Kapitel 7
Die Abendsonne tauchte ihr Büro in goldenes Licht und zeigte überdeutlich, wo die Putzfrau auf den Holzdielen die Ecken ausgelassen hatte. Jess saß mit der aufgeschlagenen Akte über den Doppelmord auf der Cricket Farm an ihrem Schreibtisch. Hinter ihr lag ein langer Tag, und sie war erledigt. Sie sehnte sich danach, heimzugehen und endlich zu duschen und neue Kleidung anzuziehen. Ringsum schickten sich ihre Kollegen an, genau dies zu tun. Das Gebäude leerte sich. Schritte hallten durch die Gänge, und die gelegentlichen »Schönen Feierabend«-Rufe echoten von den Wänden und der Decke. Jess hörte, wie unten auf dem Parkplatz Motoren angelassen wurden und neue Wagen kamen. Die Nachtschicht traf ein.
»Los, mach auch Feierabend, Jessica«, flüsterte sie zu sich selbst. Doch die Akte ließ sie nicht los. Vor ihrem geistigen Auge entrollte sich die traurige, schauerliche Geschichte, die sich in dem düsteren, verlassenen Haus abgespielt hatte. Die modernden Vorhänge und das verstaubte Mobiliar und über allem der ranzige Geruch, der immer noch in ihrer Nase haftete, führten sie dorthin zurück. Während sie in der Akte las, versuchte sie, sich die Szene vorzustellen, die sich an jenem schicksalhaften Tag abgespielt hatte. Sie sagte sich, dass es notwendig war zur Lösung des gegenwärtigen Falles, was zumindest ein Stück weit stimmte – immerhin hatte Eli Smith den neuen Leichnam gefunden. Doch in Wirklichkeit wusste sie, dass es morbide Faszination war, die sie antrieb.
Ah, hier kamen die Zeugenaussagen. Die erste von einer gewissen Mrs. Doreen Warble.
»Ich bin am Donnerstagnachmittag mit dem Fahrrad rüber zur Cricket Farm, um die Eier zu holen. Ich kaufe meine Eier immer bei Millie Smith. Wenn man sie auf der Farm kauft, weiß man, dass sie frisch sind. Ich kaufe nie Eier im Geschäft. Außerdem, ich kenne Millie schon seit Jahren, seit wir Kinder waren. Sie kriegt nicht … sie hatte nie viel Besuch. Cricket war nicht sehr einladend, nicht mit Albert, ihrem Ehemann. Aber ich hatte noch einen anderen Grund, um die Eier bei Millie zu kaufen. Millie hatte mich gerne bei sich, und sie hat immer einen Kuchen gemacht, wenn ich kam. Ich hab dann eine Stunde bei ihr rumgesessen und erzählt, was es an Neuigkeiten im Dorf so gab. Albert gefiel das nicht. Er hielt unsere Tasse Tee und unser Schwätzchen für typischen Weiberkram und Zeitverschwendung!
Ich muss daran denken, die richtige Zeit zu benutzen, jetzt, wo sie tot ist. Es fällt mir schwer zu glauben, dass sie nicht mehr da ist. Und Albert auch nicht. Es ist so, wie es im Gebetbuch steht. Mitten im Leben finden wir den Tod. Man weiß nie im Voraus, wann man geholt wird, nicht wahr? Ich hoffe nur, ich sterbe in meinem eigenen Bett und nicht so wie die arme Millie.
Mir fehlt unser wöchentliches Schwätzchen. Ich weiß noch gar nicht, wo ich jetzt meine Eier kaufen soll. Wer auch immer die Farm übernimmt, ob es nun Eli ist oder jemand anders, ich gehe bestimmt nie wieder nach Cricket. Ich werde sie immer sehen wie an diesem Donnerstag.
