamkeit. »Die Engländer geben für alles Mögliche viel Geld aus«, sagte sie unwiderlegbar. »Ich denke, schon allein deswegen sollte es ihnen nichts ausmachen, viel für ein richtig gutes Essen zu bezahlen. Sie bezahlen schließlich schon für schlechtes Essen viel Geld.«
Stimmt vollkommen.
»Sie haben Recht«, räumte Jess ein.
Milada musterte sie abschätzend. »Der Fisch ist ganz besonders gut und immer frisch.«
»Und Sie sind eine ganz besonders gute Kellnerin«, entgegnete Jess. »Ist Mr. Westcott um diese Zeit schon hier, was meinen Sie?«
Milada blickte auf ihre Uhr. »Die Bar hat geöffnet. Er ist also hier. Ich sollte auch schon seit einer halben Stunde hier sein. Werden Sie ihm erklären, dass es nicht meine Schuld ist? Dass ich zu spät komme, meine ich?«
Im Innern des Lokals herrschte Dämmerlicht. Ein paar Lichter an der Wand waren eingeschaltet worden, um die dunkleren Ecken zu erhellen. Der Boden war mit unebenen Schieferplatten ausgelegt, ein oder zwei Jahrhunderte alt, und der größte Teil des Mobiliars sah aus, als habe er ebenfalls schon eine Reihe von Jahren hinter sich. Doch alles war auf Hochglanz poliert, Holz und Messing gleichermaßen. Es sah einladend aus, und trotz der offiziellen Natur ihres Besuchs wanderten Jess’ Blicke unwillkürlich zu der Tafel, auf der mit Kreide die Spezialitäten des Tages standen.
Ein großer, dünner Mann mit Schnurrbart tauchte hinter der Theke auf und musterte Jess fragend.
»Das ist Mr. Westcott«, murmelte Milada hinter ihr. Lauter und an ihren Arbeitgeber gewandt erklärte sie: »Die Polizei!«, indem sie mit ausholender Geste auf Jess deutete wie ein Magier, der soeben ein Kaninchen aus seinem Zylinderhut gezaubert hat.
»Oh nein, was hast du nur jetzt schon wieder angestellt, Milada!«, stöhnte Westcott. »Kommen Sie, Officer, wir gehen besser in mein Büro.«
»Inspector«, verbesserte Jess ihn.
»Ich will verdammt sein!«, rief Westcott.
Er führte Jess in ein winziges, vollgestelltes Büro und zog einen Windsorsessel für sie heran.
»Ich wusste, dass Milada zur Polizei gehen würde«, sagte er. »Es tut mir wirklich ausgesprochen leid, dass sie Sie belästigt hat. Ich habe versucht, es ihr auszureden.«
»Haben Sie? Aber warum denn?«, fragte Jess.
»Selbstverständlich habe ich. Weil alles Unsinn ist! Milada bildet sich das alles nur ein. Verstehen Sie, diese tote Frau, die man auf einer der Farmen hier in der Umgebung gefunden hat – das ist nicht Eva. Es kann nicht sein.« Westcott quetschte sich in eine Ecke auf einen wackligen Barhocker, der wahrscheinlich deswegen hierher gebracht worden war, damit kein Gast herunterfallen konnte.
Jess glaubte, sich denken zu können, warum Westcott so entschieden bestritt, dass die Tote seine verschwundene Kellnerin war. Schlechte Publicity. Er wollte nicht, dass die Polizei in sein Lokal kam und die Gäste ausfragte. Denn genau das würde passieren, sollte sich herausstellen, dass die Tote doch Eva war.
»Ich verstehe Ihre Situation«, begann sie vorsichtig. Sie wollte den Mann nicht verärgern. Noch nicht, heißt das. Sie wollte ihm jede Chance geben, sich kooperativ zu zeigen. »Ich verstehe sehr gut, dass es ein besorgniserregender Gedanke für Sie ist. Doch Eva ist verschwunden, und sie hat ihren Pass zurückgelassen und all ihre Sachen, wie Milada sagt.«
»Oh, sie wird jemanden herschicken, um alles abzuholen, sobald ihr danach ist. Sie hat wahrscheinlich einen neuen Job, das ist alles.«
»Hat sie gerne hier gearbeitet?«
»Sie wurde gut bezahlt, und die Arbeit ist nicht besonders anstrengend!«, sagte Westcott hastig. »Aber das Lokal liegt ein wenig abseits, und sie hatte kein eigenes Transportmittel. Sie hat sich oft darüber beschwert. Zehn zu eins, dass sie jetzt in Cheltenham arbeitet. In ein oder zwei Wochen spaziert sie hier herein, tut, als wäre nichts gewesen, und holt ihre Sachen. Sie wissen ja selbst, wie diese jungen Leute heutzutage sind.«
»Wenn ich recht informiert bin«, sagte Jess, »dann wurde Eva regelmäßig unten am Ende der Straße von jemandem abgeholt, der möglicherweise einen silbernen Mercedes fährt?«
»Die Mädchen hauen jeden um eine Mitfahrgelegenheit an. Ich habe sie selbst oft nach Cheltenham gebracht.«
