Kapitel 9

»So, jetzt wissen wir also, wer das Opfer war«, sagte Superintendent Carter am nächsten Morgen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Eva Zelená. Ihr Arbeitgeber, Jake Westcott, hat sie zweifelsfrei identifiziert, bevor er ohnmächtig wurde?«

»Ein wenig peinlich, diese Geschichte«, räumte Jess ein. »Er meinte nur: ›Ja, das ist sie‹, und dann kippte er um und landete Tom Palmer vor den Füßen.«

»Er hat sich doch hoffentlich nicht dabei verletzt?«

»Nein. Nein, wir halfen ihm wieder auf die Beine, und ihm fehlte nichts. Er war nur ein wenig verlegen, weil wir ihn wie einen Narren hätten aussehen lassen, wie er es nannte. Er wiederholte, dass die Tote Eva Zelená ist. Er hat keinerlei Zweifel daran. Vielleicht können wir ihren Vater bewegen, es zu bestätigen, wenn ihre Eltern hierherkommen, doch ich denke, wir können fürs Erste auf der Grundlage von Westcotts Identifikation weitermachen.«

»Gut«, sagte Carter lakonisch. »Solange er keinen Grund hat, uns zu verklagen.«

»Er war die offensichtliche Wahl, schließlich gibt es im Land kein Familienmitglied«, entgegnete Jess. »Abgesehen davon war seine Kellnerin verschwunden und hatte alles zurückgelassen. Wir mussten wissen, ob die Tote aus dem Kuhstall und die Kellnerin ein und dieselbe Person sind. Ansonsten hätten wir Zeit und Mühen verschwenden und anfangen müssen, nach Eva Zelená zu suchen. Wir konnten darüber hinaus ein paar Fingerabdrücke von dem Zahnputzglas nehmen, das ich aus ihrem Badezimmer mitgenommen habe. Nicht genug, als dass sie für sich genommen vor Gericht als Beweise ausreichen, fürchte ich, aber sehr nützlich als weiterer Hinweis für uns. Ich denke, wir können ihre Identität als gesichert annehmen. Zu gegebener Zeit werden wir außerdem eine DNa-Analyse vom Labor erhalten. Also bin ich hingegangen und habe die tschechische Botschaft in London informiert, die sich wiederum ihrerseits mit den Eltern der Toten in Karlsbad, dem heutigen Karlovy Vary, in Verbindung setzen und ihnen mitteilen wird, dass die Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache für übernächste Woche anberaumt ist, um ihnen Zeit zu verschaffen, nach England zu kommen.«

Ein leichtes Stirnrunzeln zeigte sich auf Carters Miene. »Weiß man in der Botschaft, dass diese Verhandlung lediglich eine Feststellung der Fakten im Zusammenhang mit der Entdeckung der Leiche und ihrer Identifikation ist? Wissen die Eltern, dass der Coroner anschließend die Verhandlung vertagen wird, um uns Zeit für unsere Ermittlungen einzuräumen? Wir können noch nicht erklären, was mit ihrer Tochter passiert ist. Wir haben keine Antworten.«

»Ich hoffe doch«, antwortete Jess vorsichtig. »Ich hatte darum gebeten, den Zelenýs den Sachverhalt zu erläutern, doch das liegt jetzt nicht mehr in meinen Händen. Es ist nur natürlich, dass die Eltern sofort herkommen wollen. Wäre ich an ihrer Stelle und würde ich erfahren, dass ein Mitglied meiner Familie im Ausland ermordet wurde, würde ich es nicht anders machen …« Sie presste nach den letzten Worten den Mund zusammen und sah an Superintendent Carter vorbei zum Fenster hinaus.

Es war das, was sie – und ihre Eltern – für Simon befürchteten. Eines Tages würden sie einen Anruf erhalten, genau wie die Zelený-Familie in Tschechien. (Phil Morton, der sich allem Anschein nach mit tschechischer Grammatik bestens auskannte, hatte sie informiert, dass »Zelená« nur die weibliche Version des Familiennamens war.) Wenn Simon nach Hause schrieb, versicherte er zwar unablässig, dass alles in Ordnung war und er in Sicherheit. Doch das war er nicht. Konnte er nicht sein in dem Höllenloch, in dem er arbeitete. Kugeln trafen nun einmal unterschiedslos jeden, der ihnen im Weg stand: Flüchtlinge, Mitarbeiter des Roten Kreuzes, Journalisten, Ärzte … Kugeln, und die Männer, die sie abfeuerten, machten keinen Unterschied zwischen Menschen. Manchmal zielten die Angreifer sogar ganz bewusst auf die freiwilligen Helfer. Sie wollten keine Zeugen, die der Welt von ihren Taten berichteten.

Als sie sich wieder Carter zuwandte, erkannte sie, dass er sie sehr vorsichtig beobachtet hatte, und sie fragte sich unwillkürlich, wie viel er über sie und ihre familiären Umstände wusste. Er konnte unmöglich etwas von Simon wissen. Auf der anderen Seite war die Arbeit ihres Bruders kein Geheimnis. Sie redete nicht darüber, aus abergläubischer Furcht heraus, etwas Schlimmes zu provozieren. Aber andere redeten vielleicht.

»Äh, nun ja …«, murmelte Carter und streckte die Hand nach dem vergrößerten Abzug des Photos aus dem Werbeprospekt aus. »Ich schätze, Sie haben Recht. Was wollen Sie nun hiermit machen?«

»Es den Leuten zeigen. Ich dachte, ich fange bei Mrs. Foscott an. Wenn sich jemand von diesem Photo in der Gegend der Farm oder des Reitstalls herumgetrieben hat, dann hat es Mrs. Foscott noch am ehesten bemerkt. Sie ist …« Jess zögerte kurz, bevor sie weiterredete. »Sie ist ein altes Schlachtross, aber sie ist zugleich aufmerksam und scharfsinnig. Außerdem ist sie aus der Gegend. Sie weiß, worüber die Leute reden.«

Carter verschränkte die Hände und sah sie erneut auf diese vorsichtige Weise an, die Jess als so beunruhigend empfand. »Also gut, in Ordnung«, sagte er schließlich. »Aber seien Sie auf der Hut. Sie könnte selbst neues Gerede in die Welt setzen.«

Er reichte Jess das Photo. Sie fragte sich, ob sie ihm sagen sollte, dass David Jones, der auf dem Bild zu sehen war, der Sohn von Barney Jones war, dem bekannten Anwalt. Sie wusste noch nicht, wo Superintendent Carter stand, wenn es darum ging, Leute zu belästigen, die man als Polizeibeamter vielleicht vor Gericht wiedertreffen würde. Sie beschloss, die Information noch eine Weile länger für sich zu behalten.

