Kapitel 13
Die Cricket Farm hatte einen Besucher. Es war spät, jener Moment, bevor der Tag abrupt der Nacht weicht. Der Horizont leuchtete in kaum noch erkennbarem Rot, wo die Sonne längst untergegangen war. Der Mond war hervorgekommen wie ein blasses Gespenst, ohne Farbe und ohne Substanz, doch er sandte genügend Helligkeit herab, um den Weg über den Farmhof ohne Taschenlampe zu erkennen.
Doch der Besucher mied offenen Raum. Er bewegte sich langsam und behutsam entlang dem Perimeter und suchte Deckung in den Schatten der verfallenden Gebäude. Auf diese Weise erreichte er den offenen ehemaligen Kuhstall und schlüpfte hinein. Hier war es richtig dunkel, doch er kannte sich aus. Der Grundriss des Stalls war in sein Gedächtnis eingeprägt. Über seinem Kopf klapperte und quietschte das Wellblech des Dachs im frischen Wind. Es war kalt hier draußen, oben auf dem Hügel. Wahrscheinlich war es immer kalt, selbst im Sommer. Im Winter hingegen war es eisig. Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er sich mit langsamen, sicheren Bewegungen durch das Innere tastete, bis er zum Eingang zurückkam. Dort verharrte er für eine ganze Weile, genau an der Stelle, wo die Leiche des Mädchens gefunden worden war. Schließlich bückte er sich und berührte den Boden. Seine Finger streiften über Stroh und Dreck.
Er richtete sich auf und ging nach draußen in den Hof. Der Mond hatte seine ungesunde Blässe abgelegt und erstrahlte in hellem silbernem Licht. Kleine flatternde Schemen huschten vor ihm hin und her: Fledermäuse, die aus ihrem Unterschlupf auf dem Dachboden des Hauses gekommen waren, um Beute zu machen. Die Schatten ringsum waren schwarz wie die Samtvorhänge an den Seiten einer Theaterbühne, die freie Fläche in der Mitte wurde von oben angestrahlt. In den Lücken zwischen den Brettern glänzten die Scheiben in den Fenstern des Hauses – und hinter ihnen bewegte sich ein Licht. Der Besucher runzelte die Stirn. Er war nicht das einzige menschliche Wesen, das sich in dieser Nacht auf der Farm herumtrieb.
Jemand war drüben in dem scheinbar verbarrikadierten Haus. Der Besucher unten auf dem Hof zog sich in den Schatten des Schrotthaufens zurück und wartete.
Das verräterische Licht verschwand hin und wieder und tauchte unerwartet hinter einem neuen Fenster auf. Die Person im Haus bewegte sich von Zimmer zu Zimmer, doch es war nicht möglich, vom Hof ihre Bewegungen vorherzusehen. Der Eindringling war nicht besonders vorsichtig. Offensichtlich nahm er an, dass er allein und unbeobachtet war. Doch hin und wieder war ein Fenster sorgfältiger vernagelt als die anderen, und dann war der Lichtschein seiner Taschenlampe nicht zu sehen, und der Besucher konnte nur raten, wo er beim nächsten Mal erscheinen würde.
Nach vielleicht zehn Minuten verschwand der kleine Lichtpunkt der Lampe endgültig. Augenblicke später vernahm der Besucher ein leises Geräusch, das von der Rückseite des Farmhauses zu kommen schien. Ein dumpfer Schlag, dann ein weiterer. Der Besucher ließ sich zu einem Grinsen hinreißen, als ihm bewusst wurde, was es zu bedeuten hatte. Der Eindringling hatte sich Zutritt verschafft, indem er die frisch über die Hintertür genagelte Bohle entfernt hatte. Jetzt brachte er sie wieder an, sodass es bei oberflächlicher Betrachtung aussah, als wäre niemand unbefugt eingebrochen.
Das Hämmern endete, und dann näherten sich Schritte. An der Seite des Hauses tauchte eine dunkle Gestalt auf und überquerte den offenen Hof. Im Mondlicht war nicht mehr als ihre Silhouette zu erkennen. Die Gestalt erschien groß, schlaksig und unbeholfen, und das Licht trug seinen Teil dazu bei, die Umrisse zu verzerren. Der Besucher vermochte nicht zu sagen, ob sie männlich oder weiblich war. Sie verließ den Hof und bog nach rechts ab. Vielleicht fünf Minuten später vernahm der geduldig in seinem Versteck hinter dem Schrotthaufen ausharrende Besucher das Geräusch eines startenden Motors. Ein Wagen entfernte sich.
Endlich war es auch für ihn sicher, sich zurückzuziehen und die alte Farm den Fledermäusen und sonstigen Kreaturen der Nacht zu überlassen.
»Ein Sergeant Gary Collins von der Metropolitan ist am Apparat«, berichtete Detective Constable Bennison und steckte den Kopf mit den baumelnden Zöpfen durch Jess’ Bürotür. Es war Montagmorgen. »Soll ich ihn durchstellen?«
»Sicher, nur her mit ihm«, sagte Jess. Das Wochenende hatte keine neuen Erkenntnisse gebracht, und ihre insgeheime Hoffnung, dass sich zu Beginn der neuen Woche etwas auftun könnte, schien sich zu erfüllen. Sie packte den Telefonhörer, kaum dass Bennison mit wehenden Zöpfen verschwunden war.