»Einige Ihrer Gäste vielleicht auch, gelegentlich?«
Vorsicht spiegelte sich auf seiner Miene. »Äh, nun ja, woher soll ich das wissen? Offen gestanden, Inspector, ich bin nicht erfreut, wenn Sie meine Gäste befragen. Sie wollen keine persönlichen Fragen beantworten, die klingen, als würde man ihnen etwas unterstellen, wenn Sie verstehen. Meine Frau und ich haben hart gearbeitet für den guten Ruf unseres Restaurants. Das Geschäft geht gut, und ich bitte um Verzeihung, aber die Polizei, die während der Essenszeiten von Tisch zu Tisch geht und von jedem wissen will, wann er wo gewesen ist, ist wirklich das Letzte, was wir gebrauchen können.«
»Falls es sich um Mord handelt, muss ich leider jedem diese Fragen stellen, Mr. Westcott. Und glauben Sie mir, wir tun unser Bestes, taktvoll zu sein.«
»Ich sage Ihnen, es ist kein Mord!«, beharrte der Restaurantbesitzer. »Das ist nichts weiter als ein Hirngespinst von Milada! Sie ist so verdammt störrisch, unsere Milada. Man kann einfach nicht mit ihr reden!«
»Haben Sie es versucht?« Jess stellte sich vor, wie es abgelaufen war.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich es versucht habe! Sie wollte sich nicht beruhigen lassen. Sie wollte zur Polizei, stur wie ein Panzer. Reine Zeitverschwendung – ist das eigentlich kein Vergehen? Wie dem auch sei, Eva ist nicht tot. Sie hat sich aus dem Staub gemacht, und sie hatte sicherlich ihre eigenen guten Gründe dafür.«
»Welche Gründe?«, hakte Jess augenblicklich nach.
Westcott zog die Augenbrauen zusammen. »Woher soll ich das wissen? Sobald Sie – die Polizei – anfangen, Fragen zu stellen, werden selbst die einfachsten Antworten verdreht und klingen so, als würde man irgendetwas verbergen wollen. Aber das tue ich nicht! Niemand hier tut das. Woher soll ich wissen, was im Kopf eines neunzehn Jahre alten Mädchens vorgeht, das in meinem Lokal kellnert?«
»Wie war ihr Englisch? Hat sie die Sprache beherrscht? Milada spricht ausgezeichnet Englisch.«
»Es war gut. Gut genug jedenfalls. Sie alle sprechen gut genug Englisch für diese Arbeit hier. Sie war nicht dumm. Ich meine, mich zu erinnern, wie sie erzählt hat, dass ihr Vater daheim Lehrer gewesen ist oder Professor oder irgendetwas in der Art. Sie ist nach England gekommen, um ihr Englisch zu verbessern. Aber das erzählen sie alle. In Wahrheit kommen sie, weil sie hier mehr Geld verdienen können als zu Hause.«
»Bezahlen Sie die Mädchen gut?«
»Wir zahlen den Standardlohn. Allerdings dürfen Sie nicht vergessen, dass ein in unseren Augen bescheidener Lohn für sie eine ganze Menge Geld ist. Sie kommen aus einer anderen Volkswirtschaft.«
Die Engländer geben für alles Mögliche viel Geld aus …
»Könnte ich ihr Zimmer sehen?«, fragte Jess unvermittelt.
Westcott wirkte erleichtert, dass sie ihr Interesse von ihm wegverlagert hatte. »Selbstverständlich. Milada hat ihre Sachen auch dort oben. Die beiden haben sich das Zimmer geteilt.«
»Ich frage Milada, ob es ihr etwas ausmacht«, sagte Jess, indem sie sich rasch erhob und vor ihm her die Bar durchquerte, sodass er keine Gelegenheit hatte, vorher mit Milada zu reden.
Milada hatte die Zeit genutzt, um sich umzuziehen. Sie trug jetzt eine blaue Hose und ein blaues T-Shirt, auf dem in großen Lettern der Name des Lokals prangte.
»Ich bringe Sie rauf!«, sagte sie sofort und verließ ihren Posten hinter dem Tresen, um eine schmale Treppe im hinteren Teil des Raums hinaufzusteigen.
»Heh!«, rief Westcott ihr hinterher. »Was ist mit deiner Kundschaft?«
»Ich bin gleich wieder da! Sie können die Bar sicher für drei Minuten alleine halten«, rief Milada ohne jeden erkennbaren Respekt für ihren Chef zurück.
War Eva auch so burschikos mit ihm umgesprungen?
Das Zimmer war genau so, wie Milada es beschrieben hatte, ein ausgebauter Dachboden, der sich über die gesamte Länge dieses Gebäudeflügels erstreckte. Die Decke war niedrig und holzverkleidet. Der Laminatboden im Kiefernholzdesign war erst vor kurzem verlegt worden und sah noch neu aus. Der Raum war großzügig. Die beiden Betten standen nicht nah beieinander, und unter den Traufen hatten zwei Schränke Platz.
