Kapitel 15
Egal wohin man sieht, die einzelnen Vertreter eines Berufs halten zusammen, dachte Jess grimmig, als sie Foscotts Büro verließ. Meistens sind sie sogar untereinander befreundet. Trotz meiner Bitte, Ferris nicht zu warnen, würde ich es Foscott durchaus zutrauen, dass er in der Bar des Golfclubs oder sonst irgendwo »rein zufällig« in Andrew Ferris rennt und eine Bemerkung von sich gibt wie »Na, wie läuft’s mit der Polizei?«, gefolgt von »Hoppla, das hätte ich eigentlich gar nicht sagen dürfen …«
All das bedeutete letzten Endes, dass sie keine Zeit verlieren durfte und so schnell wie möglich zu Ferris musste. Dieser Fall zog sich bereits lang genug hin. Vielleicht brachte Phil Morton neue Informationen aus London mit, doch Jess zählte nicht darauf.
»Morgen ist Donnerstag. Der Jahrestag des Doppelmords an den Eltern von Eli Smith.«
Erschrocken wurde ihr bewusst, dass sie laut geredet hatte. Natürlich wollten sie die Ermittlungen möglichst schnell abschließen, doch warum hatte sie das Gefühl, es wäre wichtig, vorher damit fertig zu werden? Das Datum ragte drohend über ihnen auf. Es beunruhigte Eli, und es beunruhigte sie. Die beiden neuen Morde – an Eva Zelená und Lucas Burton – schienen förmlich danach zu verlangen, aufgeklärt zu sein, bevor sie mit dem Jahrestag jener anderen Morde von vor nahezu drei Dekaden kollidierten. Jess vermochte nicht, rational zu erklären, warum sie das Gefühl hatte, es wäre so wichtig, doch es wollte nicht nachlassen.
Genau genommen wurden Jahrestage an einem Datum festgemacht. Für Eli Smith hingegen hatte sich der Mord an seinen Eltern an einem Donnerstag in einer bestimmten Woche des Monats ereignet, und so behielt er ihn auch in seiner Erinnerung, weil der Donnerstag ein Markttag gewesen war. Was war schon ein Kalenderdatum für jemanden, der nicht nur Analphabet war, sondern noch dazu aufgewachsen war in einer Welt, deren Rhythmus beherrscht wurde von Jahreszeiten und Wetter und nicht von willkürlich angeordneten Zahlen auf einem Blatt Papier?
Andrew Ferris wohnte in einem Neubaugebiet, das man vor fünfzehn oder zwanzig Jahren erschlossen hatte. Die Gärten waren seither gediehen, die Büsche und Bäume gewachsen, einige so sehr, dass sie sogar schon zu einem Problem zu werden drohten. Das Mauerwerk war verwittert, das Pflaster auf den Bürgersteigen gesprungen. Trotzdem waren diese Häuser schon damals bestimmt nicht billig gewesen, und ihr Wert war seither mit Sicherheit noch gestiegen. Es waren alles freistehende Häuser, manche mit Doppelgaragen, wie das von Andrew Ferris. Die Garage neben seinem Haus erweckte Aufmerksamkeit, weil das doppelt breite Rolltor nicht ganz geschlossen war und weil davor eine Reihe großer Umzugskartons stand.
Jess stieg aus dem Wagen und näherte sich neugierig den Kartons. Einer enthielt Bücher und CDs, ein weiterer Frauenkleidung. In einem dritten war eine ganze Sammlung von Damenschuhen verstaut – eine kostspielige Sammlung, Modelle von Jimmy Choo und Manolo Blahnik und ähnlich klingenden Namen. Jess starrte begehrlich auf ein Paar glänzend hellgrüner Ballerinas. Der letzte Karton enthielt Küchengeräte, Mixer, Töpfe und einen Satz beinahe neuer, kaum benutzter Edelstahlpfannen. Zuoberst lagen zwei Kochbücher in Hochglanzeinbänden, die genauso unbenutzt aussahen wie die Pfannen. Irgendjemand zog gerade aus.
»Inspector?«
Jess zuckte zusammen und drehte sich um. Sie errötete schuldbewusst, weil jemand sie beim Schnüffeln beobachtet hatte. Hinter ihr stand Andrew Ferris. Er hielt noch mehr Kleidung in den Armen.
»Bitte … entschuldigen Sie«, sagte Jess. »Ich wollte zu Ihnen und war überrascht, als ich die Kartons hier draußen vorfand …« Sie deutete auf die Umzugskisten. »Ziehen Sie um?«
»Ich? Nein, nein. Meine Frau zieht aus. Wir lassen uns scheiden. Sie ist im Augenblick in London, und wir kommunizieren durch unsere Anwälte miteinander.«
Aha. In Andrews Fall war der Anwalt wahrscheinlich Reggie Foscott. Kein Wunder, dass Foscotts Augen seine Neugier verraten hatten, als er erfahren hatte, dass Jess plante, hierher zu fahren.
Ferris ging zu dem Karton mit der Kleidung und ließ die Sachen hineinfallen, die er im Arm gehalten hatte. »Karen kommt irgendwann im Lauf des Tages vorbei, um ihre Sachen abzuholen. Ich versuche alles zu beschleunigen, indem ich ein wenig vorsortiere. Mir war nicht klar, dass sie so viel Zeug hat. Das da«, er deutete auf den Karton voll Kleidung, »ist nur der Anfang. Ein einziger Schrank. Sie hat einen weiteren Schrank im Gästezimmer mit ihren Skisachen und dergleichen. Sie ist Reisebegleiterin. Sie hat für jede Gelegenheit die passende Kleidung, wie ich gerade herausfinde!« Er grinste schief.