»Gary Collins hier«, sagte eine Stimme an ihrem Ohr. »Sind Sie das, Inspector Campbell? Hören Sie, ich dachte, das hier könnte Sie interessieren: Wir sind zu dieser Adresse gefahren, die Sie uns gegeben haben, dieser Wohnung in den Docklands. Teure Gegend, das kann ich Ihnen sagen. Wenn ich mal im Lotto gewinne, kaufe ich mir vielleicht eine Wohnung dort bei den City Boys.«
»Haben Sie einen Blick in die Wohnung werfen können?«, fragte Jess ungeduldig, während sie sich fragte, ob sie mit dem ewig missmutigen Metropolitan-Police-Äquivalent von Phil Morton redete.
»Wir hatten Glück, das kann ich Ihnen sagen. Zuerst dachte ich, wir würden auf Granit beißen. Der Hausmeister ist ein echter Paragraphenreiter namens Cyril Sprang, ein elender Pedant ohnegleichen«, fuhr Collins fort, als die lebhafte Erinnerung an den Hausmeister in den Docklands zurückkehrte. »Er verteidigt das Haus, als stünde die nationale Sicherheit auf dem Spiel. Er wollte nicht, dass wir nach oben in die Wohnung gehen. Sie ist im dritten Stock. Er bestand darauf, mit uns zu kommen, und wir standen alle Mann draußen vor Burtons Tür und diskutierten über die Situation. Mr. Burton sei nicht zu Hause, meinte der Blockwart, und wir sollten gefälligst später wiederkommen. Wir informierten ihn, dass wir nun schon einmal dort seien und demzufolge auch in die Wohnung gehen würden, ob es ihm passte oder nicht. Nun, dann müssten wir eben warten, bis Mr. Burton zurück sei, oder einen gültigen Durchsuchungsbeschluss vorlegen oder jemanden beibringen, der von Mr. Burton befugt sei, uns einzulassen. Ich hatte keine andere Wahl, als ihn zu informieren, dass das unmöglich sei, weil Mr. Burton nicht mehr unter den Lebenden weile. Ich sagte ihm nicht, was passiert war, aber ich machte klar, dass die Wohnung von diesem Moment an Teil einer offiziellen Ermittlung war. Das versetzte ihm einen Schock. Wir mussten uns einen weiteren Vortrag von Sprang anhören, bis er schließlich einräumte, dass er im Besitz eines Schlüssels war. Wie es scheint, hat es einige Wochen zuvor ein Problem mit den Wasserleitungen gegeben. Burton war nicht anwesend, um den Klempner reinzulassen, also hatte er Sprang seinen Reserveschlüssel gegeben, mit der strikten Anordnung, ihn nicht in unbefugte Hände gelangen zu lassen. Sprang ließ den Klempner rein und bewachte ihn die ganze Zeit, während der gute Mann in Burtons Wohnung arbeitete. Das muss den Klempner ohne Ende Nerven gekostet haben.
›Also schön, es gibt einen Schlüssel, heraus damit!‹, haben wir zu ihm gesagt. Doch weit gefehlt! Burton hatte Sprang den Schlüssel zu treuen Händen anvertraut, und er war nicht bereit, ihn jemand anderem auszuhändigen, keinem der anderen Portiers und auch nicht uns. Wir wiesen ihn darauf hin, dass wir keine Portiers waren, sondern Polizeibeamte. Also wiederholte er seine Aufforderung, dass wir uns einen Durchsuchungsbeschluss holen und damit wiederkommen sollten. ›Ich bin nicht befugt, in diese Wohnung zu gehen, und Sie auch nicht!‹, beharrte der dumme alte Narr. Mir war nicht danach, mir die Hacken nach einem richterlichen Beschluss abzurennen, also sagte ich ihm, dass ich, wenn es sein müsste, mir mit Gewalt Zutritt verschaffen würde. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen! Wie dem auch sei, es erfüllte seinen Zweck. Er ging den Schlüssel holen und ließ uns rein.
Die Wohnung sah aus, als wäre eine ganze Weile niemand mehr dort gewesen. Sprang meinte, Burton wäre vor drei Wochen zum letzten Mal da gewesen. Er meinte, wenn Burton in der Zwischenzeit wieder aufgetaucht wäre, hätte er sicher als Erstes den nicht mehr benötigten Schlüssel von Sprang zurückverlangt. Wie dem auch sei, mein Kollege und ich sahen uns zwar gründlich um, aber wir haben die Wohnung natürlich nicht ordentlich durchsucht. Ich schätze, Sie wollen selbst herkommen und das übernehmen, oder? Burton hatte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, irgendein Typ, der zurückgerufen werden wollte und eine Handynummer nannte. Haben Sie einen Stift?«
»Ja«, sagte Jess und zog einen Notizblock zu sich heran. »Hat er gesagt, worum es bei seinem Anruf ging?«
»Nein, nur, dass Burton ihn so schnell wie möglich zurückrufen solle. Der Anruf war am Montagmorgen letzter Woche um halb zwölf.«
Zu diesem Zeitpunkt war Burton vermutlich schon tot gewesen. Jess erschauerte, als sie daran dachte, wie willkürlich der Tod zuschlug. Die besten Pläne …
»Der Anschluss gehört einem Typ namens Archie Armstrong«, fuhr Collins fort, nachdem er Jess die Nummer diktiert hatte. »Er wohnt oben im Norden.«
»Mit ›Norden‹ meinen Sie den Norden von London, richtig?«, erkundigte sich Jess, die schon einmal hereingefallen war.
»Ja, sicher. Was denn sonst?«, entgegnete Collins verblüfft.
Na, beispielsweise Yorkshire, Kollege, oder noch weiter oben! Aber für Collins im warmen, gemütlichen Nest der Großstadt waren so weit abgelegene Gegenden wahrscheinlich ein völlig absurder Gedanke.
»Ich wollte nur sicher sein«, sagte sie. »Danke, Sergeant.«
Collins hatte gute Arbeit geleistet. Sie war dankbar. Er hatte ihr viel Zeit erspart.