Wie vorherzusehen, wohnten die Foscotts in einem großen, heruntergekommenen Haus, umgeben von einem ungepflegten Garten. Außerdem parkten zwei Fahrzeuge auf der von Unkräutern durchsetzten gekiesten Auffahrt, als Jess dort ankam: Selinas alter aristokratischer Jaguar und ein neuerer schicker Lexus. Jess war nicht überrascht, als Mr. Foscott ihr die Tür öffnete, der mutmaßliche Besitzer des Lexus.

Er war ein großer, dünner Mann mit schütterem blondem Haar und einer Brille. Er spähte durch die Gläser auf den hingehaltenen Dienstausweis und dann auf Jess.

»Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen bei diesem Mord. Ich war nicht dort. Sie müssen schon meine Frau fragen – ich bin nie in diesem Reitstall oder in der Nähe dieser Farm.«

»Äh, ja, das war auch meine Absicht – ist Mrs. Foscott zu sprechen?«

»Ja, natürlich. Kommen Sie herein.« Er wandte sich um und trottete ins Haus, und Jess blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. »Selly! Die Polizei ist hier und will dich sprechen!« Er warf einen Blick über die Schulter auf Jess, dann fügte er hinzu: »Ein weiblicher Inspector!«

Mit diesen Worten verschwand er durch eine Tür, und Jess blieb allein in der Halle zurück. Seit Jahren waren keine Renovierungsarbeiten mehr durchgeführt worden, keine frische Farbe an den Wänden und keine neuen Tapeten. An den Wänden hingen kreuz und quer Bilder von Pferden oder von Charlie hoch zu Ross, zusammen mit Erinnerungslücken wie Hufeisen oder Rosetten. Neben dem Schirmständer lag ein Sattel unordentlich auf dem Boden. Das ganze Haus roch schwach nach Pferden. Mr. Foscott musste nicht zum Reitstall fahren. Seine Frau und seine Tochter hatten ihn mit nach Hause gebracht.

Jess hörte, wie sich Selina Foscott geräuschvoll stampfend näherte, während sie einer unsichtbaren Person, vermutlich ihrer Tochter, zurief: »Ich kann mir jetzt jedenfalls keine neuen Stiefel für dich leisten! Du musst mit denen vorliebnehmen, die du hast!«

Sie platzte durch eine Tür und fuhr übergangslos fort, diesmal an Jess gewandt: »Mein Gott, wie diese Kinder wachsen! Ich denke, die alten Chinesen hatten die richtige Idee, als sie ihnen die Füße gebunden haben! Kommen Sie rein!«

Jess wurde in ein großes Wohnzimmer mit einem viktorianischen Kachelofen und verblassten Teppichen geführt. Der Raum war vollgestellt mit einem Sammelsurium verschiedensten Mobiliars: eine große, dreiteilige Garnitur mit gleichermaßen verblassten Bezügen aus Cretonne, ein riesiges Chesterfield-Sofa, das aussah, als wäre es irgendwie aus einem Gentlemen’s Club entwichen, diverse kleine Tischchen, allesamt übersät mit Büchern, Pferdemagazinen und Zeitungen, und ein prachtvoller frühviktorianischer oder spätgeorgianischer Schreibtisch. Sämtliche nicht mit abgelegten Papieren bedeckten Oberflächen waren staubig.

»Setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas zu trinken?«, erkundigte sich Selina gastfreundlich, indem sie auf einen der Lehnsessel mit seinem Cretonne-Bezug deutete. »Ich würde Ihnen ja gerne einen Gin Tonic oder so etwas anbieten, aber ich nehme an, Sie trinken nicht im Dienst. Wir könnten vielleicht Kaffee oder Tee auftreiben. Reggie!«

»Nein, nein, nur keine Umstände!« Jess streckte erschrocken eine Hand aus, um zu verhindern, dass Reggie Foscott herangezogen wurde, den Teekessel aufzusetzen. »Keinen Kaffee und keinen Tee, trotzdem danke.«

Sie nahm in dem angebotenen Lehnsessel Platz. Er erwies sich als eine alarmierende Erfahrung. Die Federn knarrten und ächzten, und sie sank viel tiefer ein, als sie erwartet hätte. Ihre Knie standen vor ihr hoch, die Armlehnen des Sessels erhoben sich zu den Seiten wie die Abtrennungen einer Pferdebox, und irgendetwas drückte ihr unangenehm in den unteren Rücken.

»Bequem?«, fragte ihre Gastgeberin und warf sich selbst auf das Chesterfield.

»Danke, sehr«, antwortete Jess, während sie bei sich dachte, es müsste doch offensichtlich sein, dass dem nicht so war.

»Es überrascht mich kein Stück, dass Sie gekommen sind«, begann Selina mit unüberhörbarer Befriedigung.

»Oh?«

»Es ist zwecklos, mit jemand draußen beim Reitstall über die Cricket Farm zu reden. Sie sind alle neu zugezogen. Pennys Tante hat viele Jahre hier gelebt, aber Penny selbst war nur hin und wieder zu Besuch hier, bis das alte Mädchen gestorben ist und ihr alles vermacht hat. Dann hat sie den Reitstall gekauft. Lindsey – haben Sie Lindsey kennen gelernt?« Selina unterbrach sich und sah Jess mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Jess bejahte die Frage.

»Sie ist zwar eine Einheimische, aber ihr Mann ist neu in unserer Gegend. Er ist erst vor ungefähr zehn Jahren hergezogen.«

Wie lange musste man um Gottes willen hier wohnen, um nicht mehr »neu in dieser Gegend« zu sein, fragte sich Jess. Wahrscheinlich wurde man nie ein Einheimischer, wenn man nicht hier geboren war. Ihr wurde bewusst, dass es zwar einen breiten sozialen Graben zwischen Eli Smith und Selina Foscott gab, doch sie waren geeint durch die Tatsache, dass beide hier geboren waren. Das zählte anscheinend eine ganze Menge.