»Tut mir leid wegen der gescheiterten Ehe«, sagte Jess, die zu spüren meinte, dass eine Bemerkung in dieser Richtung von ihr erwartet wurde.
»Das muss es nicht. Es hat lange in der Luft gelegen, seit einer Ewigkeit, ehrlich. Wir hätten uns schon vor zwei Jahren trennen müssen, mindestens. Weil Karen so viel unterwegs ist, waren wir de facto die meiste Zeit nicht zusammen. Ich nehme an, das ist der Grund, warum wir so lange gebraucht haben, um die Scheidung tatsächlich einzureichen. Wie dem auch sei, kommen Sie rein. Ich könnte eine Tasse Kaffee vertragen, vielleicht auch etwas Stärkeres. Sie sind noch im Dienst, nehme ich an?« Er hob eine Augenbraue.
»Ja. Kaffee wäre allerdings prima, danke.«
Sie folgte ihm ins Haus. Der Flur war übersät mit Dingen, die noch darauf warteten, nach draußen in die Umzugskartons gebracht zu werden. Noch mehr Bücher, Reiseführer, wie es aussah, noch mehr CDs, zwei gerahmte Aquarelle von Landschaften, die nach Italien aussahen, eine hohle russische Babuschka mit weiteren, immer kleineren hohlen Holzpuppen darin, sowie Ethno-Keramik.
»Wenn ich fertig bin, kommt Karen vorbei, um alles zu holen, was ich vergessen habe. Würde sie mir nicht die Möbel lassen, wäre das Haus praktisch leer«, sagte Ferris gut gelaunt. »Bis auf ein paar Erbstücke von ihrer Familie bleiben die Möbel alle hier. Wenigstens muss ich nicht auf Orangenkisten sitzen. Trotzdem, es wird sehr leer aussehen.«
Er stieg über die Bücher hinweg und stieß eine Tür am Ende des Flurs auf. Sie führte in die Küche. Jess folgte ihm.
In der Küche standen sämtliche Schranktüren weit offen. »Das ist der schwierige Teil«, sagte Ferris mit einer Handbewegung in Richtung des Inhalts. »Fast alles hier drin haben wir in Form von Hochzeitsgeschenken erhalten. Ich muss also versuchen mich zu erinnern, was von meiner Familie kam, und was von Karens. Ich bin sicher, dass sie es weiß – vielleicht sollte ich es also lassen, bis sie da ist. Ob sie die Mikrowelle will?« Er starrte mit gerunzelter Stirn auf das Gerät. »Sie hat sie gekauft, und sie hat selbstverständlich ein Recht darauf. Aber es ist das einzige Gerät, das ich benutze. Ich kann nicht kochen.«
Er füllte Wasser in einen Kessel und löffelte Kaffee in einen Krug. »Mögen Sie ihn stark?«, fragte er. »Ich mache ihn meistens so kräftig, dass der Löffel darin stecken bleibt.«
»Bitte nicht ganz so stark!«, rief Jess hastig.
Sie nahm ihren Rucksack von der Schulter und öffnete den Reißverschluss, um das vergrößerte Photo aus dem Werbeprospekt des Foot to the Ground hervorzunehmen. Der kleine grüne Rucksack war vollgestopft, und es war schwierig, mit einer Hand darin herumzukramen, während sie ihn mit der anderen festhielt. Jess suchte nach einer freien Fläche, auf die sie ihn stellen konnte, doch es gab nirgendwo eine.
»Gibt es ein Problem?«, erkundigte sich Ferris, als er sah, wie sie unschlüssig schwankte. »Suchen Sie nach einer Stelle, wo Sie den Rucksack absetzen können? Versuchen Sie’s im Wohnzimmer, dort ist es aufgeräumter, und wir können gemütlicher sitzen.«
Jess suchte sich ihren Weg an den Büchern und Aquarellen vorbei zum Wohnzimmer. Es war tatsächlich aufgeräumter, allerdings nur ein klein wenig. Viele der Bücher draußen im Flur schienen aus dem großen, eichenen Bücherregal entnommen worden zu sein. Die Reihen wiesen signifikante Lücken auf, und viele der verbliebenen Bücher waren umgefallen. Andere, bei denen vielleicht der Eigentümer strittig war, lagen in unordentlichen Türmen verstreut auf dem Teppich. Dazwischen weitere CDs aus einem Musikregal. Die einzigen Dinge, die er nicht angerührt hatte, waren Toby Jugs, Figurenkrüge, die bierselig durch das Glas eines ansonsten leeren Vitrinenschranks zu ihr herausstarrten. Entweder wollte Karen die Krüge nicht, oder sie gehörten unstrittig ihrem entfremdeten Noch-Ehemann. Kein Wunder, dass das Ehepaar Ferris den Augenblick der endgültigen Trennung immer wieder aufgeschoben hatte. Die Zeit und der Ärger beim Aufteilen sämtlicher Dinge, die sich in den Jahren der Ehe angesammelt hatten, reichten aus, um einen in die Verzweiflung zu treiben.
Es gab mehr als genug Hinweise darauf, dass Ferris in keiner Weise häusliche Neigungen zeigte. Nicht nur, dass er nicht kochen konnte. Er wischte auch keinen Staub. Jess hätte mit der Fingerspitze ihren Namen auf einen Beistelltisch schreiben können. Im Gegensatz zu Burton schien Ferris auch keine Putzfrau zu beschäftigen. Sie fragte sich, wie er je wieder Ordnung in das Chaos bringen wollte, nachdem die Aufteilung der Besitztümer abgeschlossen war. Sie konnte nur hoffen, dass er die Buchhaltung seiner Mandanten besser in Schuss hielt.