»Kann ich sonst noch was für Sie tun?«, fragte Collins.
»Nein, im Augenblick nicht«, antwortete sie. »Ich komme morgen nach London und werfe selbst einen Blick auf diese Wohnung. Sie sagen, der Hausmeister ist vor Ort?«
»Entweder er oder einer seiner Kollegen. Erwähnen Sie meinen Namen«, fügte Collins mit einem unerwarteten Kichern hinzu. »Aber wir haben den Schlüssel hier auf dem Revier, Sie müssen also zuerst hier vorbeikommen. Ich habe Sprang informiert, dass wir die Wohnung versiegeln müssen, weil sie Bestandteil unserer Ermittlungen ist. Als er merkte, dass ich den Schlüssel behalten würde, bekam er fast einen Herzanfall. Ich habe ihm eine Quittung ausgestellt. Wenn Sie dort auftauchen, redet er Ihnen die Ohren voll, ganz bestimmt, genau wie er es bei mir getan hat. Als wären es die Schlüssel zu den Kronjuwelen.«
Jess musste unwillkürlich lächeln. »Danke. Ich hoffe, ich treffe ein paar von Burtons Nachbarn an. Wir versuchen uns ein Bild von dem Mann zu machen. Ich möchte mich auch mit diesem Archie Armstrong unterhalten.«
Collins kicherte immer noch, als Jess den Hörer auflegte. Sie studierte den Zettel mit der Handynummer von Armstrong. Collins hatte Recht. Wer auch immer Armstrong war und was auch immer er mit dem verstorbenen Lucas Burton zu tun gehabt hatte, er war sicher alles andere als glücklich, wenn die Polizei vor seiner Tür auftauchte. Sie griff erneut nach dem Telefonhörer.
Eine Männerstimme meldete sich kurz angebunden: »Hallo?«
Sie nannte ihren Namen. Die nächsten Worte am anderen Ende klangen misstrauisch.
»Inspector Campbell? Verzeihung, aber dürfte ich erfahren, woher Sie diese Nummer haben?«
»Es handelt sich um eine Ermittlung«, sagte Jess, ohne auf die Frage zu reagieren.
Sie hörte ein ärgerliches Schnaufen, gefolgt von: »Nun, was kann ich für Sie tun?«
»Es tut mir leid, wenn ich Sie belästigen muss«, versuchte Jess ihn zu beschwichtigen. »Aber wenn ich richtig informiert bin, sind Sie mit einem gewissen Lucas Burton bekannt?«
»Burton?« Eine kurze Denkpause. »Oh. Nun ja, sozusagen. Wir hatten in der Vergangenheit geschäftlich miteinander zu tun. Alles einwandfrei und im Rahmen der Gesetze. Sie können das gerne kontrollieren.«
»Sie haben am Montagmorgen vergangener Woche eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter in der Londoner Wohnung hinterlassen …«
»Daher also haben Sie meine Nummer?« Die Stimme am anderen Ende wurde hart. »Was hat das zu bedeuten? Ist Burton in eine illegale Sache verwickelt? Falls ja, dann hat das nichts mit mir zu tun. Wie kommen Sie überhaupt dazu, seinen Anrufbeantworter abzuhören?«
»Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Mr. Burton gestorben ist.«
Schockiertes Schweigen.
»Wir suchen Leute, die ihn kannten. Er scheint ein sehr zurückgezogenes Leben geführt zu haben. Wir kennen keinerlei Anverwandte, und seine Geschäftspartner sind die nächsten auf unserer Liste.«
»Warten Sie, einen Moment«, protestierte Armstrong. »Sie sagen, er ist gestorben – wie ist er gestorben und wann?«
»Er starb am Montag. Dem Tag, an dem Sie bei ihm in London angerufen haben.«
»Was denn, in London? Er ist hier in London gestorben?« Die Stimme wurde aufgeregt.
»Nein, in Gloucestershire.«
Armstrong stieß einen erleichterten Seufzer aus.
»Ich fahre nie raus aufs Land, nicht in den Westen«, sagte er. »Ich fahre regelmäßig runter in den Süden, ans Meer. Ich hab da ein Boot liegen. Ich habe Lucas immer nur hier in London getroffen, und auch das nur ein paar Mal.«
»Aber Sie wollten, dass er Sie anruft«, erinnerte Jess ihn. Wahrscheinlich verfluchte Armstrong inzwischen die Tatsache, dass er eine Nachricht auf diesem Anrufbeantworter hinterlassen hatte.
»Ich wollte mich nur wieder einmal melden«, sagte er wenig überzeugend. »Geschäftskontakte, wissen Sie? Ich bleibe gerne in Verbindung. Ehrlich, ich kannte Lucas Burton nur rein geschäftlich, und ich weiß nicht, wie ich Ihnen da weiterhelfen soll. Ich habe ihn nie über seine Familie reden hören. Der arme Kerl, natürlich tut es mir leid, dass er den Löffel abgegeben hat. Ich muss schon sagen, ich bin ein wenig überrascht. Er machte einen sehr gesunden Eindruck.« Erneut schwang Zweifel in seiner Stimme mit. »Wie ist er gestorben? Herzanfall?«
»Darf ich vorbeikommen und mich mit Ihnen unterhalten, Mr. Armstrong? Ich würde gerne morgen kommen, am Dienstag, falls es Ihnen recht ist. Es tut mir leid, wenn es mit Ihren sonstigen Terminen kollidiert, aber heute ist es schon ein wenig spät, um noch bis nach London zu fahren.«
»Kein Problem.« Er klang versöhnlich. Er hatte Zeit gehabt, um den anfänglichen Schock zu überwinden, und jetzt war er der besorgte Bürger, eifrig darauf bedacht, seine Pflicht zu erfüllen und der Polizei zu helfen. Er hatte eingesehen, dass Jess sich nicht von seinen schwachen Protesten beeindrucken ließ. »Ich kann von zu Hause aus arbeiten, während ich auf Sie warte«, sagte er.