»Sie meinen Mark Harper?«, fragte Jess. »Ich habe ihn kennen gelernt.«

»Er hat eine Menge Geld gemacht in der Stadt«, erklärte Selina düster. »Sie haben Lower Lanbury House gekauft, und jetzt spielt er den Gentleman vom Land. Er muss ein verdammtes Vermögen ausgegeben haben für dieses Haus. Sogar eine Sauna und einen Jacuzzi hat er einbauen lassen. Was soll man sagen, jedem nach seinem Geschmack. Lindsey ist eine gescheite Frau. Und sie ist eine Einheimische. Ich war mit ihrer Mutter zusammen in der Schule. Wendy war älter als ich, und sie konnte sehr gut mit Pferden umgehen, genau wie ihre Tochter Lindsey heute. Nun ja. Was kann ich für Sie tun?«

Jess beugte sich verlegen vor und kramte in dem unverzichtbaren grünen Rucksack zu ihren Füßen. »Ich hatte überlegt, ob Sie vielleicht einen Blick auf dieses Photo werfen könnten?«

Eigentlich hätte sie aufstehen müssen und Selina das Bild reichen, doch sie hatte das grauenvolle Gefühl, dass dies nicht ohne einen würdelosen Kampf gegen den Polstersessel gehen würde.

Selina kam ihr entgegen, indem sie von dem Chesterfield sprang, das Photo packte und sich damit wieder zurückzog. »Wer sind diese Leute, hm? Oh, das ist ein Pub nicht weit von hier. Ich gehe selbst nicht in Pubs, wissen Sie, aber ich weiß, wo all die alten sind. Das dort ist das Foot to the Ground, richtig?«

»Ja. Das Photo zeigt die Inhaber und das Personal.«

»Wer ist der Wirt? Dieser Bursche dort mit dem Schnurrbart? Wenn Sie mich fragen, er sieht eher aus wie ein Gebrauchtwagenverkäufer … gütiger Himmel!« Mit diesem Ausruf brachte Selina das Bild näher vors Gesicht und starrte es an. »Das ist der Junge von Barney und Julia Jones!« Sie tippte nervös mit dem Finger auf das versammelte Personal.

»Könnten Sie mir zeigen, wen Sie meinen?«, fragte Jess, obwohl David Jones der einzige junge Mann in der Aufnahme war. Vor Gericht stellten einem Anwälte gerne ein Bein wegen nachlässiger Identifikation.

Selina drehte das Photo so, dass Jess es sehen konnte, und tippte auf David Jones. »Der hier. Unverkennbar. Was macht er auf diesem Bild?«

»Er arbeitet im Foot to the Ground«, antwortete Jess.

»Ich werde verrückt«, sagte Selina, vorübergehend um Worte ringend. Doch dann fasste sie sich wieder. »Jetzt fällt es mir ein – Julia hat es mir erzählt. Der junge David hat angefangen Medizin zu studieren, und dann hat er es hingeworfen. Ich wusste nicht, dass er noch in der Gegend ist. Sie ist eine Bischofstochter, wissen Sie?«

Wenn man sich mit Selina unterhielt, war eine gewisse geistige Beweglichkeit erforderlich. »Mrs. Jones?«, hakte Jess nach.

Selina nickte heftig. Dann legte sie das Photo hin und starrte Jess an. »Warum zeigen Sie mir das?«

Jess ignorierte die Frage. »Abgesehen von David Jones – erkennen Sie vielleicht noch jemanden auf dem Bild?«

»Nein«, antwortete Selina und streifte das Photo flüchtig, bevor sie ihren Basiliskenblick wieder auf Jess richtete.

»Keine der Frauen? Bitte sehen Sie genau hin.«

Selina kam der Aufforderung nach, doch schon nach kurzer Zeit verneinte sie erneut. »Keine von ihnen. Die Mädchen sind hübsch.«

»Ja«, sagte Jess. Sie hätte auf Eva zeigen können, doch das tat sie nicht. So etwas führte häufig dazu, dass sich Zeugen »erinnerten«, das Opfer gesehen zu haben, obwohl sie zuvor vom Gegenteil überzeugt gewesen waren. Sobald erst das Photo von Eva Zelená in der Zeitung stand, würde sich Selina Foscott zweifelsohne bei Jess melden, falls sie sich an das Mädchen erinnerte.

»Der junge David hat doch wohl nichts damit zu tun, oder?«, wollte Selina wissen.

»Wir haben bisher keinen Anlass zu dieser Vermutung.«

Selina schürzte die Lippen und wedelte mit dem Photo hin und her. »Ich würde zu gerne wissen, warum Sie dieses Bild herumzeigen. Aber das verraten Sie mir nicht, oder?«

»Nein«, antwortete Jess, außerstande, ein schwaches Lächeln zu unterdrücken.

Ein Glitzern erschien in Selinas Augen. »Keine Einwände, dass ich es gegenüber seiner Mutter erwähne?«

»Sie weiß wahrscheinlich längst, dass ich im Foot to the Ground gewesen bin«, sagte Jess. »Ich nehme an, ihr Sohn hat es ihr erzählt.«

Selina sah Jess durchtrieben an. Sie hielt ihr das Photo hin. »Eines dieser Mädchen ist die Tote, habe ich Recht? Die Tote von der Farm? Streiten Sie es nicht ab. Ich sehe es in Ihrem Gesicht.«

Du lieber Himmel, die besten Pläne … , dachte Jess mit einem Seufzer.

»Ja. So ist es.«

»Welche?«

Jess resignierte. Sie mühte sich aus dem Sessel hoch, der entschlossen schien, sie festzuhalten, als wäre er von einem Dämon besessen. Die Federn knarrten wütend, bevor sie sich endlich befreit hatte. Sie trat zum Sofa, um das Photo zu holen. »Diese hier«, sagte sie.

»So, so«, murmelte Selina nachdenklich. »Ich frage mich, was Julia und Barney davon halten werden.«

Das tue ich auch!, dachte Jess. Insbesondere, wenn ihr Sohn ihnen erzählt, dass wir heute den Lieferwagen des Pubs mitgenommen haben, um Spuren zu suchen und forensische Tests durchzuführen.