Im Hof war alles ruhig, aber das war nicht ungewöhnlich, wenn ich dort ankam. Es ging auf fünf Uhr zu. Die Hühner liefen herum und pickten im Dreck, wie sie das immer tun. Die Kühe waren noch nicht wieder im Stall zum Melken, aber es war nicht mehr lange hin, und ich wollte wieder weg sein, bevor es so weit war. Sie machen so einen Dreck auf der Straße, und ich muss mit dem Fahrrad mittendurch. Ich war ein wenig später dran, als ich eigentlich vorgehabt hatte. Ich frage mich immer und werde mich bis an mein Lebensende fragen, ob die Dinge anders gelaufen wären, wenn ich eine halbe Stunde eher gekommen wäre. Ob Millie noch am Leben oder ob ich ebenfalls tot wäre, wenn ich hineingeschneit wäre, als Nathan dieses Schrotgewehr abgefeuert hat.
Ich habe mich nicht besonders umgesehen. Ich hatte keinen Grund dafür, und ich hatte es eilig, weil ich so spät dran war. Ich stellte mein Rad an die Hauswand und ging außen rum zur Hintertür. Das hab ich immer so gemacht.
Als ich die Tür gerade erreicht hatte, kam Eli raus. Er stand vor mir, sodass ich nicht reinkam. Er sah wirklich ganz merkwürdig aus, das Gesicht kreidebleich und die Augen rot. Er hat kein Wort gesagt. Ich hab ihn gefragt, was denn los ist, ob ihm was fehlt? Ich musste zweimal fragen, und beim zweiten Mal hab ich ihn fast angebrüllt, bis er mich gesehen hat. Vorher dachte ich, er guckt geradewegs durch mich durch.
Jedenfalls, irgendwie ist er dann zu sich gekommen und hat mich angestarrt. ›Mum und Dad sind tot‹, hat er gesagt. Ich hab gedacht, ich hör nicht richtig. Mir ist das Blut in den Adern gefroren, und zur gleichen Zeit hab ich ihm nicht glauben wollen. Wie sollte ich auch? Alle beide? Gut und schön, wenn einer von ihnen plötzlich gestorben wäre, durch einen Herzanfall oder einen Unfall, das hätte ich ja noch verstehen können, aber beide? Nein, bestimmt nicht, auch wenn auf Farmen immer wieder Unfälle passieren, das ist normal. Also hab ich ihm sofort gesagt: ›Red keinen Unsinn, Eli!‹
›Geh rein, und sieh selbst nach, wenn du willst‹, antwortete er. ›Aber es ist kein schöner Anblick.‹
Ich fing an zu denken, dass wirklich etwas ganz Furchtbares passiert sein musste, und ich bekam es mit der Angst. Ich fragte ihn, wo Nathan wäre, und er sagte zu mir, im Haus, und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. Ich fragte ihn, ob mit Nathan alles in Ordnung wäre, und er meinte, wie man’s nimmt, abgesehen davon, dass er den Verstand verloren hätte.
Ich kann Ihnen sagen, ich hatte plötzlich eine schreckliche Angst. Ich wäre am liebsten davongelaufen, aber meine Beine wollten nicht. Ich stand wie angewurzelt an Ort und Stelle. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mich auf den Beinen gehalten habe. Ich war wie erstarrt vor Angst, und das ist die Wahrheit.
Aber dann, nach einer Weile, sagte ich zu mir, dass ich nachsehen musste, was mit Millie passiert war. ›Los doch, Doreen!‹, sagte ich mir. ›Du kannst später ohnmächtig werden, aber jetzt nicht.‹ Tatsache ist, ich glaube, ich bin, nein, ich war die einzige Freundin, die die arme Millie hatte. Ich mochte ihren Mann nicht besonders. Er ist … er war ein richtiger alter Miesepeter. Ich weiß, es heißt, man soll nicht schlecht reden über die Toten, aber es gibt einfach nichts Gutes, was sich über Albert Smith sagen ließe. Er redete kaum je ein Wort, und er begrüßte einen nicht. Wenn man Hallo zu ihm sagte, bekam man ein Grunzen zur Antwort. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal lächeln sehen. Als junges Mädchen war Millie richtig hübsch und lebendig. Aber nachdem sie ihn geheiratet hatte, ging es nur noch bergab für sie. Er hat ihren Geist getötet, lange, bevor das hier passiert ist.