»Das hier ist meiner«, sagte Milada und deutete auf einen davon. »Und der dort gehört Eva. Sehen Sie?« Sie riss schwungvoll die Türen auf. »Alle Kleider noch da. All ihre Sachen.«
Sie rannte zu einem der Betten und nahm eine kleine gerahmte Photographie vom Nachttisch. »Sehen Sie! Ihre Eltern. Sie hat das Bild von ihren Eltern stehen lassen.« Sie riss die kleine Schublade auf. »Und hier … Ohrringe, Halskette …« Milada nahm die Gegenstände aus der Schublade und hielt sie Jess hin, während sie redete. »Sie hat sogar ihre Pille dagelassen.«
»Ihre Pille?« Rasch trat Jess vor und nahm das kleine Päckchen.
Antibabypillen. Eva hatte entweder einen Freund gehabt, oder freizügige sexuelle Begegnungen. Jess bevorzugte die erste Möglichkeit. Die Antibabypille musste regelmäßig eingenommen werden. Sie war nicht einfach einer Laune folgend weggerannt, wie Westcott die Polizei glauben machen wollte. Sie hätte zumindest diese Pillen mitgenommen, genau wie ihren Schmuck und wahrscheinlich auch ihr Familienphoto. Jess nahm es zur Hand und betrachtete es. Sie fühlte sich an ihr eigenes Familienphoto erinnert, das sie erst vor so kurzer Zeit daheim in ihrer Wohnung betrachtet hatte. Mit einem Schlag war das verschwundene Mädchen real, nicht mehr nur ein Name. Und wenn es die Tote von der Cricket Farm war, dann würde dieses Ehepaar auf dem Photo, würden diese freundlich dreinblickenden, stolzen Eltern, vor den Scherben ihres Lebens stehen.
»Ich sehe mich noch ein wenig um, wenn Sie nichts dagegen haben. Sie gehen besser wieder runter in die Bar«, sagte sie zu Milada. »Ich glaube, Mr. Westcott ist ein wenig verärgert.«
»Keine Sorge, das kriege ich hin«, erwiderte Milada ernst. Trotzdem verließ sie das Zimmer, und Jess hörte, wie sie laut die nackte Holztreppe hinunterrannte.
Jess blickte sich um und ging zu einer Tür auf der anderen Seite. Sie führte in ein kleines Duschbad mit Toilette und Waschbecken. Auf einem Regal stand ein Durcheinander von Make-up und Kosmetika: mehrere kleine Fläschchen Nagellack in verschiedenen Rosa-Tönen, Shampoo, Haarspray und Velcro-Lockenwickler. All das, was man zu finden erwartete: ein Schnappschuss aus dem Leben eines Teenagers. Sie fragte sich, wie viel von alledem Eva gehörte. Auf der Ablage über dem Waschbecken standen zwei Gläser mit Zahnbürsten darin. Jess nahm die Gläser mit einem Taschentuch hoch und hielt sie ins Licht. Die blaue Zahnbürste glänzte feucht. Sie war erst kürzlich benutzt worden und gehörte offensichtlich Milada. Die andere, rosafarben, war knochentrocken. Evas Zahnbürste.
In ihrer Magengrube bildete sich ein Eisklumpen. Irgendwie wusste sie, dass die Tote von der Cricket Farm die verschwundene Kellnerin aus dem Foot to the Ground war. Sie hätte Befriedigung verspüren müssen, dass es so schnell gelungen war, die Tote zu identifizieren, doch sie verspürte nichts außer Niedergeschlagenheit.
Sie kramte in ihrem kleinen Rucksack, nahm einen Asservatenbeutel hervor und schob das Glas mitsamt Zahnbürste hinein. Das sollte reichen für einen verwendbaren Fingerabdruck und vielleicht eine DNa-Analyse von der Zahnbürste. Allerdings würde das eine Weile dauern – die Auswertung des Fingerabdrucks war viel schneller. Sie ging zu den Gaubenfenstern, die hinaus auf den Hof hinter dem Lokal zeigten. Tische und Bänke bildeten einen kleinen Biergarten; vor dem Rauchverbot war er wahrscheinlich nur in den warmen Sommermonaten genutzt worden. Heutzutage wurde er das ganze Jahr hindurch von unverbesserlichen Rauchern benutzt. Vielleicht war aus diesem Grund der Heizstrahler installiert worden, bereit für die kalte Jahreszeit.
Im Augenblick war niemand draußen außer einem jungen Mann in der gleichen »Uniform« wie Milada, was ihn als Angestellten des Lokals auswies. Als habe er gespürt, dass er von oben beobachtet wurde, hob er den Blick und entdeckte Jess. Einen Moment lang starrten sie einander in die Augen, dann wandte er den Kopf zur Seite und ging irgendeiner Arbeit nach.
Jess war fertig. Sie stieg die Treppe hinunter und kehrte in die Bar zurück. Das Lokal hatte sich zwischenzeitlich gefüllt, und sie fragte sich, ob es daran lag, dass die Nachricht von den jüngsten Ereignissen inzwischen die Runde gemacht hatte. Für eine so dünn besiedelte Gegend herrschte überraschend starker Betrieb. Wo hatten die Leute alle gesteckt, als sie im Wagen hierhergefahren war? Sie spürte, wie sie von neugierigen Blicken verfolgt wurde, als sie das Lokal durchquerte und nach draußen ging.