»Was ist denn los mit ihm?«

Die Stimme, unerwartet dicht hinter ihr, ließ Penny am Gatter der Koppel zusammenzucken. Sie wirbelte herum.

»Oh, hallo Eli. Ich habe dich nicht gehört.«

Als Antwort zeigte Eli nur auf seine Gummistiefel. Dann nickte er zu dem Tier auf der Koppel. »Frisst er nicht mehr, oder was?«

»Nein.« Penny seufzte. »Schlimmer.«

Eli starrte sie fragend an, und sie fuhr fort. »Der Tierarzt sagt, dass er auf einem Auge erblindet. Inzwischen kann ich selbst sehen, dass etwas nicht stimmt. Wenn das Licht auf das kranke Auge scheint, sieht es ganz trübe aus.«

Eli saugte die Luft zwischen den Zähnen hindurch ein und musterte Solo minutenlang. »Ja«, sagte er schließlich. »Das war es dann für ihn, oder?«

»Das war es für ihn, Eli, wie du es ausdrückst. Ich kann es mir nicht leisten, ein nutzloses Pferd zu halten, und er ist jetzt nutzlos für mich.«

Eli sah Penny an. »Ich bin eigentlich vorbeigekommen, weil ich sehen wollte, ob mit dir alles in Ordnung ist.«

»Mir geht es gut, danke, Eli – abgesehen von dem ganzen Ärger. Wie steht es mit dir?«

»Mir?« Eli stieß ein dumpfes Grollen aus wie ein ruheloser Vulkan. »Ich habe eine verdammte Leiche in meinem Kuhstall!«

»Sie liegt doch wohl nicht immer noch da?«, fragte Penny schockiert.

Er schüttelte den Kopf, auf dem eine schmierige flache Kappe saß. »Nein. Sie haben das arme Ding mitgenommen. Aber sie waren überall auf meiner Farm, diese Bullen. Soll man es glauben?« Der Vulkan wurde von Sekunde zu Sekunde wütender. Er zeigte mit einem kurzen Finger auf Penny, und seine Stimme überschlug sich fast. »Sie waren im Haus!«

»Äh – in deinem Cottage, Eli, oder im Haus auf der Farm?«, fragte sie vorsichtig.

Eli überlegte kurz. »Beides«, verkündete er sodann. »Dieser Sergeant war bei mir zu Hause, um die Schlüssel für das Haus auf der Farm zu holen. Ich hab ihm gesagt, dass es vernagelt ist und dass seit Jahren niemand mehr drin war, aber er meinte nur, die Polizei müsste rein und alles ansehen. Sie hat nichts da drin zu suchen, überhaupt nichts! Wie dem auch sei, ich geb ihm die Schlüssel, und weg ist er – und er hat sie nicht mal zurückgebracht!« Der Vulkan brach mit einem wütenden Schrei aus.

Solo, der unbeeindruckt auf der Koppel geweidet hatte, riss den Kopf hoch und drehte ihn mit gespitzten Ohren in Richtung Gatter.

»Nicht, dass es etwas machen würde«, fuhr Eli wieder ruhiger fort. »Ich habe noch einen Satz. Ich fahre hin und sperre das Haus wieder ab, das werde ich, jawohl.«

»Ich bin sicher, die Polizei hat hinter sich wieder zugesperrt, Eli.«

»Das ist gar nicht so sicher!«, rief Eli starrsinnig. »Ich habe jedenfalls eine Ladung Bohlen dabei, und ich werde die Tür vernageln und alles wieder ordentlich zumachen!«

»Vielleicht solltest du zuerst die Polizei fragen, ob sie fertig ist …«, begann Penny.

»Ich muss doch wohl keinen verdammten Polizisten fragen, was ich auf meinem Grund und Boden tu! Dieses Haus ist am Donnerstag nächste Woche siebenundzwanzig Jahre vernagelt. Also muss ich los und es bis dahin wieder richten.«

»Warum denn das?«, fragte Penny gedankenlos. »Warum vor Donnerstag nächster Woche?«

Eli nahm seine Kappe ab, studierte das schmuddelige Schweißband und setzte sie sorgfältig wieder auf die ergrauenden Locken. »Der dritte Donnerstag im Monat«, sagte er dann. »Das war immer der Markttag. Der Viehmarkt, damals, als wir noch einen Viehmarkt hatten.«

Gütiger Himmel … , dachte Penny, als es ihr dämmerte. Es war an einem Donnerstag gewesen, als Eli vom Markt zurückgekommen war und festgestellt hatte, dass sein Bruder den Vater und die Mutter erschossen hatte. Anscheinend stand der Jahrestag dieses tragischen Ereignisses bevor. Er hat Angst, das Haus nächsten Donnerstag unvernagelt zu lassen. Was glaubt er denn, was sonst passiert?

Eine primitive Urangst drohte sie zu packen, doch sie schüttelte sie ab. Die damaligen Ereignisse hatten offensichtlich Elis Verstand beeinträchtigt. Es hatte wenig Sinn, wenn sie sich auch noch anstecken ließ.

Das Geräusch einer Wagentür, die zugeworfen wurde, erklang, und beide wandten ruckartig den Kopf.

»Siehst du, was ich meine!«, murmelte Eli. »Jetzt ist dieser weibliche Inspector wieder hier, um dich zu belästigen!«

Jess hatte gehofft, Penny Gower allein anzutreffen, doch als sie Eli Smith bei ihr sah, kam ihr das nicht ungelegen. Sie konnte beiden die vergrößerte Photographie der Belegschaft des Foot to the Ground zeigen und sie befragen.

Eli funkelte sie missmutig an, als sie näher kam, doch Penny lächelte ein behutsames Willkommen.

»Hallo, Inspector Campbell. Können wir Ihnen behilflich sein?«, fragte sie.

Eli knurrte nur dumpf.

»Ich weiß nicht. Ich hoffe es. Ich hatte mich gefragt, ob Sie vielleicht einen Blick auf dieses Photo werfen könnten – Sie auch, Mr. Smith, wenn ich einen Moment Ihrer Zeit in Anspruch nehmen dürfte.« Jess schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln, doch es prallte wirkungslos von ihm ab.