»Dann komme ich zu Ihnen nach Hause. Wir können uns auch gerne woanders treffen, wenn Ihnen das vielleicht lieber ist.«
Doch Armstrong wollte nicht, dass sie in seinem Büro auftauchte oder sonst irgendwo, wo seine Geschäftspartner sie vielleicht zusammen sahen.
»Nein, nein«, sagte er hastig. »Bei mir zu Hause ist kein Problem. Meine Partnerin ist auf einer Geschäftsreise nach New York, und ich bin ganz allein zu Hause. Kommen Sie vorbei. Sie kommen doch nicht in Uniform, oder?«
Archie Armstrong wohnte ebenfalls in einem alten Haus, nicht viel jünger als Lucas Burtons Haus in Cheltenham. Doch während Burton ganz allein in seinem Haus gewohnt hatte, war dieses hier in Wohnungen aufgeteilt worden. Was nicht bedeutete, dass es billiger gewesen wäre. Jess drückte auf den Klingelknopf neben Armstrongs Namen, und im Lautsprecher knackte es. Sie nannte ihren Namen, und eine körperlose Stimme bat sie, einzutreten und nach oben ins oberste Stockwerk zu kommen. Der Türöffner summte, und Jess stieg eine steile, schmale Treppe hinauf. Unterwegs passierte sie mehrere weiß gestrichene Wohnungstüren. Es herrschte eine bedrückende Stille im Haus. Die anderen Bewohner waren wahrscheinlich alle zur Arbeit. Eine Wohnung in diesem Haus, in dieser Gegend kostete sicher eine ganze Menge Geld. Hier wohnte niemand, der zu wenig davon besaß.
Armstrong erwartete sie auf dem Treppenabsatz.
»Inspector Campbell?« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Hatten Sie eine gute Fahrt von Gloucestershire hierher?«
»Ja, danke sehr.« Jess ergriff seine Hand und schüttelte sie kurz.
»Gut, sehr gut. Bitte kommen Sie herein.«
Sie vermutete, dass er sich alles zurechtgelegt hatte. Geh nicht runter, um sie reinzulassen – zu eifrig. Warte auf dem Treppenabsatz – zeigt Zuvorkommenheit. Reich ihr die Hand und frag sie, wie die Fahrt gewesen ist – brich das Eis. Mit anderen Worten, mach einen guten ersten Eindruck und gib dich als der ganz gewöhnliche nette Kerl von nebenan.
Alles an seinem Auftreten legte die Vermutung nahe, dass Armstrong die Zuvorkommenheit kultivierte und nicht nur bei ihr daran arbeitete, diesen Eindruck zu vermitteln. Er war von mittlerer Größe und wirkte jugendlich, obwohl er wahrscheinlich nicht ganz so jung war, wie der erste Eindruck vermittelte, und er wirkte fit und durchtrainiert. Sie wusste, dass er an den Wochenenden zum Segeln fuhr. Wahrscheinlich war er außerdem Mitglied in einem Fitnessstudio. Er hatte kurz geschnittenes blondes Haar und einen rötlichen Teint, und er trug Khakihosen und ein hellblaues Hemd. Trotz seiner gesunden Ausstrahlung setzte er hier und da Speck an. Seine Armbanduhr sah aus, als wäre sie teuer gewesen.
Er winkte sie an sich vorbei durch die Tür. Sie kam in einem großen offenen Raum heraus, und ihr wurde bewusst, dass sie tatsächlich auf der »obersten« Etage gelandet war. Die Wohnung befand sich im ausgebauten ehemaligen Dachboden. Sie zog sich über die gesamte Grundfläche des Hauses hin, und die Decke erinnerte an eine holländische Scheune mit Gaubenfenstern, die fast bis zum Boden reichten. Der Bereich, in den sie nun kamen, war spärlich möbliert mit zwei weißen Ledersofas und einem Glastisch dazwischen. Auf dem polierten Dielenboden lag ein Orientteppich, und an der pfirsichfarbenen Wand hing ein Gemälde von irgendeinem modernen Künstler, den sie nicht kannte. An einer weiteren Wand hing ein großer Flachbildfernseher. Der Essbereich, ein Glastisch und Edelstahlstühle, lag hinter einem Raumteiler. Der Tisch war gedeckt wie für ein förmliches Essen, allerdings nicht – jedenfalls nahm Jess das an – weil Armstrong an diesem Abend Gäste eingeladen hatte. Der Tisch sah immer so aus, mit exakten Abständen zwischen den einzelnen Gedecken, gestärkten roten Servietten und einer Rose in einer Rosenvase in der Mitte. Es war alles Teil des »Flairs«. Unglücklicherweise fühlte sich Jess jedoch an das Flair eines Goldfischglases erinnert. Hätte Armstrong nicht eine Partnerin erwähnt, sie hätte angenommen, dass er ganz allein hier lebte.
»Ich kann Ihnen Tee oder Kaffee anbieten«, sagte er.
»Bitte machen Sie sich keine Mühe«, antwortete Jess. »Ich bin froh, dass Sie sich für mich Zeit nehmen, und das reicht mir völlig.« Sie setzte sich auf eins der beiden Sofas.