Wie dem auch sei, ich hab zu Eli gesagt, dass ich in die Küche wollte und ob sein Bruder da drin wäre? Weil ich keine große Lust spürte, Nathan über den Weg zu laufen, solange er nicht ganz bei Trost war. Verstehen Sie, ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass Nathan seine Eltern getötet hatte. Ich dachte, Eli hätte gemeint, sein Bruder wäre durchgedreht, weil er seine beiden Eltern tot vorgefunden hätte. Ich glaubte ihm auch irgendwie immer noch nicht, dass beide tot waren, um die Wahrheit zu sagen. Jedenfalls, ich bin dann ins Haus, und Eli hat nicht versucht, mich aufzuhalten.
Gott ist mein Zeuge, ich hoffe, dass ich nie wieder so einen Anblick sehen muss wie diesen! Es sah aus, als hätte eine Schlacht stattgefunden dort drinnen. Blut, überall Blut. Einer der Stühle war umgekippt, und dahinter, auf dem Rücken, lag Albert. Obwohl, der größte Teil seines Kopfes war weggeschossen, und es hätte auch jemand anders sein können. Ich hab ihn an seiner Uhrkette erkannt. Er hat immer die goldene Taschenuhr von seinem Vater getragen, an einer Kette vor der Weste. Sommer wie Winter, ich hab ihn nie ohne seine Weste und seine goldene Uhrkette gesehen.
Millie war nicht in der Küche, und ich hab ein paar Mal ihren Namen gerufen. Bis Eli hinter mir reinkam und meinte, seine Mutter wäre in der Waschküche.
Ich bin ganz vorsichtig um Albert rum, um ihn nicht zu berühren, und in die Waschküche. Diesmal war ich quasi vorbereitet, wenn man überhaupt vorbereitet sein kann auf einen so grauenhaften Anblick. Die arme Millie lag auf dem Boden, mit dem Rücken gegen den Waschkessel. Er – Nathan – muss die Schrotflinte auf sie gerichtet und einfach abgedrückt haben.
Irgendwie wurde mir erst in diesem Augenblick so richtig bewusst, was passiert war. Ich wusste, dass Nathan noch irgendwo im Haus war und dass er das Gewehr bei sich hatte. Ich drehte mich um und rannte durch die Küche nach draußen und in Sicherheit, so schnell ich konnte.
Eli war auch wieder nach draußen gegangen und stand nur da. ›Ich hab’s dir gesagt‹, sagte er zu mir. Ich fragte ihn, wo das Gewehr wäre und ob Nathan es noch hätte. Nein, meinte er, es läge auf dem Küchentisch. Ich schätze, das muss es wohl auch, aber um ehrlich zu sein, ich habe es nicht gesehen. Es war dunkel in dieser Küche, selbst am helllichten Tag, und ich hatte nur Augen für Albert, der am Boden in seinem Blut lag. Danach bin ich in die Waschküche gegangen. Ich habe nicht auf den Tisch gesehen.
Ich habe zu Eli gesagt, dass wir die Polizei rufen müssen, aber er schien nicht dazu imstande. Es half alles nichts, ich musste mich auf mein altes Fahrrad setzen und zum Hart Pub fahren, dem nächsten Gasthof, und dem Wirt erzählen, was passiert war, damit er Sie anrufen konnte. Ich hab nicht aus dem Haus angerufen, weil ich nicht wusste, wo Nathan steckte, nur, dass er nicht bei Sinnen war und durch das Haus streifte. Ich wusste nicht, ob das Gewehr noch in der Küche war oder ob Nathan in der Zwischenzeit runtergekommen war, um es zu holen. Eli meinte zwar, es läge auf dem Tisch, aber ich hab es nicht bemerkt, wie schon gesagt. Wie dem auch sei, ich glaube, selbst wenn Nathan nicht da gewesen wäre, hätte ich es nicht fertiggebracht, noch einmal über den toten Albert zu steigen, in dem Wissen, dass die arme Millie mit einem großen Loch in der Brust draußen in der Waschküche sitzt. Außerdem hatte ich irgendwie im Kopf, dass wir nichts anfassen durften. Aber das ist vielleicht nur in Kriminalromanen so.