Das Pferd auf der Koppel hinter den beiden bemerkte die wachsende Anzahl von Menschen beim Gatter und bewegte sich weiter weg. »Es meint wahrscheinlich, ich bin zu einer Reitstunde gekommen und es müsste gleich arbeiten«, versuchte Jess zu witzeln, um die Atmosphäre ein wenig zu entspannen.

Ihre Worte fielen in ein Schweigen, das eisiger nicht sein konnte. Zwei Augenpaare starrten sie mit steinernem Ausdruck an.

»Wohl eher nicht«, sagte Penny schließlich. »Es ist außer Dienst, wie man so schön sagt.« Sie lächelte erneut, doch es wirkte gezwungen. »Aber das weiß Solo nicht. Nicht wahr?«

»Ist es krank?«

»Es erblindet.«

»Oh. Das tut mir leid«, sagte Jess verlegen. Mitten hinein ins Fettnäpfchen, Jess. Jetzt sah sie auch, dass es das Pferd war, das sie bei ihrem ersten Besuch hatte streicheln wollen. Vor dem Ferris sie gewarnt hatte. Hastig wandte sie sich dem beruflichen Anlass ihres Besuchs zu, zückte das Photo und reichte es Penny Gower, die es sorgfältig studierte.

»Erkennen Sie jemanden auf diesem Bild? War irgendjemand, der einer Person auf diesem Bild ähnlich sieht, in jüngster Zeit in dieser Gegend? Es tut mir leid, dass es so unscharf ist – die Vergrößerung wurde von einem viel kleineren Bild in einem Flugblatt gemacht.«

Penny Gower schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich kenne niemanden auf diesem Bild. Handelt es sich um das Personal eines der Lokale in der Gegend? Die beiden Mädchen und der junge Mann tragen eine Art Uniform mit einem Logo, und das dort hinter ihnen sieht aus wie ein Pub.«

»Stimmt. Aber erkennen Sie sie nicht? Das Pub ist das Foot to the Ground. Kennen Sie das?«

Penny schüttelte erneut den Kopf. »Tut mir leid, nein. Es muss das einzige Pub in der Gegend sein, in dem ich noch nie gewesen bin. Und Ferris und ich sind schon oft unterwegs gewesen, das können Sie mir glauben. Ich habe vom Foot to the Ground gehört, und es heißt, das Essen dort wäre ziemlich teuer.« Penny reichte das Photo zurück.

Jess gab es an Eli Smith weiter. Er nahm seine Kappe ab und hielt sie fest, während er sich mit dem Zeigefinger am Kopf kratzte und das Photo studierte. Er hielt es mit der anderen Hand in einiger Distanz von sich gestreckt.

Weitsichtig, dachte Jess.

»Ich erkenne die Tote«, sagte er schließlich, dann setzte er seine Kappe wieder auf.

Penny stieß ein erschrockenes Ächzen aus.

»Sie erkennen die Tote auf diesem Photo wieder?«, fragte Jess. »Welche ist es?«

»Die da.« Er zeigte mit einem Finger auf Eva. »Die da hat in meinem Kuhstall gelegen.«

»Haben Sie sie jemals vorher lebendig gesehen? Bevor Sie sie tot in Ihrem Kuhstall gefunden haben?«

»Nein«, antwortete Eli. »Sie sagen, dieses Pub ist das alte Foot? Ich bin seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Es wurde irgendwann zu vornehm und zu teuer für einen armen alten Kerl wie mich. Wie ich höre, soll das Essen genauso vornehm sein, nichts Anständiges mehr wie Soleier und so weiter.«

»Der Name dieser jungen Frau«, sagte Jess, »war Eva. Eva Zelená. Haben Sie diesen Namen schon mal gehört?« Sie sah Penny an, um sie in die Frage mit einzuschließen.

»Nein«, antworteten beide unisono.

Jess konzentrierte sich wieder auf Eli. »Sie scheinen sich Ihrer Sache ziemlich sicher, Mr. Smith. Aber Sie haben nur das verzerrte Gesicht der Toten gesehen. Sie haben sich geweigert, einen zweiten Blick auf sie zu werfen, als die ersten Beamten im Streifenwagen auf Ihrer Farm eintrafen. Sie haben ihnen gesagt, Sie wollten die Tote nicht mehr sehen.«

»Selbstverständlich bin ich sicher!«, rief Eli unwirsch. »Ich bin weder blind noch doof. Ich weiß, dass das Mädchen in meinem Kuhstall dieses hier ist …« Er tippte erneut mit dem Finger auf Eva in der Vergrößerung. »Natürlich hat sie nicht gelächelt wie auf diesem Photo hier. Aber das erwartet man ja auch nicht, wenn jemand tot auf dem Boden liegt, oder? Ihre Augen waren hervorgequollen, und ihr Mund stand offen …«

Ein weiteres, lauteres Ächzen von Penny Gower.

Eli blickte zu ihr. »Äh, wie dem auch sei, Inspector – Sie haben sie selbst gesehen, wie sie in meinem Stall gelegen hat. Sie mag nicht mehr hübsch und zurechtgemacht ausgesehen haben, aber sie sah trotzdem noch aus wie dieses Mädchen hier.« Er zeigte einmal mehr auf die Vergrößerung. »Wenn ich Ihnen dieses Bild zeigen würde, würden Sie sie etwa nicht erkennen?«

»Schwierig zu sagen, finde ich«, gestand Jess.

»Für mich ist es nicht schwierig, Inspector. Ich mag ein altes Landei sein, aber ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter. Das ist sie.«

»Und Sie haben sie nie zuvor hier in der Gegend gesehen? Lebendig, meine ich? Oder sonst jemanden von diesem Photo?«

Eli bedachte sie mit einem ärgerlichen Blick wie jemand, der von einem Kind gepiesackt wird.

»Nein. Wie ich Ihnen bereits sagte, ich kenne niemanden. Ich hab noch nie jemanden von denen da gesehen, nicht lebendig und nicht tot, nur dieses junge Mädchen. Und das war auch nur dieses eine einzige Mal, tot in meinem Kuhstall!«

Mit diesen Worten wandte er sich ab und stapfte davon.