»Oh, nun ja, wenn es eine offizielle Ermittlung ist, dann möchte ich selbstverständlich helfen, soweit es in meiner Macht steht. Obwohl mir, wie ich bereits gestern am Telefon erwähnt habe, nicht ganz klar ist, wie ich Ihnen helfen kann.«
Jetzt, nachdem sie Platz genommen hatte, schien Armstrong ein wenig ruhiger zu werden. Er machte es sich auf dem zweiten Sofa bequem und lieferte eine weitere vorher geprobte Ansprache.
»Das mit Lucas tut mir natürlich sehr leid – nicht, dass ich ihn sonderlich gut gekannt hätte, wie ich Ihnen, glaube ich, ebenfalls bereits am Telefon gesagt habe. Er war ein ziemlich offener, normaler, geradliniger Bursche, wenn ich das so sagen darf. Ich hatte nie Grund zu der Annahme, dass er irgendwelche Dinge machte, die nicht mit dem Gesetz im Einklang stehen. Ich hätte sonst keine Geschäfte mit ihm gemacht. Ich denke, Sie werden feststellen, dass die meisten Leute das Gleiche von ihm sagen. Sie haben noch gar nicht erzählt, wie er gestorben ist. Oh, was ist denn das?«
Der letzte Ausruf galt dem kleinen Aufzeichnungsgerät, das Jess auf den Tisch gelegt und eingeschaltet hatte.
»Ist es nötig, unsere Unterhaltung mitzuschneiden?« Von der einsetzenden Entspannung war nichts mehr zu bemerken.
»Reine Routine, Mr. Armstrong, glauben Sie mir. Entweder das, oder ich muss einen Block nehmen und mir Notizen machen. Was ist Ihnen lieber?«
»Hm, also schön, wenn das so ist.« Er beäugte den kleinen Rekorder, als könnte das Gerät jeden Augenblick vom Kaffeetisch springen und ihn beißen.
»Mr. Burtons Tod ist Gegenstand unserer Ermittlungen, und Sie werden verstehen, dass ich Ihnen aus diesem Grund nicht viel sagen kann.« Jess lächelte ihn an.
»Aber sein Tod ist verdächtig?« Armstrong schien fasziniert von dem kleinen Rekorder. Er starrte ihn unverwandt an.
»Ja. Er wurde am vergangenen Montag tot aufgefunden.«
»Zu Hause? Ich glaube, er hatte ein Haus in Cheltenham. Er hat es mir gegenüber einmal erwähnt.«
»Er wurde in seiner Garage gefunden.«
Armstrong beugte sich vor. »O mein Gott! Er hat sich doch wohl nicht selbst umgebracht? Mit laufendem Motor und Schlauch vom Auspuff ins Wageninnere?«
»Nein, nein, er hat sich nicht selbst das Leben genommen.« Es war an der Zeit, dass Jess das Kommando über das Gespräch übernahm. »Sie sagen, Sie hätten Burton nicht sehr gut gekannt, aber Sie haben sich bei mehreren Gelegenheiten mit ihm getroffen. Waren dies ausschließlich geschäftliche Treffen? Könnten Sie ein wenig genauer erklären, was für Geschäfte das waren?«
Armstrong wurde vorsichtig. »J-ja … Einige Freunde und ich – und Burton – haben eine kleine Firma gegründet, die in Mietimmobilien investiert. Mein Kontakt zu Burton lief nur über die Firma. Er hatte ohne Zweifel noch viele andere Interessen, aber davon weiß ich nichts. Ich war … ich bin nicht darin involviert.«
Armstrong zögerte. »Sie werden sicher verstehen, dass ich Ihnen keine Einzelheiten über unser Portfolio erzählen kann, ohne vorher mit meinen Geschäftspartnern zu sprechen.«
»Das ist heute auch gar nicht erforderlich«, antwortete Jess zu seiner unübersehbaren Erleichterung. »Allerdings komme ich später vielleicht darauf zurück. Was mich heute interessiert ist vielmehr die Frage, ob Sie eine neue Unternehmung geplant hatten und ob Sie aus diesem Grund eine Nachricht auf Mr. Burtons Anrufbeantworter hinterlassen haben.«
»Oh, nein, nein, ganz und gar nicht. Ich wollte lediglich Kontakt halten, wie ich bereits sagte.«
Dieses hastige Dementi klang nicht sehr glaubwürdig, doch Jess vermutete, dass, falls sie eine neue Unternehmung planten, diese noch in einem frühen Stadium war und Armstrong und seine Partner verhindern wollten, dass etwas davon nach außen drang. Er würde sich zuerst mit ihnen beraten müssen, und sie war sicher, dass er gleich als Erstes zum Telefonhörer greifen würde, sobald sie gegangen war.