Der junge Mann fegte mit großem Elan und Fleiß den Hof. Jess gewann seine Aufmerksamkeit, indem sie sich vor ihm aufbaute und ihn auf diese Weise zum Innehalten zwang. Er blickte auf, öffnete den Mund, als wolle er sie bitten, zur Seite zu treten, dann schloss er ihn wieder und stand lautlos gaffend da.
Jess zeigte ihren Dienstausweis. Seine Augen zuckten, doch er schwieg weiter.
»Jetzt, da Sie meinen Namen kennen …«, sagte Jess freundlich, »… dürfte ich Ihren auch erfahren?«
»Dave – David Jones«, antwortete er sehr leise.
»Wie lange arbeiten Sie schon hier, Mr. Jones?«
»Fast ein Jahr.«
»Gefällt Ihnen die Arbeit hier?« Sie lächelte ihn an.
Er reagierte nicht. »Es ist ganz okay.«
»Wenn Sie schon so lange hier arbeiten, müssen Sie die Kellnerin gekannt haben, die vor kurzem so unvermutet verschwunden ist.«
Er biss sich auf die Unterlippe. Dann wandte er sich plötzlich ab und lehnte seinen Besen gegen den nächsten Tisch. Er wandte sich wieder Jess zu. »Sie meinen Eva? Natürlich kannte ich sie.« Er besaß eine angenehme, gebildete Stimme, doch er klang nervös.
»Waren Sie befreundet?«
Jetzt hatte er sich wieder unter Kontrolle, und als er antwortete, war seine Nervosität weit weniger offensichtlich. »Wir waren Kollegen, wenn es das ist, was Sie wissen wollen. Wir arbeiten alle hier. Wir kommen gut miteinander aus.«
»War sie eine freundliche Person? Gutmütig? Hilfsbereit? Heiter?«
»Oh ja! Sie war eine freundliche Person, wie Sie es nennen!«, schnappte er unerwartet.
Verblüfft stellte Jess fest, dass sie offensichtlich einen Nerv getroffen hatte. »Hat sie mit Ihnen über ihr Privatleben gesprochen? Hat Eva irgendetwas erwähnt, aus dem man schließen könnte, dass sie unglücklich war im Foot to the Ground?«
»Nein!«, entgegnete Jones beinahe verzweifelt. »Sie ist zuverlässig, fleißig und anständig! Sie ist hier, weil sie ihre Englischkenntnisse verbessern möchte, und sie ist äußerst zufrieden, dass sie ein Zimmer direkt bei ihrer Arbeitsstelle hat. Jake Westcott redet völligen Blödsinn, wenn er sagt, dass sie ohne ein Wort abgehauen ist! So etwas würde Eva niemals tun! Sie war glücklich hier! Mir wäre aufgefallen, wenn es anders gewesen wäre.«
Er schien zu bemerken, dass Jess seine heftige Reaktion nicht verborgen geblieben war, und er fragte weniger vehement, wenngleich immer noch emotionsgeladen: »Glauben Sie, dass ihr etwas zugestoßen ist? Milada denkt das nämlich.« Besorgnis ließ seine Stimme bei den letzten Worten schrill klingen.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Jess. »Milada kam zu uns und hat uns erzählt, was sie denkt. Das ist der Grund, aus dem ich hergekommen bin. Milada denkt, dass Eva vielleicht einen Freund gehabt hat. Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Nicht mit mir«, sagte Jones steif. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, sie hat nicht über ihr Privatleben gesprochen, und soweit ich es beurteilen kann, war sie glücklich und zufrieden. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist, aber es gibt sicherlich eine Erklärung. Vielleicht hatte sie einen Unfall und liegt bewusstlos in irgendeinem Krankenhaus, und niemand weiß, wer sie ist. So etwas passiert. Ich weiß, dass es so ist. Ich habe es selbst schon gesehen. Es gab so einen Fall in einem Krankenhaus, in dem ich ein Praktikum gemacht habe.«
Er war Medizinstudent gewesen? Was machte er dann hier? Was auch immer der Grund sein mochte, er war nicht glücklich, ganz und gar nicht. Er war in das verschwundene Mädchen verliebt, überlegte Jess. Doch sie hatte schon einen Freund, den geheimnisvollen Mr. Secret mit dem silbernen Wagen, und Jess war bereit, ihr Gehalt darauf zu verwetten, dass Jones Bescheid wusste, auch wenn er es nicht zugeben wollte.
Sie blickte sich auf dem Hof um. »Das ist ein abgelegener Flecken Erde. Sehr romantisch, aber abgelegen. Wohnen Sie ebenfalls hier im Haus, wie die beiden Kellnerinnen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wohne da drüben.« Er zeigte über ihre Schulter zu einer Ansammlung von Bäumen, hinter denen ein Schornstein zu sehen war. »In Greystone House.«
Sie war nicht sicher, ob es der Name einer Pension war oder ein altes vornehmes Privathaus. »Was ist Greystone House?«
»Wie?« Er starrte sie verblüfft an, dann lächelte er fast. »Oh. Es ist mein Elternhaus.«
»Ist Ihr Vater Landbesitzer?« Es hätte sie nicht weiter überrascht. Dieser junge Mann war definitiv kein Bauerntrampel. Vermutlich Privatschule, überlegte sie. Warum um alles in der Welt arbeitete er in einem Pub und fegte den Hof? Sie hatte keine Ahnung, doch sie war entschlossen, es herauszufinden.