»Aber was maße ich mir an, zu kritisieren«, murmelte sie vor sich hin.
Sie war ebenfalls nicht bewandert in der Hausarbeit. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie und Ferris nicht die Einzigen waren, deren Büros von anderen in Ordnung gehalten wurden, während ihre privaten Wohnungen Müllkippen ähnelten.
Jess stellte den Rucksack auf das Sofa, und endlich gelang es ihr, das Gruppenphoto hervorzuziehen. Sie richtete sich auf, als Ferris mit dem Kaffee erschien, und dabei verfing sich eine Tragschlaufe des Rucksacks in einem Sofakissen. Dahinter lag, völlig zerknittert, ein Werbeprospekt vom Foot to the Ground, identisch mit dem, den David Jones ihr gegeben hatte und von dem sie die Vergrößerung hatte anfertigen lassen, die sie nun in der Hand hielt.
Sie starrte den Prospekt an und dann Ferris.
»Was ist denn?«, fragte er. »Tut mir leid wegen der Unordnung, wirklich. Ich habe gesagt ›aufgeräumter‹, nicht ›aufgeräumt‹.«
»Ja«, entgegnete Jess. »Das ist es nicht. Vielmehr das hier.« Sie hob das Faltblatt auf.
»Ach, das«, sagte Ferris. Er stellte die Kaffeebecher auf einen kleinen Wohnzimmertisch mit Glasplatte. »All das Gerede von dem armen Ding, das in Elis Kuhstall gefunden wurde … und dann war der Name des Pubs plötzlich in den Nachrichten. Ich war noch nie dort, weder mit Penny noch mit Karen, meiner zukünftigen Exfrau, deswegen dachte ich, warum probierst du es nicht mal aus? Pen und ich gehen normalerweise ins Hart zum Essen, wo Sie uns mit Ihrem Freund gesehen haben. Na ja, jedenfalls, die Geschichte über die Tote auf der Cricket Farm hatte die Runde gemacht. Nicht lange, nachdem Sie weg waren vergangenen Donnerstag, kam eine grässliche wasserstoffblonde Person an unseren Tisch gestöckelt und wollte wissen, ob Penny Schreie gehört hätte. Schreie, stellen Sie sich das mal vor!« Ferris schnitt eine Grimasse. »Ich dachte, hoppla, wir sind zu bekannt in diesem Laden. Das Foot to the Ground soll zwar ein wenig teuerer sein, aber vielleicht belästigen einen die anderen Gäste nicht beim Essen, um die neuesten Gerüchte zu erfahren.«
Und die Mordkommission schneit nicht auf ein Pint herein, hätte er durchaus hinzufügen können, doch das hatte er sich verkniffen, dachte Jess. Ferris ließ sich in einen Sessel ihr gegenüber sinken und starrte nachdenklich in seinen Kaffeebecher, als wäre er nicht ganz sicher, was er da zusammengebraut hatte.
»Wann waren Sie im Foot to the Ground?«, fragte Jess und betrachtete erneut das Flugblatt.
»Sonntagmorgen, vergangenes Wochenende. Ein hübscher Laden. Ich denke, Penny würde er gefallen.«
»Wie dem auch sei«, sagte Jess. »Es mildert die Wirkung von dem hier.« Sie hielt ihm das Photo hin. »Ich habe es mitgebracht, weil ich dachte, vielleicht erkennen Sie die eine oder andere Person darauf. Jemanden von den Leuten in der Umgebung von Cricket Farm oder sonst irgendwo in Cheltenham, aus einem Restaurant oder Pub. Aber Sie haben das Photo bereits gesehen. Es ist in diesem Prospekt abgedruckt.«
»Ja, ich erinnere mich. Es ist ein Bild der Belegschaft, nicht wahr?« Ferris nahm die Vergrößerung von ihr entgegen. »Aber ich habe es nicht genauer angesehen. Ich habe mich mehr für den Auszug der Speisekarte und die Preise interessiert. Ich muss sagen, ein ziemlich teurer Laden. Aber das Essen soll sehr gut sein, und ich für meinen Teil habe allmählich die Nase gestrichen voll von den ewigen Pommes frites.«
»Ich wollte Ihnen dieses Photo eigentlich schon viel früher zeigen, am Mittwochmorgen beim Reitstall, aber Sie waren nicht da, und dann sind andere Dinge dazwischengekommen. Ich musste nach London, und heute Morgen hatte ich eine Verabredung mit Reggie Foscott. Wir ermitteln in einem weiteren Todesfall, neben dem des toten Mädchens von der Cricket Farm. Es handelt sich um Lucas Burton, einen Geschäftsmann aus dieser Gegend.«
Sie wartete, um seine Reaktion auf die Erwähnung von Burtons Namen zu beobachten.