»Im Hinblick auf die jüngsten Geschehnisse – wäre es vielleicht möglich, dass Sie ein wenig offener sprechen, was Lucas Burton angeht?«, wechselte sie das Thema. »Bis jetzt haben Sie all die richtigen Dinge gesagt, aber sehr allgemein gehalten. Ich verstehe, dass Sie ihm vertraut haben, sonst hätten Sie schwerlich Geschäfte mit ihm gemacht. Aber Ihre persönliche Meinung wäre wichtig für uns. Immerhin ist Ihre Bekanntschaft mit Mr. Burton schon ein wenig tiefer. Sie müssen sich mit ihm angefreundet haben, beim Essen miteinander geredet haben, das eine oder andere Glas Wein miteinander getrunken haben, oder etwa nicht?«
Armstrong musterte sie einen Moment lang nachdenklich. »Wenn Sie eine Reporterin wären, würde ich jetzt darum bitten, dass alles, was ich sage, als inoffiziell und vertraulich behandelt wird. Aber mir ist klar, dass dem nicht so ist. Lucas ist tot. Ich nehme an, ich kann offen sein. Also schön. Manche Leute hielten ihn für einen aalglatten Hund. Meine Geschäftspartner und ich haben ihn stets als sehr geradeaus erlebt, was unsere Geschäftsinteressen anging. Wir sind eine seriöse Firma. Wir machen keine krummen Sachen. Wir hätten Lucas nicht aufgenommen, wenn wir gedacht hätten, dass er zu einem Problem wird. Auf der anderen Seite war er äußerst nützlich für uns. Er war einer von der Sorte, die immer wissen, was gerade passiert, und die wie ein guter Reporter nie ihre Quellen preisgeben. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Ja, ich verstehe sehr gut, dachte Jess säuerlich. Ein gerissenes Schlitzohr. Einer von der Sorte, die immer den richtigen Mann kennt. Ich frage mich, in welchen Geschäften Burton sonst noch seine Finger hatte. Armstrong ist eifrig darauf bedacht, einen seriösen Eindruck auf mich zu machen und so zu tun, als hätte er nichts zu verbergen. Allerdings frage ich mich, ob das für die anderen gleichermaßen gilt …
»Er war ein angenehmer Partner«, fuhr Armstrong fort. »Er konnte sogar richtig charmant sein. Er war nicht verheiratet, und seine Freundinnen sahen immer umwerfend aus. Er kam nie zweimal mit derselben an. Er wollte sich nicht binden, schätze ich. Insgeheim war er ein ziemlich harter Bursche. Wenn Sie mich fragen – und das ist nur mein persönlicher Eindruck –, dann hatte er eine harte Kindheit hinter sich. Er hatte so eine gewisse Schärfe, wenn Sie verstehen, was ich meine? Nach außen hin gab er sich lässig, aber es wirkte irgendwie nie echt. Ich mochte ihn trotzdem. Weder ich noch irgendjemand, den ich kenne, hatte je ein Problem mit ihm. Wäre es anders gewesen …«, an diesem Punkt wurde seine Stimme hart, »… wir hätten uns von ihm getrennt, glauben Sie mir.«
Wahrscheinlich hat sich jemand anders von ihm getrennt, dachte Jess, indem sie sich die reglose Gestalt neben dem glänzenden silbernen Mercedes in der Garage ins Gedächtnis rief. Diese Investorengruppe hatte nie ein Problem mit ihm, aber vielleicht eine andere?
Armstrong lehnte sich auf seinem weichen Sofa zurück. »Er hatte ein glückliches Händchen. Aber er war auch ein Mann voller Geheimnisse, wenn Sie so wollen.«
»Danke sehr«, sagte Jess und schaltete das Aufzeichnungsgerät aus. »Das war sehr hilfreich, Mr. Armstrong.«
Er entspannte sich sichtlich, jetzt, nachdem die kleine rote Lampe an dem Rekorder nicht mehr leuchtete. »Ich muss meine Kompagnons über Ihren Besuch informieren, das verstehen Sie doch? Lucas’ Tod hat eine Lücke hinterlassen, und es gibt finanzielle Implikationen. Sein Nachlass muss geregelt werden, was Einfluss auf unsere Geschäfte und uns hat. Wissen Sie, wer seine Erben sind?«
Jess runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Ich verstehe, dass Sie Ihre Kompagnons wegen des verstorbenen Mr. Burton kontaktieren müssen, doch ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nicht allzu frei darüber plaudern würden. Geben Sie nicht mehr preis, als Ihre Partner wissen müssen.«
»Wie die Polizei es macht?«, fragte Armstrong lächelnd.
»Diskretion ist stets angeraten«, erwiderte Jess ein wenig gestelzt. »Können Sie mir eine Liste mit den Namen Ihrer Geschäftspartner geben? Sowie die zugehörigen Telefonnummern? Ich muss mit allen reden.«
»Ja, sicher, ich denke schon. Sicher. Schon klar, dass Sie nicht nur mit mir allein reden wollen. Das wird ein ziemlicher Schock für sie. In den Zeitungen habe ich noch kein Wort über seinen Tod gelesen, und sie sicher auch nicht, sonst hätten sie mich bestimmt längst informiert.«
»Wir geben es im Lauf dieser Woche an die Presse.«
»Der arme alte Lucas. Wer hätte das gedacht? Ich sehe ihn vor mir, als wäre es gestern, wie er dort auf dem Sofa sitzt, genau dort, wo Sie jetzt sitzen, ein Glas Whisky in der Hand. Wir … na ja, je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir klar, dass uns das eine Menge Kopfzerbrechen bereiten wird. Sie glauben, er wurde ermordet, nicht wahr? Gütiger Himmel, wer sollte so etwas tun? Und warum?« Armstrong erblasste. »Wir sind doch wohl nicht verdächtig, oder doch?«
Cyril Sprang war genauso zurückhaltend wie Armstrong und mindestens ebenso sehr darauf bedacht, einen rechtschaffenen Eindruck zu hinterlassen.
»Mr. Burton war ein sehr anständiger Mann«, sagte er, während er Jess durch seine dicken Brillengläser von oben bis unten musterte.
Jess war nicht als »anständiger Mann« zu klassifizieren. Selbst heutzutage noch gab es Menschen, die weibliche Polizisten missbilligten, erst recht in höheren Rängen. Mr. Sprang gehörte eindeutig zu diesen Menschen. Er hielt Jess’ Dienstausweis auf Armeslänge von sich und studierte ihn eine ganze Minute, bevor er ihn zurückgab. Als versuche sie, ihm eine Fälschung unter die Nase zu reiben, dachte sie amüsiert.