»Nein«, antwortete Jones. »Er ist Anwalt.« Jetzt grinste er spöttisch und genoss ihr momentanes Unbehagen.
Also hatte der junge Jones juristischen Beistand und anwaltliche Vertretung parat – aber brauchte er beides auch?
Jess überlegte, dass Offenheit bei diesem jungen Mann am weitesten führte. »Warum arbeiten Sie hier?«, fragte sie. »Wenn Sie seit einem Jahr hier sind, kann man ja wohl kaum noch von einem Ferienjob reden.«
»Ich habe Medizin studiert«, erzählte er. »Alles lief bestens, bis ich ins Krankenhaus kam.« Er hob den Kopf und starrte sie an. »Waren Sie schon mal auf einer chirurgischen Station? Haben Sie schon mal jemanden gesehen, der wegen Leberversagens aufgrund von Alkoholmissbrauch ganz gelb war? Der wusste, dass er sterben würde, dass er all die zurücklassen würde, die er liebte, und der wusste, dass er sich das alles selbst angetan hatte … und der doch, wenn man ihm einen Drink anbot, Ja sagen würde? Ich hatte einen Zusammenbruch. Ich habe aufgehört. Jetzt arbeite ich hier. Es gefällt mir. Normalerweise …«, und jetzt hob er den Kopf und starrte Jess hart in die Augen, »… normalerweise lässt man mich hier in Ruhe. Niemand macht mir Ärger.«
»Sie kommen nicht gut zurecht mit Ärger, oder?«
»Was denken Sie? Nein. Nein, ich komme nicht gut zurecht mit Druck, und ich komme nicht mit der Realität des Arztberufs zurecht. Die Theorie ist prima, selbst das Aufschneiden von Leichen habe ich noch hingekriegt, auch wenn es mir keinen Spaß gemacht hat. Aber in den Krankenhäusern herumzuhängen und die Leute leiden zu sehen, den Kummer der Angehörigen …« Sein Blick ging an ihr vorbei und in die Ferne, hinaus zu etwas, das nur er alleine sehen konnte.
»Dann war Medizin keine gute Wahl für Sie«, urteilte Jess. »Mein Bruder ist Arzt.« Sie nannte den Namen der Hilfsorganisation, für die Simon auf der ganzen Welt unterwegs war, und sie bemerkte das aufkeimende Interesse in David Jones’ Augen.
»Ich würde zu gerne das Gleiche machen wie Ihr Bruder«, gestand er. »Ich hatte etwas Ähnliches vor, als ich mit dem Studium angefangen habe, hinausziehen in die Welt und für eine der Hilfsorganisationen arbeiten. Aber ich habe es nicht geschafft. Und jetzt bin ich hier.«
»Nicht für immer. Sie finden sicher etwas anderes«, redete sie ihm Mut zu.
»Ja, sicher. Mein Vater macht immer wieder Andeutungen, ich solle Jura studieren. Meine Mutter meint Theologie. Ich? Ich will einfach nur weiter den Hof kehren, wie Sie es sagen. Ich mache auch andere Sachen im Laden, wissen Sie. Ich bediene hinter der Theke, mache Botengänge, kümmere mich um den Weinkeller.«
»Haben Sie ein eigenes Transportmittel?«, fragte sie rasch.
»Mein Motorrad.«
»Und damit machen Sie Besorgungen für Ihren Arbeitgeber?«
Jones zögerte. »Nein. Nein, das Pub hat einen eigenen Lieferwagen.«
»Ich verstehe. Sagen Sie, gibt es vielleicht Photos vom Pub? Vom Laden und dem Personal, insbesondere Eva?«, erkundigte sie sich vorsichtig. Sie konnte ihn wohl kaum direkt fragen, ob er ein Bild von ihr bei sich trug. Obwohl sie davon überzeugt war, irgendein Schnappschuss, aufgenommen, als sie nicht hingesehen hatte. Aber das gibst du wahrscheinlich genauso wenig zu.
»Die Flugblätter«, sagte Jones unerwartet. »Sie liegen in der Bar, mit Werbung für uns. Jake Westcott hat sie vor einigen Wochen drucken lassen. Es gibt ein Bild von uns allen darin.«
Flugblätter! Ein Glückstreffer, endlich. »Ich gehe gleich und frage ihn danach«, sagte sie und nickte ihm zu. »Wir sehen uns.«
»Ja, jede Wette«, erwiderte er mürrisch und drehte sich zu seinem Besen um.
Ein dunkelroter Geländewagen bog auf den Parkplatz ein, als Jess zum Gebäude zurückging. Er parkte neben einer Reihe weiterer Fahrzeuge, die noch nicht dort gestanden hatten, als Jess gekommen war. Die Stammgäste kamen zu ihrem Mittagsbier. Ein stämmiger Mann Ende vierzig stieg aus. Er trug die Garderobe eines Gentleman vom Land – braune Cordhosen, einen alten, aber hochwertigen Pullover über einem Hemd mit Krawatte. Eine altehrwürdige Kappe auf dem Kopf, die aussah, als habe er sie von seinem Vater geerbt, wie Jess amüsiert dachte.