»Sie müssen ihn entschuldigen«, sagte Penny Gower. »Er ist wirklich sehr aufgebracht. All das erinnert ihn stark an den Mord an seinen Eltern und an seinen Bruder, der sie erschossen hat. Abgesehen davon jährt sich diese schreckliche Geschichte in der nächsten Woche wieder einmal.«

»Tatsächlich?«, fragte Jess überrascht.

»Das hat er mir eben erst erzählt, kurz bevor Sie gekommen sind. Er sagte, am Donnerstag nächster Woche wären es siebenundzwanzig Jahre. Er hat nicht gesagt, dass es ein Jahrestag wäre oder so etwas, aber es war klar, was er gemeint hat.«

Jess verdaute diese Information. Das Datum musste in der Akte stehen, und sie musste es gelesen haben. Sie hätte sich erinnern und die Verbindung herstellen müssen. Reiß dich verdammt noch mal zusammen, Jess! Es ist keine große Überraschung, dass Smith so reagiert. Er weiß genau, dass sich der Jahrestag nähert, dass es nur noch eine Woche ist. Konnte es sein, dass er Eva auf dem Farmhof überrascht hatte und – aus einem bis jetzt noch nicht bekannten Grund – die Beherrschung verloren und sie angegriffen hatte?

Andererseits, was hatte Eva Zelená auf der Farm zu suchen gehabt? Mehr noch, wie war sie dahin gekommen, ohne eigenen Wagen?

Der silberne Mercedes, dachte Jess. Wir müssen den silbernen Mercedes finden. Penny blickte verlegen drein und scharrte mit der Spitze ihres Reitstiefels am Torpfosten. Solo hatte sich zur anderen Seite der Koppel entfernt und war nur noch klein in der Ferne zu erkennen.

»Inspector? Da wäre noch etwas, das ich gerne sagen würde, jetzt, wo ich eine Gelegenheit dazu habe und niemand uns hören kann. Es hat nichts mit dem Fall zu tun, den Sie untersuchen. Es ist mehr eine persönliche Sache und betrifft mich und Andrew Ferris.« Penny errötete und schwieg.

»Hören Sie«, sagte Jess beruhigend. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Art von Einleitung vor einem Geständnis gehört hatte. Es handelte sich vielleicht nicht einmal um etwas Illegales oder auch nur Fragwürdiges. Doch viele Menschen, normalerweise die naivsten und unschuldigsten von allen, hatten das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.

»Ich interessiere mich nicht für das Privatleben anderer, solange es nichts mit meinen Ermittlungen zu tun hat«, fuhr Jess fort. »Ich verstehe sehr wohl, wie sich Zeugen fühlen müssen. Wir stellen alle möglichen Fragen, und eine Menge davon erscheinen aufdringlich und neugierig. Ich finde es genauso peinlich wie mein Gegenüber, derartige Fragen zu stellen, glauben Sie mir. Aber ich suche wirklich nichts weiter als Informationen, die mir helfen herauszufinden, wer dieses arme Mädchen ermordet hat.«

Penny fing eine Strähne lockiger Haare ein, die sich aus einer Spange gelöst hatte und ihr ins Gesicht fiel. Sie schob sie hinter das Ohr.

»Ja, ich weiß. Aber es gibt trotzdem etwas, das ich Ihnen erklären möchte.«

»Nun, dann schießen Sie los«, munterte Jess sie neugierig geworden auf.

»Ich will einfach nicht, dass sie eine falsche Vorstellung von Andrew und mir bekommen. Wir sind gute Freunde. Er hat mir wunderbar geholfen, und er ist im Herzen ein richtiger Landmensch, auch wenn er in einem Büro arbeitet. Er ist gerne hier draußen bei den Pferden, und die Arbeit im Stall macht ihm Spaß, das Errichten von Hindernissen, das Herumreiten auf den Wiesen. Wir haben das große Glück, Elis Land benutzen zu dürfen, das zum größten Teil brachliegt. Dort drüben weiden einige Schafe …« Sie deutete in die Richtung jenseits der Koppel, an Solo vorbei, der energisch an den Grasbüscheln zupfte.

»Nicht Elis Schafe. Sie gehören einem anderen Farmer. Eli hat ihm ein paar Weiden verpachtet. Aber das ist alles, was es hier gibt. Man kann den ganzen lieben langen Tag herumreiten und begegnet keiner Menschenseele. Es ist friedlich hier draußen und still – abgesehen von den jüngsten Ereignissen, heißt das.

Worauf ich hinauswill, Inspector – wir sind wirklich nur Freunde, mehr nicht. Andrew ist verheiratet. Es ist kein Geheimnis, dass seine Ehe nicht besonders glücklich ist. Seine Frau ist ständig unterwegs. Sie ist Reisebegleiterin und führt Gruppen durch ganz Europa. Andrew und seine Frau haben keine Kinder. Ich denke, sie schlittern einer Scheidung entgegen, aber nicht wegen mir. Andrew hat genug Kummer in dieser Hinsicht hinter sich. Wenn er bei mir ist, fühlt er sich glücklich. Ich habe ebenfalls Kummer hinter mir. Das ist der Grund, warum ich mich hierher aufs Land verkrochen habe. Wir wurden beide von unseren jeweiligen Partnern verletzt. Ich will nicht klingen wie eine Briefkastentante, ich will nur, dass Sie keine falschen Vorstellungen haben.« Penny schnitt eine Grimasse.

»Danke für die aufschlussreichen Worte«, sagte Jess.

»Ich danke Ihnen«, erwiderte Penny. Sie stieß sich vom Gatter ab. »Es tut mir leid, dass weder Eli noch ich Ihnen mit dem Photo weiterhelfen konnten.«

»Oh, machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Irgendwann wird uns jemand weiterhelfen, ganz bestimmt.« Jess hoffte inbrünstig, dass es so war.