Sprang selbst war von mittlerem Alter und mittlerer Größe und auch sonst in jeder Hinsicht mittel: mittleres graues Haar, mittlerer Teint. Nur widerwillig hatte er Jess Einlass in seinen Hort gewährt, von wo aus er ein wachsames Auge auf das Kommen und Gehen im Wohnblock hatte, einem umgebauten ehemaligen Themse-Lagerhaus. Er wusste, dass die Bewohner wohlhabende, zurückgezogen lebende Leute waren, und er sorgte dafür, dass sie die Privatsphäre bekamen, die sie suchten. Im Gegenzug erwiesen sie sich zweifelsohne großzügig, was die weihnachtlichen und sonstigen Trinkgelder anging.
»Ein Kollege von Ihnen war schon hier«, brummte er missmutig. »Von der Met. Ich nehme an, jetzt wollen Sie auch in die Wohnung.«
»Sergeant Collins war in meinem Auftrag hier. Ich habe mit ihm gesprochen.«
»Dann wissen Sie sicher auch, dass er den Schlüssel mitgenommen hat. Ich bin verantwortlich für diese Schlüssel, wissen Sie? Hat er Ihnen den Schlüssel ausgehändigt?«
»Ja. Ich habe ihn dabei.«
»Er hatte kein Recht, ihn an jemand anderen weiterzugeben. Er hatte kein Recht dazu. Ich hätte ihm den Schlüssel gar nicht erst geben dürfen, weil er kein Recht hatte, ihn von mir zu verlangen. Aber er hat gedroht, Gewalt anzuwenden. Einzubrechen! ›Nur über meine Leiche!‹, habe ich zu ihm gesagt. Leider waren sie zu zweit, deswegen hatte ich keine andere Wahl, als ihm den Schlüssel zu geben. Ich bin sicher, er hat irgendein Bürgerrecht gebrochen. Wie dem auch sei, er ist oben gewesen und hat sich umgesehen. Warum müssen Sie jetzt auch noch rauf?«
»Es handelt sich um eine Polizeiangelegenheit, Mr. Sprang. Wir ermitteln wegen der Umstände von Mr. Burtons Tod.«
»Warum denn das? Sind es zweifelhafte Umstände, oder was?«, fragte Sprang, und in seinen Augen erschien ein Glitzern, das von den dicken Brillengläsern zugleich vergrößert und verzerrt wurde.
Auf einem Sims unter dem Schlüsselbrett lag eine Boulevardzeitung. Möglicherweise war er zu mehr Mitarbeit zu bewegen, falls sich Sensationsnachrichten aus dem Besuch der Polizei ergaben.
»Ich fürchte ja«, räumte Jess ein. »Wir vermuten, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Doch es ist noch zu früh, um mehr zu sagen.«
»Der arme Kerl«, sagte Sprang relativ aufgeräumt, jetzt, da er wusste, dass er mit Sicherheit zu den Ersten gehörte, die von dieser Geschichte erfuhren – einer Geschichte, die zweifelsohne bald schon in sämtlichen Zeitungen erscheinen würde. Er wäre imstande, sie den übrigen Bewohnern mitzuteilen, wenn diese abends nach Hause kamen. Was ihm die Befriedigung verschaffte, einen kleinen Aufruhr zu verursachen, wie ein Fuchs im Hühnerstall. Keiner der anderen Bewohner wollte in eine Mordermittlung der Polizei hineingezogen werden, so viel stand fest.
»Möchten Sie, dass ich mit Ihnen nach oben komme? Ist kein Problem.« Er rieb sich die Hände. Es klang unangenehm rau.
»Ich denke, es geht auch so, Mr. Sprang. Ich glaube nicht, dass es lange dauert.«
»Ich bin verantwortlich für diese Wohnung, wissen Sie? Für sämtliche Wohnungen, wenn die Bewohner nicht zu Hause sind.« Die Augen hinter den Vergrößerungsgläsern kamen näher, und Jess musste sich mühsam beherrschen, um nicht zurückzuzucken. »Ich muss wissen, ob Sie etwas mitnehmen. Sonst sagt vielleicht noch jemand, ich wäre schuld, dass etwas verschwunden ist.«
»Ich gebe Ihnen eine Quittung, falls ich etwas mitnehme«, erwiderte sie und schob sich zur Tür. Sprang war unübersehbar enttäuscht. Nichtsdestotrotz unternahm er einen letzten Versuch. »Warten Sie, ich bringe Sie rauf und zeige Ihnen den Weg.«
Jess öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch dann beschloss sie, ihm wenigstens diesen kleinen Sieg zu lassen. Sie brauchte Sprang auf ihrer Seite.
»Danke sehr, Mr. Sprang.«
Es gab einen Lift, doch weil die Wohnung im ersten Stock lag, wählte Jess die Treppe.
»Hat Mr. Burton seine Wohnung regelmäßig genutzt?«, wollte sie von Sprang wissen, der vor ihr die Stufen hinaufstieg.
»Er kam und ging«, erwiderte Sprang über die Schulter. »Er war ein-, zweimal im Monat hier. Manchmal blieb er eine ganze Woche und fuhr erst am Wochenende wieder in sein anderes Haus. Manchmal kam er nur übers Wochenende.«
»Hatte er viele Besucher?«
Sprang antwortete nicht sogleich auf die Frage. Sie waren vor der Wohnungstür angekommen, und nun stand er da und sah zu, wie Jess den Schlüssel in das Schloss schob und aufsperrte, bevor er antwortete.