Zu spät wurde sie gewahr, dass er ihren abschätzenden Blick bemerkt hatte. Er hob die Augenbrauen und kam zielstrebig auf sie zu.
»Gibt es ein Problem?«, fragte er schroff.
Jess zückte ihren Dienstausweis. Er studierte ihn sorgfältig, bevor er ihn zurückgab.
»Polizei, wie? Hat es irgendwas mit der verschwundenen Bedienung von Jake zu tun?«
»Mit wem habe ich das Vergnügen, wenn die Frage erlaubt ist?«, entgegnete Jess höflich.
»Was? Oh. Mark Harper, Ma’am.« Er nickte in Richtung des Lokals. »Mein Wasserloch«, sagte er.
Harper? Hm, wo hatte sie den Namen schon einmal gehört? Ah, natürlich, Lindsey Harper, die für Penny Gower vom Reitstall arbeitete.
»Wir wurden in der Tat informiert, dass eine der hier beschäftigten Kellnerinnen verschwunden ist«, meinte Jess beiläufig. »Ist das die Bedienung, die Sie meinen?«
»Ganz genau die. Der gute alte Jake ist ziemlich sauer deswegen. Es überrascht mich nicht – ich hab ihm schon mindestens ein Dutzend Mal gesagt, dass er sich auf Scherereien einlässt, wenn er diese ausländischen Mädchen einstellt. Oh, sie sind alle hübsch, und sie arbeiten hart, gar keine Frage! Die Gäste im Restaurant lassen sich gerne von ihnen verwöhnen. Aber du weißt überhaupt nichts über sie, habe ich zu Jake gesagt, kein Wort über ihre Vergangenheit. Du musst glauben, was sie dir erzählen, selbst wenn sie das Blaue vom Himmel lügen. Das habe ich zu ihm gesagt, und dazu stehe ich!«, schloss er. »Und wie es scheint, habe ich Recht behalten, eh?«
»Haben Sie speziell das verschwundene Mädchen gemeint? Als Sie mit Westcott über dieses Thema gesprochen haben?«, fragte Jess.
»Nein, alle. Die ganze Bande, jede Einzelne von ihnen.«
»Aber Sie kannten dieses Mädchen?«
Diesmal dauerte es länger, bis Harper antwortete. Er studierte Jess und stieß die Luft aus, bevor er redete. »Ich kenne nicht eine von ihnen. Manchmal steht eine hinter der Theke, wenn ich mein Bier bestelle, aber das ist auch schon alles.«
»Kennen Sie den Namen des verschwundenen Mädchens?«
»Nein! Doch, warten Sie … Jake hat sie Eva genannt.«
»Und Sie haben sich nie mit Eva unterhalten, an der Theke? Sie gefragt, ob sie sich eingelebt hat oder dergleichen?«
»Warum um alles in der Welt sollte ich?« Sein Verhalten wurde zunehmend aggressiv. »Sie kommen und gehen, was für einen Sinn macht es, sie zu fragen, ob es ihnen hier gefällt? Jake kann von Glück reden, wenn sie noch mal auftaucht. Vielleicht, um ihre Sachen zu holen, oder wenn er ihr noch Lohn schuldig ist.«
Der letzte Punkt war stichhaltig. Wenn Eva noch Geld bekam, würde sie sicher wieder auftauchen, um es zu holen. Leider nahm die Wahrscheinlichkeit dafür rapide ab. Jess musste an das verzerrte Gesicht der Toten im Kuhstall denken.
»Könnten Sie Eva beschreiben?«
»Nein, natürlich nicht, Herrgott noch mal!« Seine Stimme wurde lauter und hallte über den Platz. »Sie sehen alle gleich aus für mich! Warum stellen Sie mir all diese Fragen? Ich weiß nicht, wohin das alberne kleine Flittchen verschwunden ist!«
»Flittchen?«, fragte Jess in scharfem Ton. »Warum nennen Sie Eva so?«
Harper starrte sie an und blinzelte. »Wenn sie keins wäre, wäre sie nicht einfach so verschwunden und hätte ihren Arbeitgeber nicht im Unklaren gelassen, wohin sie gegangen ist oder ob sie noch einmal zurückkommt! Hören Sie, wenn Sie fertig sind, mich nach ihr auszufragen, könnte ich dann vielleicht reingehen und mir mein Bier holen?«
Er wandte sich ab und stapfte in Richtung Eingang des Pubs. Wenn das der Ehemann von Lindsey Harper ist, dachte Jess, dann wundert es mich nicht, dass sie ihre Zeit lieber mit Penny und den Pferden verbringt.
»Er ist wirklich ein absolutes Arschloch«, sagte unvermittelt eine leise Stimme hinter ihr.
Sie drehte sich um. Vor ihr stand David Jones. Er musste die ganze Unterhaltung mit angehört haben – so wie jeder andere, der zufällig auf dem Parkplatz gewesen war. Harper hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Stimme zu dämpfen. Jones’ Kommentar war zwar an die Adresse von Jess gerichtet gewesen, doch sein Blick hing an der Tür zur Bar, durch welche Harper vor einem Moment verschwunden war. Seine Augen leuchteten in heftiger Antipathie.