Die Polizei sagte dem Wirt, dass er mich in seinem Pub behalten solle, bis sie dort wäre. Er musste mich nicht groß überzeugen, wie Sie sich denken können! Ich hatte nicht vor, zu dieser Farm zurückzufahren! Der Wirt gab mir einen Brandy. Meine Hände zitterten so stark, dass ich kaum das Glas halten konnte. Ich werde wohl niemals wissen, wie ich es geschafft habe, mit dem Fahrrad bis zu diesem Pub zu fahren, ohne herunterzufallen. Ich konnte jedenfalls nicht mehr zurück nach Hause. Mein Sohn kam später mit seinem Wagen vorbei, legte mein Fahrrad in den Kofferraum und fuhr mich nach Hause. Ich glaube nicht, dass ich jemals darüber hinwegkommen werde.«
Die arme Doreen Warble. Wie tapfer sie gewesen war. Jess stieß einen Seufzer aus und wandte sich der nächsten Aussage zu – der von Eli Smith.
»Ich war auf dem Markt gewesen. Wir hatten ein paar Kühe verkauft. Ich hatte einen ordentlichen Preis erzielt. Dad würde zwar nicht zufrieden sein, aber er sagte immer, es wäre nicht genug. Er hatte schon am Morgen über die Preise gebrummt, noch bevor ich aufgebrochen war. Es war alles ganz normal, wie immer. Dad brummte, Mum machte sich bereit für die Wäsche, Nathan kämmte sich die Haare vor dem Spiegel mit irgend so ’nem Zeugs, das er sich aus der Stadt mitgebracht hatte. Dad meinte, er würde damit riechen wie ein Nuttenboudoir, und schimpfte auch deswegen in sich hinein.
Als ich zur üblichen Zeit vom Markt zurück nach Hause kam, betrat ich das Haus durch die Hintertür. Wir sind immer hinten rein. Wir benutzen die Vordertür so gut wie nie. Ich konnte das Blut schon riechen. Ich wusste, dass etwas geschlachtet worden war, und ich dachte, jemand hätte ein paar Hühner fertiggemacht. Dann bemerkte ich Nathan am Küchentisch. Er hatte so ein eigenartiges Grinsen im Gesicht, und vor ihm lag das Gewehr. Sein Hemd war auf der Vorderseite blutbesprenkelt, von oben bis unten. Ich fragte ihn: ›Was hast du getan, Nat?‹
Er antwortete, er hätte Mum und Dad erschossen, alle beide. Er zeigte auf Dad, der am Boden lag. Ich fragte ihn, wo Mum wäre, und er meinte, sie wäre in der Waschküche. Ich ging nachsehen, und was soll ich sagen, da lag sie. Ich ging zurück in die Küche und fragte ihn, warum er das getan hatte. Er meinte nur: ›Es wurde Zeit‹, weiter nichts. Einfach so. Es wurde Zeit. Mehr nicht. Er stand auf und sah an sich herunter, und dann meinte er, es wäre wohl besser, wenn er nach oben ginge, um sich zu waschen. Er ging raus, und ich hörte, wie er die Treppe hinaufstieg und im Badezimmer die Wasserhähne aufdrehte.
Ich ging nach draußen und steckte mir eine Zigarette an. Ich muss zwei oder drei geraucht haben, während ich einfach nur dastand und nicht wusste, was ich tun sollte. Ich zitterte am ganzen Leib, außen wie innen. Dann kam Doreen Warble wegen ihrer Eier. Ich erzählte ihr, was passiert war, und sie übernahm mehr oder weniger das Kommando. Sie ist eine gute Frau, unsere Doreen. Mum hielt große Stücke auf sie.«
Jess klappte die Akte zu. War es ein Streit um eine Lappalie gewesen wie beispielsweise die parfümierte Pomade, die Nathan sich in die Haare rieb? Hatte sein Vater eine Beleidigung zu viel ausgestoßen? Es wurde Zeit … Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte nach all den Jahren. Nathan hatte dem Gemurre ein Ende gemacht, ein für alle Mal.