»Ah«, sagte Ferris und blickte ziemlich verlegen drein. »Ich hatte mich schon gefragt, ob ich Sie gleich heute Morgen anrufen soll. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass einer meiner Mandanten vor seinen Schöpfer getreten ist. Er wurde in seiner Garage gefunden, stand in dem Bericht. Vielleicht hat er jemanden dabei überrascht, wie er seinen Mercedes stehlen wollte? Lucas Burton, der arme Kerl. Wer hätte das gedacht? Ich nehme an, Reggie Foscott kümmert sich um das Testament? Er wird sich ziemlich bald bei mir melden, wenn ich mich nicht irre. Vielleicht sollte ich ihn zuerst anrufen.«
»Sie kennen die Foscotts ganz gut«, stellte Jess fest. »Auch privat, wie ich annehme. Charlie Foscott hat ihr Pony im Berryhill Reitstall von Penny Gower.«
»So gut kenne ich sie auch wieder nicht. Ich bin mit Reggie bekannt, einverstanden. Wir begegnen uns auf der einen oder anderen Veranstaltung oder bei einer Party, aber das ist privat auch schon alles. Gelegentlich kreuzen sich unsere Wege auch beruflich. Jetzt, wo meine Scheidung ansteht, werde ich ihn vermutlich sehr viel häufiger sehen. Was Selina angeht, so bin ich offen gestanden froh, dass ich ihr bis jetzt immer nur beim Reitstall begegnet bin. Reggie ist in Ordnung, aber seine Frau ist ein furchtbarer alter Drache, und es heißt, sie führt ein eisernes Regiment in seinem Haus.«
»Wussten Sie, dass Selina an dem Freitag, an dem die Leiche gefunden wurde, beim Verlassen des Reitstalls einen Beinahezusammenstoß mit einem silbernen Mercedes hatte?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ah, Sie glauben, dass es der gleiche Wagen war, den Penny vorher gesehen hatte?«
»Wir glauben, dass es Lucas Burtons Wagen war.«
Ferris schwieg für eine Sekunde. »Da brat mir einer einen Storch«, sagte er dann.
»Sie wussten, dass er einen Mercedes fährt?«
»Ja, ich wusste es. Er kam immer mit dem Wagen hierher. Hören Sie, ich hatte keine Ahnung, dass es sein Wagen war, den Penny gesehen hatte! Warum sollte ich? Es ist nicht der einzige Mercedes in der Gegend, und warum um alles in der Welt sollte Lucas zur Cricket Farm fahren? Oh …« Er lehnte sich zurück und starrte sie an. »Sie glauben doch wohl nicht … Lucas? Nein, hören Sie auf. Wenn Lucas etwas mit einer Bedienung gehabt hätte, dann hätte er sie loswerden können, ohne ihr den Hals umzudrehen. Er hätte sie ausbezahlt. Er war ein professioneller Junggeselle, wissen Sie? So beschrieb er sich jedenfalls selbst. Vielleicht gar keine schlechte Idee. Aber ganz ehrlich, verdächtigen Sie allen Ernstes Lucas, diesen Mord auf der Cricket Farm begangen zu haben?«
»Wir wissen es nicht, Mr. Ferris«, sagte Jess entschieden. »Wir stecken immer noch mitten in unseren Ermittlungen. Doch Lucas Burton scheint in der Tat am fraglichen Tag am fraglichen Ort gewesen zu sein, und wir hatten gehofft, ihn befragen zu können. Was nun leider nicht mehr geht. Vielleicht wollte es jemand verhindern. Wie dem auch sei, wir wären dankbar für alles, was Sie uns über ihn erzählen können. Er scheint ein extrem privater Mensch gewesen zu sein.«
Ferris kaute auf seiner Unterlippe und studierte Jess schweigend für einen Moment. »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen auch keine schlüpfrigen Details über Lucas Burton erzählen. Ich würde, wenn ich könnte. Oder angesichts der Tatsache, dass er ermordet wurde, könnte ich meine Informationen wohl an die Boulevardpresse verkaufen, wenn ich welche hätte. Das ist übrigens ein Witz, okay? Er war mein Mandant, und alles, was ich über ihn weiß, ist streng vertraulich. Der Polizei würde ich selbstverständlich alles erzählen, was Ihnen weiterhelfen würde, aber wir hatten keine persönliche Freundschaft. Es war eine rein geschäftliche Beziehung, weiter nichts. Ich habe seine Steuerunterlagen verwahrt, aber Sie brauchen einen richterlichen Beschluss, wenn Sie Einblick nehmen wollen, habe ich Recht? Ich glaube nicht, dass ich Sie einfach so in die Unterlagen sehen lassen darf. Zumindest so lange nicht, bis ich nicht mit Reggie Foscott über die rechtlichen Konsequenzen geredet habe. Ich bin kein Anwalt, verstehen Sie? Ich bin nur Buchhalter.«
»Beruhigen Sie sich, Mr. Ferris. Ich bin nicht wegen Lucas Burton hergekommen, jedenfalls nicht heute«, sagte Jess. »Auch wenn jedes Detail, an das Sie sich erinnern können, sicherlich nützlich wäre. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen etwas einfällt. Aber der eigentliche Grund meines Besuchs ist dieses Photo.«
Er lehnte sich zurück, das Photo in der Hand, und blickte es stirnrunzelnd an. »Nein, ich kenne keine von den beiden. Aber warten Sie – der junge Bursche hier! Ich glaube, er war am Sonntagmorgen in diesem Pub, als ich auch dort war. Er hat mich an der Theke bedient.«
»Sonst niemand? Was ist mit den Mädchen?«
Ferris schüttelte den Kopf. »Davon habe ich keins gesehen. Ganz bestimmt.«
»Danke sehr.« Jess nahm das Bild wieder an sich. »Wir geben es morgen an die Presse, und dann wird es in den Zeitungen abgedruckt. Vielleicht haben wir dort mehr Glück. Irgendjemand hat vielleicht eins der Mädchen gesehen.«
»Warten Sie, einen Moment!«, rief Ferris aus. »Ich bin vielleicht begriffsstutzig, wie? Das tote Mädchen hat in diesem Pub gearbeitet, also ist es eins von den beiden auf diesem Photo, richtig? Welches?« Er streckte die Hand nach dem Photo aus, und Jess gab es ihm.