»Was weiß er schon über die Mädchen? Über Eva oder Milada oder eines der anderen? Er hat kein Recht, in diesem Ton über sie zu reden! Wahrscheinlich hat er bei Eva einen von seinen plumpen Annäherungsversuchen gestartet, und sie hat ihn abblitzen lassen«, fuhr er fort.
»Er unternimmt Annäherungsversuche bei den Mädchen?«, fragte Jess.
Jones sah ihr in die Augen. »Er ist nicht der Einzige. Er ist plumper als die meisten anderen, deswegen habe ich auch nie gesehen, dass er bei einem der Mädchen Glück gehabt hätte. Sie zeigen ihm die kalte Schulter, sobald sie ihn nur sehen.«
»Aber er ist ein Stammgast?«
»Oh ja. Jake hält eine Menge von ihm, aber fragen Sie mich nicht, warum. Geld, nehme ich an. Harper hat eine Menge Kohle.« Jones grinste bitter und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Milada beschäftigte sich hinter dem Tresen. Harper hatte sein Pint bekommen und sich damit in eine Ecke zurückgezogen, wo er einem anderen Stammgast die Gunst seiner Meinung erwies. Er ignorierte Jess vollkommen. Westcott war nirgendwo zu sehen.
Jess fing Miladas Blick ein und hob die Augenbrauen. Milada antwortete, indem sie die eigenen Augen in Richtung der geschlossenen Bürotür verdrehte.
Jess durchquerte das Lokal, klopfte forsch und trat ein. Westcott telefonierte auf seinem Handy, doch er klappte es hastig zu, als er Jess erkannte.
»Oh, Inspector! Alles in Ordnung?«
Jess ignorierte die Frage. »Wenn ich richtig informiert bin, Mr. Westcott, haben Sie Werbematerial drucken lassen, mit einem Photo dieses Lokals und der Belegschaft?«
»Was …?« Er starrte sie überrascht an, dann erleichtert. »Oh, richtig, ja …« Er öffnete eine Schublade und nahm einen Stapel Faltblätter hervor. »Hier, bitte sehr. Bedienen Sie sich.«
Jess nahm ein Blatt und schlug es auf.
Das Foot to the Ground, stand dort zu lesen, ist eine altehrwürdige Gaststätte; und obwohl es nie an einer wichtigen Kutschenstraße lag, war es ein bekannter Ort für Reisende zu Pferde, die hier einkehrten, um sich auszuruhen und zu erfrischen. Man nimmt an, dass der Name daher rührt. Der Name wird jedenfalls bereits 1741 erwähnt. Das Gebäude selbst ist noch viel älter. Die Fundamente stammen aus dem Mittelalter, und möglicherweise war es einst eine Raststätte für Pilger auf dem Weg nach Glastonbury …
Die schmalzige Geschichte ging in diesem Tonfall weiter, gefolgt von einer Beschreibung der kulinarischen Spezialitäten, die einem den Mund wässrig machte, und ganz zum Schluss, endlich, die Photographie der Inhaber mitsamt Belegschaft.
Westcott dominierte die Gruppe in der Mitte. Neben ihm stand eine blonde Frau. Milada und ein älterer Mann links von den beiden und das Mädchen, dessen Photo in dem tschechischen Pass zu sehen war, Eva Zelená, zusammen mit David Jones rechts von der Mitte.
Alle auf einen Schlag, dachte Jess triumphierend. Wer weiß, welche Reaktion es auslöst, wenn ich es herumzeige, und wer wen erkennt.
»Wer ist das hier?«, fragte sie und deutete auf die blonde Frau.
»Meine Ehefrau. Sie ist die Köchin. Sie steht jetzt in der Küche und ist sehr beschäftigt. Die Essenszeit hat angefangen. Jetzt ist kein guter Zeitpunkt, um sie zu befragen. Wenn Sie unbedingt müssen, schlage ich vor, Sie kommen gegen fünf wieder.«
»Vielleicht schicke ich einen Kollegen vorbei.« Jess tippte auf den älteren Mann. »Und wer ist das?«
»Das ist Bert, mein Mädchen für alles, wenn Sie so wollen. Elektriker, Klempner, Zimmermann, suchen Sie sich’s aus. Leider ist er im Moment krank. Er hat es im Rücken.«
»Das ist schlecht für Sie«, sagte Jess.
»David Jones ist eine große Hilfe«, erwiderte Westcott. »Und zuverlässig ist er obendrein. Er kann inzwischen auch fast alles, was im Foot to the Ground so anfällt. Er hat eine Menge von Bert gelernt. Ich weiß offen gestanden gar nicht, was ich ohne ihn tun würde.«
Ah, ja. David Jones, der ehemalige Medizinstudent, der beinahe ohne jeden Zweifel verliebt gewesen war in Eva (die ihrerseits einen anderen zum Freund gehabt hatte) und der sich bestens mit Halsschlagadern und dergleichen auskannte. Andererseits braucht man kein medizinisches Wissen, um jemanden zu erwürgen, dachte Jess. Trotzdem, Jones gehörte auf die Liste. Er hatte eine Art Nervenzusammenbruch gehabt. Er kam nach seinen eigenen Worten nicht zurecht mit »Druck«, wie er es nannte. Und abgewiesen zu werden von einem Mädchen? Kam er damit zurecht? Wahrscheinlich genauso wenig. Er fuhr den Lieferwagen des Lokals. Er konnte eine Leiche transportieren. Sie würden diesen Wagen ganz genau unter die Lupe nehmen müssen, sollte sich herausstellen, dass die verschwundene Eva und die Tote aus dem Kuhstall ein und dieselbe Person waren.