Phil Morton hatte die Aufgabe übernommen, die Stammgäste des Foot to the Ground zu befragen. Er beschloss, zuerst Mark Harper auf den Zahn zu fühlen. Aus diesem Grund war er am Donnerstagmorgen zum Lower Lanbury House gefahren in der vagen Hoffnung, den Gentleman zu Hause anzutreffen oder zumindest einen Blick in die Runde zu werfen, falls Harper nicht daheim war. Doch der dunkelrote Geländewagen parkte draußen vor dem von einem Säulenvorbau geschmückten Eingang, und sobald Morton aus dem Wagen stieg, wurde die Haustür geöffnet. Ein großer, stabil gebauter Mann erschien und erstarrte kurz, als er Morton bemerkte. Dann kam er geradewegs auf ihn zu, die Wagenschlüssel in der Hand.

Ich hab ihn wohl auf dem Weg nach draußen erwischt, dachte Phil. Ich frage mich, wohin er bloß will?

»Irgendetwas sagt mir«, begann der Mann, als er vor Morton angekommen war, »dass Sie auch einer von diesen Polizisten sind.« Sein Tonfall war beleidigend.

»Mr. Harper?«, fragte Morton eisig, indem er seinen Ausweis zückte und dem anderen vor das Gesicht hielt. »Ich bin Sergeant Morton. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit?«

Harper schien für einen Moment die Schwierigkeiten abzuschätzen, die Morton ihm machen konnte, bevor er beschloss, sich kooperativ zu geben. »Selbstverständlich«, sagte er dann. »Kommen Sie, wir gehen besser ins Haus. Es ist niemand da, und wir müssen nicht hier draußen herumstehen.«

Wo jederzeit jemand vorbeikommen und uns sehen könnte …, dachte Morton trocken, während er Harper nach drinnen folgte. Er warf einen Blick hinauf zur Decke des Säulenvorbaus, bevor er ihn betrat. Und das geht überhaupt nicht, oder?

»Ihre Frau ist nicht daheim?«, fragte Morton, als sie in einem Zimmer angekommen waren, das dem Anschein nach als Büro diente.

»Ja«, antwortete Harper schroff. »Setzen Sie sich, Sergeant, wenn Sie wollen.« Er deutete auf einen Sessel und nahm selbst Platz.

»Sie wissen, dass wir wegen einer ermordeten Kellnerin ermitteln, die in einem lokalen Pub gearbeitet hat, dem Foot to the Ground.« Es war eine Feststellung, keine Frage, mit der Morton die Unterhaltung begann.

Er wurde sogleich unterbrochen.

»Ich habe bereits mit Inspector Campbell gesprochen. Sie war im Pub.« Harpers Tonfall ließ erkennen, dass er die Angelegenheit damit als erledigt betrachtete. Doch da kannte er Phil Morton schlecht.

»Das ist richtig, Sir. Doch als Inspector Campbell mit Ihnen gesprochen hat, wussten wir nur, dass eine der Kellnerinnen verschwunden war. Inzwischen wissen wir jedoch, dass die Leiche der jungen Frau, die auf der Cricket Farm gefunden wurde, die ebenjener jungen Kellnerin ist. Wir haben ein vergrößertes Photo, auf dem sie noch lebendig zu sehen ist. Sie haben Inspector Campbell gesagt, Sie könnten sich nicht erinnern, welche der Kellnerinnen es war, deswegen frage ich mich, wenn Sie das hier ansehen …« Morton zückte die Vergrößerung und hielt sie Harper hin. »Vielleicht hilft das Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge, Sir.«

Harper nahm das Photo zögernd entgegen. »Oh. Ich weiß, woher Sie das haben! Es ist von diesem Faltblatt, das Jake als Werbung für sein Lokal hat drucken lassen!«

»Ganz recht, Sir. Und das hier ist die ermordete Kellnerin.« Er beugte sich vor und deutete auf Eva Zelená. »Erkennen Sie sie jetzt?«

Harper warf einen neuerlichen Blick auf das Bild. »Nein. Ja. Vielleicht. Undeutlich, meine ich. Aber sie sehen alle mehr oder weniger gleich aus, diese Mädchen, die im Foot to the Ground arbeiten. Das alles habe ich Ihrem Inspector schon gesagt, Sergeant. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie hier sind.«

»Weil wir jeden finden müssen, der Kontakt mit der Toten hatte, ganz gleich, wie flüchtig«, erklärte Morton und nahm die Vergrößerung wieder an sich.

Harper schien froh, sie aus der Hand zu geben. »Nun, flüchtiger als mein Kontakt zu ihr geht jedenfalls kaum. Ich hab vielleicht zwei Pints von ihr an der Theke gekauft.«

»Waren Sie überrascht, als Sie hörten, dass sie so unerwartet verschwunden ist?«

»Nein, keineswegs, und das habe ich Inspector Campbell auch so gesagt. Diese Mädchen kommen aus dem Ausland, allesamt. Ich habe Jake gewarnt, dass er nichts über sie weiß, absolut gar nichts. Niemand vermag zu sagen, zu was sie imstande sind. Wahrscheinlich ist sie …« Harper brach ab.

»Ja, Sir?«, hakte Morton interessiert nach.

»Nichts. Wie ich bereits sagte – ich kannte sie nicht.«

»Uns interessiert jede Theorie, Sir.«

»Tatsächlich? So verzweifelt?« Harper grinste ihn spöttisch an. »Nun, wenn Sie meine Meinung hören wollen – sie ist wahrscheinlich auf den Strich gegangen.«

»Warum sollte sie als Prostituierte arbeiten, Sir? Sie hatte eine Arbeit und eine Unterkunft.«

»Sie hat vielleicht nebenher einen zweiten Job ausgeübt, schwarz. Diese Mädchen sind alle … na ja.« Er zuckte die Schultern.

»Aber Sie haben keinen Beweis für diese Theorie?«, fragte Morton seidig.

Etwas in seiner Stimme warnte Harper, dass er sich auf gefährliches Terrain begeben hatte.

»Nein, absolut nicht. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich hätte es wohl auch nicht gesagt, wenn Sie mich nicht bedrängt hätten.«

»Sie haben die Tote nie selbst für Sex bezahlt?«

»Was? Zum Teufel, nein! Sie haben kein Recht, so etwas zu unterstellen! Als wäre ich so dämlich, so nah an Zuhause derartige Dummheiten anzustellen!« Er beugte sich vor. »Hören Sie, das ist reine Zeitverschwendung, Sergeant. Ich war letzte Woche nicht mal hier in der Gegend. Ich bin erst am Samstag wiedergekommen.«

»Und wo waren Sie in der letzten Woche, Sir?«, fragte Morton höflich.