Er studierte es erneut, doch dann schüttelte er den Kopf. »Ich kenne sie trotzdem nicht. Hübsches Mädchen, wirklich. Ich könnte verstehen, wenn Lucas ein Auge auf sie geworfen hätte.«
»Danke fürs Ansehen«, sagte Jess höflich, als sie das Photo zum zweiten Mal wieder an sich nahm und in ihren Rucksack steckte. Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee. »Sehr guter Kaffee. Ich fürchte, ich habe nicht genug Zeit, um ihn auszutrinken. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich will Sie nicht länger vom Packen Ihrer Sachen abhalten.«
»Karens Sachen«, verbesserte er sie. »Sie zieht aus, nicht ich.«
Er stand auf der Türschwelle, um ihr hinterherzuwinken. Jess stieg in den Wagen. Sie fuhr bis zum Ende der Straße und bog um die Ecke, wo sie an den Straßenrand lenkte und anhielt. Für einige Minuten saß sie einfach nur da, in Gedanken versunken.
Ich bin begriffsstutzig …, hatte Ferris keine zehn Minuten zuvor zu ihr gesagt. Doch er war nicht begriffsstutzig, ganz und gar nicht. Im Gegenteil, er war scharfsinnig und hatte keinerlei Skrupel, seinem verstorbenen Mandanten Lucas Burton ganz sanft ein Messer in den Rücken zu schieben. Lucas hätte sie loswerden können, ohne ihr den Hals umzudrehen. Er hätte sie ausbezahlt … Ich könnte verstehen, wenn Lucas ein Auge auf sie geworfen hätte … Ha! Ein sehr geschicktes Ablenkungsmanöver, Mr. Ferris. Du wusstest, dass die Tote im Foot to the Ground gearbeitet hat; das ist inzwischen allgemein bekannt. Dir muss also klar gewesen sein, dass Eva Zelená unter den Personen auf dem Bild ist, das ich dir gezeigt habe.
»Welche ist es?«, hatte er Jess gefragt, als er sich das Photo zum zweiten Mal hatte zeigen lassen. Jess hatte nicht geantwortet oder auf Eva gezeigt. Trotzdem hatte Ferris »Ich kenne sie trotzdem nicht« gesagt.
Es war vielleicht nur ein Versprecher. Vielleicht hatte er sagen wollen, dass er keins der beiden Mädchen kannte. Doch so war es nicht gemeint gewesen, wie die nächsten Worte gezeigt hatten. »Ich kenne sie trotzdem nicht. Hübsches Mädchen, wirklich. Ich könnte verstehen, wenn Lucas ein Auge auf sie geworfen hätte.«
Was nur eines bedeuten konnte: Ferris wusste, wer die tote Eva war.
Jess trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Vergangenen Donnerstag war Ferris zusammen mit Penny Gower im Hart. Jess und Tom hatten die beiden dort gesehen. Am selben Tag, jedoch früher, war Jess beim Reitstall gewesen und hatte die Vergrößerung Penny und Eli Smith gezeigt. Penny musste Ferris von ihrem Besuch erzählt haben. Ferris wusste, dass Jess ein Photo herumzeigte. War er am Sonntagmorgen aus Neugier zum Foot to the Ground gefahren, um sich einen der Prospekte zu holen und selbst einen Blick auf das Bild zu werfen? Oder weil er nervös war, dass die Polizei ein gutes Photo von Eva Zelená in Händen hielt – ein Photo, das sie mit ziemlicher Sicherheit veröffentlichen würde? Er hatte einen guten Zeitpunkt gewählt für seinen Besuch im Foot to the Ground – Sonntag herrschte Hochbetrieb dort, es gab viele Wochenendgäste neben den Einheimischen, und er als Fremder war nicht weiter aufgefallen in der Menge.
Jess stieg aus dem Wagen, sperrte ihn ab und kehrte zu Fuß zum Haus von Ferris zurück. Sie näherte sich vorsichtig, für den Fall, dass er draußen bei den Kartons war, doch er war nirgends zu sehen. Sie schob sich an den Kartons vorbei zu dem halb geöffneten Garagentor, in der Hoffnung, dass keiner der Nachbarn sie beobachtete und herbeigerannt kam, um Ferris zu alarmieren oder sie zu fragen, was sie vorhatte. Sie bückte sich, um einen Blick ins Innere zu werfen, doch es war zu dunkel. Behutsam, damit es nicht quietschte, schob sie das Rolltor hoch.
In der Garage standen zwei Fahrzeuge. Eines war Ferris’ dunkelblauer Passat. Diesen Wagen hatte sie gesehen, als sie zum ersten Mal bei Penny Gowers Reitstall gewesen war. Der andere Wagen war ein kleiner silberner Citroën Saxo. Er musste Ferris’ Frau gehören.