Sie packte zusammen und ging nach Hause.
Unter anderen Umständen wäre Lucas hochzufrieden gewesen an jenem Montagmorgen. Er hatte gute Arbeit geleistet an seinem zerkratzten Außenspiegel, und es hatte ihm sogar Spaß gemacht. Es hatte ihn in seine Jugend zurückversetzt, in eine Zeit, als er an allen möglichen alten Schrottkisten gebastelt und kleine Wunder bewerkstelligt hatte.
»Ah, glückliche Zeiten …!«, murmelte Lucas zu sich selbst. Doch nein, dachte er dann. Nein, keine glücklichen Zeiten, ganz und gar nicht! Im Gegenteil. Es waren verdammt elende Zeiten. Wie dem auch sei, es hatte ihm schon immer Freude gemacht, an alten Autos zu arbeiten.
Wenigstens hatte er sich damals nicht den Kopf zerbrechen müssen wegen irgendwelcher Leichen im Hof. Er polierte ein letztes Mal über die Verkleidung des Spiegels und trat zurück, um sein Werk zu begutachten. Seine Selbstzufriedenheit verflog augenblicklich, als er ein Klopfen am Rolltor seiner Mietgarage hörte.
Er spürte einen Stich von Panik. Das konnten doch unmöglich die Cops sein?
»Wer ist da?«, rief er in möglichst gelassenem Tonfall.
Der andere nannte seinen Namen. Seine Stimme klang gedämpft durch die Tür.
»Verdammt!«, murmelte Lucas, trotzdem ging er zum Tor und schob es hoch, um seinen Besucher nach drinnen zu winken, bevor er es hastig wieder schloss.
»Ich habe gesagt, dass wir fertig sind miteinander!«, sagte er in scharfem Ton. »Was zum Teufel soll das? Ich will keinerlei Kontakt mehr!«
»Ich bin hier«, kam die gelassene Antwort, »weil du mir gesagt hast, dass ich mich unter keinen Umständen bei dir zu Hause blicken lassen soll. Ich dachte, ich versuche mein Glück und probiere es bei der Garage. Hast du an deinem Benz gebastelt?«
»Ich bastele nicht mehr«, begann Lucas mürrisch. »Ich habe einen Kratzer rauspoliert, den ich mir wahrscheinlich auf dieser verdammten Farm zugezogen hab. Zumindest wäre es möglich, dass er von dort stammt. Ich hoffe, dass es nicht so ist, aber trotzdem …«
Je weniger sein Besucher wusste, desto besser, ging es ihm durch den Kopf.
»Ich will nur sicher sein, dass der Wagen gut in Schuss ist«, fügte er hinzu, viel zu spät, wie er wusste, und warf das Poliertuch achtlos über den Spiegel.
Der andere lehnte sich gegen den Wagen, und das ärgerte Lucas nur noch mehr.
»Weißt du eigentlich, was sie in der Bullenschule lernen?«, fragte er den anderen angewidert. »Fass nie den Wagen an. Wenn ein Bulle einen Autofahrer anhält, dann beugt er sich vor der Scheibe runter und bittet den Fahrer auszusteigen. Aber er berührt den Wagen nicht. Warum? Weil die Leute einen starken Besitzinstinkt haben und aufgebracht reagieren. Es ist ein primitiver Trieb, hat was mit Verteidigung des Territoriums zu tun.«
»Ich hätte dich nie für einen Primitiven gehalten, Lucas«, spöttelte der Besucher, doch er stieß sich von dem Mercedes ab.
»Es ist mir scheißegal, für was du mich hältst«, entgegnete Lucas. »Sag mir nur, was du von mir willst.«
»Ich dachte, wir sollten noch mal über die Sache reden.«
Lucas fiel in den Slang seiner Jugendzeit zurück. »Dann hast du falsch gedacht, Sonnenschein.«
Ihm wurde unbehaglich klar, dass diese unheilige Geschichte einen verderblichen Einfluss auf den sorgfältig polierten äußeren Anschein hatte, den er sich im Lauf der Jahre zugelegt hatte. Er häutete sich wie eine Schlange, die aus ihrer Hülle herausgewachsen war, und darunter kam nach und nach der wahre Lucas zum Vorschein. Es war ein Schock.