Auf der anderen Seite hatte er ziemlich offen über seinen Zustand gesprochen – als wäre er begierig gewesen, ihr seine Geschichte zu erzählen. Weil er sich ausgerechnet hatte, dass sie es ohnehin herausfinden würde? Sein Vater war Rechtsanwalt, und er wusste mit einiger Sicherheit, wie das Gesetz arbeitete.
»Was denken Sie?«, fragte Westcott. »Wegen Eva, meine ich. Sie ist doch sicher nicht die Tote … die tote Frau, die gefunden wurde, oder?« Seine frühere Selbstsicherheit war verflogen, und er klang beinahe flehend.
Jess schob die Flugblätter sorgfältig zusammen. »Nun ja, Mr. Westcott, wir hatten eigentlich gehofft, Sie könnten uns weiterhelfen. Es tut mir leid, aber ich muss Sie fragen – Sie wissen sicher, dass es keine Verwandten im Land gibt, die wir stattdessen bitten könnten …«
Westcott wurde von Sekunde zu Sekunde blasser.
»Wir hatten überlegt, ob Sie uns helfen könnten, indem Sie einen Blick auf die Tote werfen. Vielleicht können Sie sie identifizieren.«
Er öffnete und schloss den Mund ein paar Mal, ohne dass ein Laut hervorgekommen wäre. »Ich … ich soll die Leiche ansehen, die Sie gefunden haben?«, krächzte er dann.
»Ja, Sir. Es tut mir leid, aber wir wüssten es sehr zu schätzen.«
»Dann glauben Sie also, dass es Eva ist?«
»Wir wissen es nicht, Mr. Westcott. Es ist eine Möglichkeit, der wir nachgehen müssen. Sie waren ihr Arbeitgeber, und sie hat mehrere Monate hier unter Ihrem Dach gelebt.«
»Scheißdreck!«, rief Westcott und ließ sich schwer auf den Windsorsessel sinken. »Ich wusste, dass es so weit kommen würde, verdammt! Ich habe Milada von Anfang an gesagt …« Er starrte Jess kläglich an. »Ich habe noch nie eine Leiche gesehen«, sagte er.
Du Glücklicher, dachte Jess wenig mitfühlend.
Sie kehrte nach draußen in die Bar zurück. Harper hatte einen weiteren glücklosen Mann mit seinen Einsichten überschüttet. Seine demonstrative Weigerung, einen Blick in Jess’ Richtung zu werfen, war zugleich beleidigend und arrogant, stellte sie fest. Mehr noch, deutete es darauf hin, dass ihre Fragen ihn nervös gemacht hatten? Verhielt er sich wie ein Schuljunge in der Klasse? Sieh die Lehrerin ja nicht an, sonst stellt sie dir eine Frage. Sie würde Phil Morton vorschlagen, Mr. Harper einen Besuch zu Hause abzustatten und sich zwanglos mit ihm zu unterhalten.
David Jones war hereingekommen und hatte zusammen mit Milada hinter der Theke Posten bezogen.
Entweder war er hereingerufen worden, weil sie allmählich Hochbetrieb hatten, oder er wollte nicht wieder allein draußen von Jess überrascht werden. Er vermied es ebenfalls, in ihre Richtung zu blicken, und begann stattdessen eine lebhafte Unterhaltung mit einem der Gäste. Es gelang Jess, Miladas interessierten Blick einzufangen. Milada hatte nichts gegen Fragen, im Gegenteil, ihr brannten selbst einige auf der Zunge. Sie wollte wissen, was vorging. Jess verdrehte die Augen Richtung Ausgang und schlenderte nach draußen auf den Hof. Wie sie erwartet hatte, kam Milada ihr eilig hinterher.
»Was glauben Sie?« Sie starrte Jess an. »Habe ich Recht? Mr. Westcott wollte es einfach nicht glauben, aber ich weiß es besser!«
»Das werden wir sehen«, entgegnete Jess beruhigend. Sie nahm den Asservatenbeutel mit dem Glas und der Zahnbürste aus dem Rucksack und hielt ihn Milada hin. »Können Sie bestätigen, dass diese Zahnbürste Eva gehört?«
Miladas Augenbrauen schossen überrascht in die Höhe, doch sie antwortete ohne Zögern. »Die Zahnbürste ist pink. Sie gehört Eva. Sie kauft alles in Pink, wirklich alles. Ich hab ihr mal gesagt, sie soll hin und wieder eine andere Farbe nehmen, aber sie meinte nur, sie mag Pink eben.«
Und als sie sich einen neuen Mantel gekauft hat, war der natürlich ebenfalls pink, dachte Jess.