Ferris war in der Tat alles andere als begriffsstutzig. Er war clever genug, nicht seinen eigenen Wagen zu benutzen, wenn er mit seiner tschechischen Freundin unterwegs gewesen war. Stattdessen hatte er den Wagen seiner Frau genommen, und nur durch einen glücklichen Zufall hatte der von Liebeskummer gequälte David Jones ihn gesehen, mit Eva darin. Doch David hatte den Fahrer nicht gesehen von seinem Versteck hinter der Hecke, zum Glück für Andrew Ferris, sonst hätte er ihn vielleicht wiedererkannt, weil er ihn im Foot to the Ground schon einmal bedient hatte. Und obwohl Ferris Eva nie im Pub abgeholt oder sie vor der Tür abgesetzt hatte, war er am Sonntag das Risiko eingegangen, das Pub zu betreten. Natürlich hatte er nicht gewusst, dass er beobachtet worden war, als er Eva abgeholt hatte. Trotzdem war es ein Risiko gewesen, das er bestimmt nicht eingegangen wäre, hätten ihn die Ermittlungen nicht nervös gemacht. Und zur Nervosität hatte er allen Grund – gut möglich, dass ein Zeitungsleser Eva wiedererkannte und sich erinnerte, wann und wo er sie gesehen hatte – und in wessen Begleitung …
Das war ihr letzter bewusster Gedanke. Sie verspürte einen plötzlichen scharfen Schmerz am Hinterkopf. Für einen Sekundenbruchteil tanzten vor ihren Augen Sterne, dann wurde alles schwarz.
Sie erwachte in einer schwarzen Suppe, durch die sie für eine scheinbare Ewigkeit nach oben schwamm, auf der Suche nach der Oberfläche und dem Licht. Wie weit konnte es noch sein? Die Sterne waren noch da, aber sie waren viel kleiner und kamen in Schwärmen daher wie kleine silberne Fische, die in ihrem Schädel von einer Seite zur anderen schossen. Sie bewegte den Kopf und hörte, wie sie einen schmerzerfüllten Schrei ausstieß. Sie hatte Mühe, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Langsam, Jess. Ganz ruhig. Versuchs noch mal. So ist es schon besser.
Sie wagte, die Augen aufzuschlagen, und zu ihrem Erschrecken war es immer noch dunkel. War sie eingesperrt in einer Kiste? In einem Keller? Nein, sie war in einem verdunkelten Raum, einem Schlafzimmer, und sie lag mit dem Rücken auf einem Doppelbett. Es stank nach Schimmel und Moder und Feuchtigkeit. Wie auf einem Friedhof. Sie drehte den Kopf zur Seite – ganz behutsam diesmal! Der Schmerz blieb erträglich. Irgendetwas verrottete dicht vor ihrer Nase. Sie musste sich aufrichten. Sie musste weg von diesem grauenhaften Gestank. Sie war nicht gefesselt, und sie war allem Anschein nach auch nicht weiter verletzt.
Sie musste herausfinden, wo sie war.
Ihre Hände und Ellbogen versanken in etwas Weichem, Kaltem und Feuchtem, als sie sich in eine halbwegs aufrechte Lage stemmte. Durch eine Reihe waagerechter Spalten fiel Licht in den Raum. Ein vernageltes Fenster. Sie erkannte Möbel. Es war nicht das Haus von Ferris, so viel war sicher.
Schlagartig wurde ihr klar, wo sie sich befand: im Schlafzimmer im Haupthaus der Cricket Farm. Sie lag auf dem Bett der niedergeschossenen Eltern von Eli Smith, und wahrscheinlich war es noch das gleiche Bettzeug, in dem sie in der letzten Nacht vor ihrem Tod geschlafen hatten und das nun vermoderte.
Mit einem entsetzten Schrei rappelte sie sich hoch. Ihr Schädel drohte zu explodieren, als sie die Beine vom Bett schwang und aufzustehen versuchte. Ihre Knie knickten ein, ein blendend greller Blitz zuckte durch ihren Kopf, und sie sank auf die Bettkante zurück, auf die modrige Daunendecke, wo sie unsicher schwankte.
Nimm dir Zeit, Jess!, ermahnte sie sich. Zähl langsam bis zehn! Gut, so ist es schon besser. Wie war sie hierher gekommen? Andrew Ferris hatte sie hergeschafft. Sie war so sehr mit Karen Ferris’ silbernem Citroën beschäftigt gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie er von hinten an sie herangeschlichen war. Hatte er Burton auf die gleiche Weise getötet? Burton war in seiner Garage gestorben, wo er den Kratzer an seinem Wagen repariert hatte. Hatte sich Ferris angeschlichen, einen Schraubenschlüssel in der Hand? Falls ja, dann hatte er bei Burton ein ganzes Stück fester zugeschlagen als bei Jess. Warum hatte er Burton getötet? Es musste etwas damit zu tun haben, dass Burton auf der Farm gewesen war und die Leiche entdeckt hatte. Aber warum war Burton auf der Cricket Farm gewesen?
Denk später darüber nach, Jess. Du bist nicht fit genug, um dich im Augenblick mit mehr als einer Sache zu beschäftigen. Ich weiß nicht, warum er Burton umgebracht hat, aber mich wollte er offensichtlich nicht umbringen. Er wollte mich aus dem Weg haben, weiter nichts. Also hat er mich hierher geschafft. Aber warum ausgerechnet hierher, zur Cricket Farm? Aus welchem Grund? Um sich Zeit zur Flucht zu erkaufen? Wir würden ihn finden. Er muss gewusst haben, dass ich zurückkommen und Alarm schlagen würde.
Alarm schlagen … Jess blickte sich suchend um, doch ihr Rucksack war nirgendwo zu sehen. Ihr Mobiltelefon war darin, was bedeutete, dass sie nicht um Hilfe telefonieren konnte. Sie musste zuerst hier raus und ein Telefon finden. Vielleicht war Penny da, wenn sie es den Hügel hinunter und bis zum Stall schaffte. Penny würde ein Mobiltelefon bei sich haben.