»Ich meine, wenn du wirklich eine Leiche gefunden hast …«, begann der Besucher.
»Selbstverständlich habe ich eine verdammte Leiche gefunden!«, brauste Lucas auf. »Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich das alles erfinde, oder wie?«
»Nein, nein, natürlich nicht«, beschwichtigte ihn der andere. »Aber es kam nichts in den Nachrichten gestern Abend.«
»Dann hat sie noch niemand gefunden.« Lucas versuchte seine Erleichterung zu verbergen. Je mehr Zeit verging, bis die Leiche gefunden wurde, desto schwieriger würde es werden, ihn mit dieser elenden Farm in Verbindung zu bringen.
»In diesem Fall solltest du vielleicht darüber nachdenken, ob du nicht bei der Polizei Meldung machst?« Die Frage und der Tonfall brachten Lucas erneut auf die Palme.
Er hatte hart daran gearbeitet, den Dialekt des südlichen London abzulegen, obwohl er heutzutage als relativ schick galt. Er war nicht schick gewesen, als er aufgewachsen war, sondern hatte im Gegenteil als Indikator gegolten, dass man nicht »dazugehörte«. Er hatte ihn von vielen jener Orte ausgeschlossen, an denen er sein wollte. Also hatte er hart daran gearbeitet, so zu sprechen, dass er »hip« klang, wie man es genannt hatte. Doch er wusste, dass es nicht echt war, und er beneidete insgeheim die lässige Art und Weise, mit der der andere redete.
»Hast du den Verstand verloren? Wie soll ich denn erklären, was ich dort gemacht habe?«, explodierte Lucas.
»Sag ihnen, du hättest angehalten, weil du neugierig warst. Du wärst auf der Suche nach Bauland für Entwicklungsprojekte.«
Die Tatsache, dass er für ein oder zwei Augenblicke genau so einen Gedanken gehabt hatte, als er die Farm betreten hatte, machte Lucas noch wütender. War er so einfach zu durchschauen? Sein früherer Verdacht kehrte zurück.
»Ich habe ebenfalls ein wenig nachgedacht«, sagte er, indem er den anderen böse anfunkelte. »Ich fange an mich zu fragen, warum du ausgerechnet diese Farm für unser Treffen ausgesucht hast.«
»Weil ich sie kenne!« Sein Besucher wurde plötzlich vorsichtig. »Sie ist verlassen. Der Besitzer wohnt nicht dort. Er kommt nur hin und wieder vorbei, und es hätte schon mit dem Teufel zugehen müssen, wenn du ihm über den Weg gelaufen wärst. Und wenn, dann hättest du dir bestimmt schnell irgendeine Geschichte aus den Fingern gesaugt. Du hättest ihm erzählen können, dass du auf der Suche nach Bauland bist, beispielsweise. Die gleiche Geschichte, die du der Polizei erzählen könntest, falls du jetzt noch hingehst.«
»Ich gehe aber nicht zur Polizei!«, schäumte Lucas. In leiserem, frostigerem Tonfall fuhr er fort: »Und du weißt genau, warum. Keiner von uns beiden geht zu den Cops, richtig? Verschwinde einfach nur aus meinem Leben, okay? Und ich halte mich aus deinem. Aber wenn ich herausfinde, wer mich aufs Kreuz legen wollte …«
Er unterbrach sich für einen Sekundenbruchteil, als das Poliertuch mit einem leisen Geräusch vom Außenspiegel glitt und zu Boden segelte. »… der wird es bereuen«, beendete er seinen Satz.
Während er noch redete, bückte er sich in einem Reflex, um das Tuch aufzuheben.
Ein Fehler, den er in jüngeren Jahren sicher nicht begangen hätte.