»In London, geschäftlich!«, schnappte Harper.

»Gibt es jemanden, der das bestätigen könnte?« Morton klappte sein Notizbuch auf.

Harper lief rot an vor Verärgerung. »Herrgott im Himmel! Brauche ich vielleicht ein Alibi?«

»Routine, Sir, reine Routine, seien Sie beruhigt.« Morton hielt seinen Kuli gezückt.

»Nun, ich … ich hatte am Donnerstagmorgen einen Termin mit meinem Bankmanager. Er wird Ihnen das bestätigen.«

»Was ist mit dem restlichen Donnerstag, Sir? Und Freitag? Sie sagen, Sie sind erst am Samstag wieder zurückgekehrt.«

Harper lehnte sich in seinem Sessel zurück, die Hände auf den Oberschenkeln. »Hören Sie, Sergeant – das hier ist vertraulich, richtig?«

»Das hier ist eine polizeiliche Ermittlung, Sir«, erinnerte Morton ihn.

»Das weiß ich selbst!« Harper ging erneut an die Decke. Dann riss er sich sichtlich zusammen. »Ich meine, wenn es nichts mit Ihren Ermittlungen zu tun hat, geht es nicht weiter als bis in Ihr Notizbuch und zu Inspector Campbell, ist das richtig?«

»Wenn es nicht für unsere Ermittlungen von Bedeutung ist, Sir. Wenn Sie uns also einen Namen und eine Adresse mitteilen würden, damit wir uns Klarheit verschaffen könnten …?«

»Ich … ich habe eine Freundin«, gestand Harper zögernd. »Ich war ein paar Nächte bei ihr. Ich will nicht … es gibt keinen Grund, dass meine Frau davon erfährt. Ich kenne die betreffende Dame bereits sehr lange, schon aus der Zeit, bevor ich verheiratet war. Sie … ach, was interessiert Sie der Hintergrund von alledem? Sie ist technisch gesehen ebenfalls verheiratet, aber sie lebt getrennt. Ihr Mann wohnt im Ausland. Ich will nicht, dass sie in Verlegenheit gebracht wird. Ihr Mann ist Diplomat. Die falschen Zeitungen könnten einen riesigen Skandal produzieren.«

»Wir werden sehr taktvoll vorgehen, Sir«, versprach ihm Morton. »Nun denn, wenn ich um den Namen und die Anschrift bitten dürfte?«

Harper nannte beides und sah sehr unglücklich dabei zu, wie Morton beides niederschrieb.

»Verraten Sie mir, Sir«, sagte Morton, als er mit Schreiben fertig war, »wann genau haben Sie von dem Mord erfahren?«

»Wann ich davon erfahren habe?« Harper funkelte ihn ärgerlich an. »Was denken Sie denn? Als ich aus London zurückgekommen bin, am Samstagnachmittag, wie ich bereits gesagt habe! Meine Frau hat mir die Neuigkeiten erzählt. Sie hat ein Pferd unten im Berryhill Reitstall und verbringt viel Zeit dort. Sie geht der Besitzerin zur Hand. Meine Frau ist ganz närrisch mit Pferden. Inspector Campbell war auch schon dort und hat mit ihr gesprochen.«

»Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, es könnte sich um die verschwundene Kellnerin handeln, als Sie von Ihrer Frau erfuhren, dass auf der Cricket Farm eine Leiche gefunden wurde?«

»Nein zur Hölle, warum sollte es? Jake Westcott war überzeugt, dass die verschwundene Kellnerin nach Cheltenham gegangen war, um dort eine andere Stelle anzutreten. Warum sollte ich etwas anderes glauben?« Harper lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich denke, ich habe alle Fragen beantwortet, Sergeant, die ich beantworten kann und will. Da ich nicht in der Gegend war, als diese Sache passiert ist, und ich Ihnen eine zufriedenstellende Erklärung für meine Abwesenheit geliefert habe, sehe ich wirklich nicht, wie Sie noch weiteren Nutzen aus diesem Verhör ziehen könnten. Falls Sie es dennoch fortsetzen möchten, dann wird dies zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort und in Gegenwart meines Anwalts sein.«

Harper stand auf der Treppe vor der Haustür und sah seinem Besucher hinterher, bis dieser davongefahren war, dann kehrte er in die Eingangshalle zurück und warf die massive Eichentür hinter sich ins Schloss.

»Verdammter Dreck!«, sagte er mit Nachdruck. Die Worte hallten von der hohen Decke wider.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

Harper blickte auf und erbleichte. Seine Frau stand in der Tür zum Esszimmer, gleich neben dem Büro. Sie trug ihre übliche Uniform aus Reithosen und ärmelloser Weste.

»Wer war das?«, wollte sie wissen.

»Ich dachte, du bist im Reitstall?« Er starrte sie verlegen an.

»Ich wurde aufgehalten … ich musste mich erst um ein Schreiben kümmern. Ich habe am Esstisch gesessen und es beantwortet.«

»Oh. Nun ja, es war die Polizei. Nichts, worüber du dir Gedanken machen müsstest. Sie haben die Leiche identifiziert, von der du kürzlich erzählt hast, die junge Frau, die auf der Cricket Farm gefunden wurde. Es war eine von Jake Westcotts Kellnerinnen. Die Polizei befragt jetzt sämtliche Stammgäste.«

»Hast du sie umgebracht?«, fragte seine Frau in jenem ätzenden, gleichmütigen Tonfall, den sie in jüngster Zeit entwickelt hatte und in dem sie immer wieder unerwartete und peinliche Fragen stellte.

»Natürlich nicht! Bist du nicht ganz bei Trost? Ich gehöre nicht zu den Verdächtigen! Es war eine Routineangelegenheit, mehr nicht. Außerdem war ich letzte Woche nicht mal hier.«

»Das stimmt«, sagte sie einvernehmlich. »Du hast ein Alibi.«

Schweigen. Harper starrte seine Frau missmutig an, bevor sein Blick von der offenen Esszimmertür hinter ihr zur offenen Bürotür ging. »Wie viel von unserer Unterhaltung hast du mitgehört?«, fragte er misstrauisch.