Er hatte ihre Armbanduhr übersehen. Sie versuchte, die Zeit abzulesen, doch es war zu dunkel. Sie erhob sich von der Bettkante, und diesmal gelang es ihr, auf den Beinen zu bleiben. Sie stolperte zum Fenster und hielt ihr Handgelenk in das Licht, das durch die Schlitze zwischen den Brettern fiel. Fünf Uhr nachmittags.
Fünf Uhr! Sie war den halben Tag bewusstlos gewesen! Sie musste hier raus. Sie drehte sich zur Tür um und erstarrte mitten in der Bewegung.
Sie war nicht allein!
Es war jemand mit ihr im Raum. Ferris? Ihr Herz drohte zu stocken. War er zurückgekommen, um sie zu holen? Nein, nicht Ferris. Der Unbekannte war kleiner als Ferris. Ferris war schlank und über eins achtzig groß. Eli Smith? Die Gestalt neben der Tür hatte ungefähr seine Statur. Sie war klein und stämmig und trug abgerissene Sachen. Ja, natürlich. Es musste Eli sein, wer sonst? Er war zurückgekommen, um die Farm zu kontrollieren, und er hatte sie im Bett seiner Eltern vorgefunden und fragte sich jetzt, was zum Teufel sie hier zu suchen hatte und wie sie in dieses Haus gekommen war. Wahrscheinlich war er genauso erschrocken über sie wie sie über ihn. Wenigstens war Hilfe eingetroffen.
»Eli?«, fragte Jess nervös.
Der Mann antwortete nicht, und dann wurde ihr bewusst, dass es wohl doch nicht Eli war. Es war ein Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er erinnerte sie an Eli, doch er war viel jünger. Er hatte ein merkwürdiges Grinsen im Gesicht und ein Stück Strick um den Hals. Die Worte »das Blut drohte ihr in den Adern zu erstarren« waren ihr bisher stets als eine literarische Phrase erschienen – doch genau so fühlte sie sich in diesem Moment. Eine eisige Faust hielt sie gepackt.
»Wer sind Sie?«, fragte sie in bemüht ruhigem Tonfall, doch das Zittern ließ sich nicht verbergen.
Als sie keine Antwort erhielt, setzte ihr Training ein. Sie ergriff die Initiative und trat entschlossen auf den Fremden zu. »Ich bin Polizeibeamtin!«, sagte sie streng und merkte doch zugleich, wie albern es klang. Sie kramte in ihrer Jackentasche, um ihren Dienstausweis zu zücken, doch er war verschwunden. Ferris hatte auf seine ihm eigene gründliche Weise sämtliche kleinen Besitztümer seines Opfers entfernt, und sie hatte keine Möglichkeit, ihre Behauptung zu beweisen. Ein Wunder, dass er die Armbanduhr übersehen hatte.
Wie dem auch sein mochte, es war nicht erforderlich. Die Reaktion der schemenhaften Gestalt war unglaublich: Sie verblasste einfach.
Das war unmöglich! Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte ihn selbst gesehen, Herrgott noch mal! Sie blinzelte und versuchte den Kopf zu schütteln, was erneut mit stechendem Schmerz belohnt wurde. Sie schob sich näher heran und streckte die Hand zu der Stelle aus, wo er gestanden hatte. Sie streifte den alten Morgenmantel am Haken auf der Innenseite der Tür. Alter Staub wirbelte auf und kitzelte ihr in der Nase. Jetzt erkannte sie auch, dass die seidene Quastenschnur, die als Gürtel diente, irgendwie eigenartig über den Kragen geschlungen war. Das war es, was sie für einen Strick gehalten hatte.
Eine Mischung von Emotionen schlug über ihr zusammen: Erleichterung, Verlegenheit, ein Drang, laut aufzulachen.
»Der Schlag auf den Kopf hat dir wirklich zugesetzt, Jess!«, sagte sie laut zu sich selbst. Und die viele Zeit mit den Protokollen der Aussagen von Nathan und Eli Smith und Doreen Warble. Sich einzubilden, dieser alte Morgenmantel wäre ein lebendiges Wesen, wäre gar Nathan Smith, du meine Güte! Was kommt als Nächstes?
Sie musste aus diesem Haus verschwinden, bevor Andrew Ferris zurückkam. Jetzt war nicht die Zeit, länger als nötig zu verweilen und Gespenster zu sehen.
Jess trat aus dem Schlafzimmer auf den Gang und stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Sie konnte nicht sicher sein, dass Ferris nicht irgendwo in der Nähe war – sie hatte immer noch keine Erklärung, warum er sie überhaupt hergebracht hatte. Ihre erste Vermutung, oben im Schlafzimmer, war gewesen, dass er sich Zeit verschaffen wollte. Es war eine unbefriedigende Theorie, wenig logisch. Zeit wofür? Zum Fliehen? Sie würden ihn aufspüren, früher oder später, das musste ihm klar sein. Für etwas anderes? Aber was? All seine sorgfältig ausgedachten Pläne waren durchkreuzt worden, als Jess den Wagen seiner Frau entdeckt hatte. Er dachte wahrscheinlich nicht mehr rational. Er war in Panik und völlig unberechenbar.
Auf der anderen Seite war sie außerstande, ihre Gedanken zu ordnen. Sie konnte Fragen stellen, doch sie begriff die Antworten nicht. Ihr Kopf schmerzte, und in ihren Ohren war ein permanentes Summen. Ferris mochte allmählich durchdrehen, doch sie, Jess, musste möglichst schnell wieder zu klarem Verstand kommen, egal wie. Sie durfte sich nicht gehen lassen. Nein, sie musste logisch denken, und die Logik verlangte, dass sie so schnell wie möglich aus diesem Haus verschwand.
Was sich als unerwartet schwierig erwies. Die Fenster unten waren sorgfältiger vernagelt als die im ersten Stock. Die Haustür vorn war gesichert. Sie ging nach hinten und zog und zerrte an der Küchentür, doch die war ebenfalls abgesperrt. Die Waschküche! Jess rannte hinein. Sie mied den Anblick des alten Kessels, aus Angst, auch hier Gespenster zu sehen in Form des blutigen Leichnams von Millie Smith. Der Schlag auf den Kopf war ziemlich heftig gewesen.
Sie riss wild am Türgriff zum Hinterhof, und das Schloss gab nach. Die Tür flog auf, und sie stolperte ein paar Schritte rückwärts. Der Weg nach draußen war immer noch verbarrikadiert von drei massiven Bohlen, die horizontal über die Öffnung genagelt waren. Sich durch die Lücken zu zwängen war unmöglich. Sie musste zumindest eine der Bohlen herauslösen.
Sie warf sich so heftig gegen das mittlere Brett, dass erneut Sterne vor ihren Augen tanzten. Der Rahmen erzitterte, doch die Bohle saß fest. Ferris hatte ganze Arbeit geleistet und dafür gesorgt, dass sie nicht ohne weiteres entkommen konnte. Jess nahm erneut Anlauf, und diesmal wurde sie von einem schnappenden Geräusch belohnt. Die Nägel hatten sich weit genug gelockert, um ein Ende der Bohle nach außen zu drücken.
Sie wollte erneut gegen die Bohle anrennen, als sie draußen eine Stimme vernahm.
»Hallo? Wer ist da drin?«
Es war eine Männerstimme. Ferris? Gottverdammt! Nein, er würde nicht fragen, wer im Haus war. Er wusste Bescheid. Und die Stimme klang verunsichert, verängstigt. Als hätte ihr Besitzer nicht damit gerechnet, jemanden in diesem alten Haus anzutreffen.
»Inspector Campbell!«, rief Jess.
»Inspector?«, erkundigte sich die Stimme verblüfft. »Was machen Sie da drin?«
»Das ist doch im Moment egal«, heulte Jess. »Holen Sie mich raus!«
»Warten Sie.«
Sie hörte sich entfernende und dann zurückkehrende Schritte.
»Ich habe eine Eisenstange gefunden. Ich werde die Bohlen abhebeln. Treten Sie zurück, für den Fall, dass sie splittern«, befahl die Stimme.
Jess wich zur Küchentür zurück. Sie hörte, wie sich der andere draußen abmühte und leise grunzend vor sich hin murmelte. Dann gab es ein lautes Krachen, und die mittlere Bohle fiel polternd zu Boden. Die obere folgte eine Sekunde später.
David Jones spähte in die Waschküche. Sein Gesicht war gerötet von der Anstrengung, doch seine Augen verrieten immer noch den Schreck, Jess im Haus vorzufinden. »Können Sie über die untere Bohle klettern?«
»Ja. Helfen Sie mir«, ächzte Jess.
Er streckte die Hand aus, und mit seiner Hilfe kletterte sie ins Freie.
»Haben Sie ein Handy?«, fragte sie.
»Ein Handy, ja, Moment bitte …« Er zog ein Mobiltelefon hervor.
»Ist es eingeschaltet? Ich muss Verstärkung herbeirufen.« Augenblicke später sprach sie mit drängender Stimme in den Hörer. »Phil? Ich bin es, Jess Campbell. Schnappen Sie Andrew Ferris, so schnell Sie können, klar? Er ist unser Mann. Und schicken Sie einen Einsatzwagen raus zur Cricket Farm, um mich abzuholen. Ich erkläre Ihnen alles Weitere später.«
Sie gab Jones das Mobiltelefon zurück. »Danke.«
»Wie sind Sie da reingekommen?« Er deutete auf das Haus hinter ihr. Dann runzelte er die Stirn. »Wie meinten Sie das eben, ›schnappen Sie Ferris, er ist unser Mann‹? Hat er Eva umgebracht?«
»Wenn ich es beweisen kann«, antwortete Jess. »Er hat mich von hinten niedergeschlagen und hier oben im Haus eingesperrt. Danke, dass Sie mir geholfen haben. Was machen Sie eigentlich hier oben?«
David Jones errötete. »Ich … ich war schon ein paar Mal hier oben, in meiner freien Zeit. Ich hab mich nur umgesehen. Ich fühle mich Eva hier näher.« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht liegt es daran, dass es so ein gespenstischer Ort ist.«
»Ja«, pflichtete Jess ihm bei. »Es ist ein sehr gespenstischer Ort.«
Urplötzlich drehte der Wind, und noch während sie redete, erfüllte ein neuer Geruch ihre Nase. Zuerst tat sie ihn als Nachwirkung vom Gestank im Haus ab. Doch das war es nicht. Es war ein völlig anderer Geruch. Sie schnüffelte.
Jones hatte es ebenfalls bemerkt. »Irgendetwas brennt!«, rief er. Dann riss er die Hand hoch und zeigte auf eine Stelle hinter Jess. »Sehen Sie nur!«
Hinter dem Wäldchen am Hang, in der Richtung, wo Penny Gowers Reitstall lag, stieg eine Rauchsäule in den Himmel, gefolgt von einem Funkenregen, als hätte jemand ein riesiges Feuerwerk gezündet.
»Der Stall brennt!«, rief Jess erschrocken.