»Nicht so viele, nein. Er hatte nicht oft Besuch. Gelegentlich …« Er verstummte fasziniert, als die Tür aufschwang, und spähte an Jess vorbei ins Innere. »Haben Sie was dagegen, wenn ich mit reinkomme und einen kurzen Blick in die Runde werfe? Ich fasse auch nichts an.«
Es war ein Tauschgeschäft. Sprang war bereit zu reden, doch sie musste ihm einen Anreiz geben.
»Also schön, werfen Sie einen Blick in die Runde«, sagte Jess. »Aber es wäre wirklich besser, wenn Sie nichts anfassen. Möglicherweise müssen wir später alles auf Fingerabdrücke untersuchen.«
Sprang schoss durch die Tür und in den Flur und blickte sich neugierig um, doch er wurde nicht mit einem spektakulären Anblick belohnt. Keine umgeworfenen Möbel, keine ausgeleerten Schubladen. Gott sei Dank, dachte Jess, dass Collins nicht alles durchwühlt hat bei seinem Besuch.
Sprang verbarg seine Enttäuschung, so gut er konnte. »Wie ich bereits sagte, er war ein Einzelgänger, wenn ich das richtig sehe. Er hatte keine Frau und keine feste Freundin, die regelmäßig hier gewesen wäre.«
»Aber er hat hin und wieder Freundinnen mit hierher genommen?«
Er grinste nicht gerade lüstern, doch sein Gesichtsausdruck war nicht frei von Anzüglichkeit, was noch verstärkt wurde vom Licht, das auf die dicken Brillengläser fiel. »Oh ja, regelmäßig, würde ich sagen. Die meisten davon atemberaubend hübsch. Sie sahen aus wie Models, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Richtige Models?«
»Na ja, wahrscheinlich waren es Nutten«, räumte Sprang ein. »Aber nicht von der üblichen Sorte. Sie hatten allesamt Klasse.«
»Mädchen von Begleitagenturen vielleicht?«
Sprang zögerte, und Jess fuhr fort. »Erzählen Sie mir nicht, Sie hätten noch nie welche von dieser Sorte hier im Haus gesehen.«
»Hier wohnen lauter ehrbare Leute, wissen Sie?«, beeilte sich Sprang, die Ehre seiner Klientel zu verteidigen. Er mochte bereit sein, Dreck über den toten Lucas Burton zu kippen, aber nicht über lebende Bewohner des Blocks.
»Wenn Sie mich nach Mr. Burton fragen«, fuhr er nun entschieden fort, »dann denke ich, dass er … dass er einen Kreis von Freundinnen hatte. Er brachte nie dieselbe zweimal hintereinander mit, aber ich habe gelegentlich eine erkannt, die ich schon einmal gesehen hatte, wenn Sie wissen, was ich meine?«
Oh ja, ich weiß, dachte Jess. Burton hatte ein kleines Adressbuch mit den Namen seiner Freundinnen. Das berühmte »schwarze Büchlein«. Wir haben es bisher nicht gefunden, nicht in seinem Haus in Cheltenham. Ich frage mich, ob es hier ist?
»Nun, ich danke Ihnen fürs Erste, Mr. Sprang«, sagte sie laut. »Ich sehe mich nur noch kurz um, dann komme ich auf dem Weg nach draußen noch einmal bei Ihnen vorbei.«
Diesmal nahm Sprang seine Entlassung widerstandslos hin.
Nachdem sie allein war, streifte sie ein paar dünne Latexhandschuhe über und begann eine methodische Suche. Rasch kam sie zu dem Schluss, dass Burton wohl bewusst nichts Heikles in seiner Londoner Wohnung aufbewahrt hatte. Er war schließlich immer wieder für längere Zeiträume abwesend gewesen.
Mit Sicherheit gab es hier kein schwarzes Büchlein. Carter war überzeugt, dass der Mörder Burtons Schlüssel benutzt und das Haus in Cheltenham durchsucht hatte, bevor sie und der Superintendent dort gewesen waren. War es das, wonach er gesucht hatte? Armstrong hatte ihr verraten, dass Burton ein Mann voller Geheimnisse gewesen war. Ein Mann mit Insider-Kontakten, die er seinen Co-Investoren nicht offenbart hatte. In diesem Fall hatte Burtons schwarzes Büchlein wahrscheinlich nicht nur die Telefonnummern seiner Freundinnen, sondern auch diejenigen seiner zwielichtigen Kontakte enthalten. Ganz ähnlich einer Spitzelkartei der Polizei.
War es dieses schwarze Buch gewesen, nach dem der Mörder in Cheltenham gesucht hatte? Hatte er es gefunden? Hatte er außerdem diese Wohnung durchsucht, um nur ja sicherzugehen, dass keine verräterische Spur auf ihn deutete?
Jess stieg die Treppe hinauf und hinunter, um die übrigen Wohnungsinhaber zu befragen, doch ihre Bemühungen blieben fruchtlos. Diejenigen, die zu Hause waren, gaben vor, von nichts zu wissen.
»Ich kann nicht sagen, dass ich ihn kannte, nein. Sicher, ich bin ihm wahrscheinlich gelegentlich im Hausflur begegnet oder mit ihm im Aufzug gefahren. Aber wenn, dann kannte ich nicht mal seinen Namen. Die meisten von uns hier arbeiten in der Innenstadt von London, und offen gestanden, wir pflegen keinen Kontakt untereinander.«
So viel zum Leben in den besten Lagen. Jess fand ihre kleine Wohnung in Cheltenham heimeliger. Wenigstens wusste sie, wer unter ihr wohnte.
Sprang kam aus seinem Verschlag, als sie die Treppe herunterkam, und starrte sie durch seine dicken Brillengläser aus riesigen Augen erwartungsvoll an.
Sie musste ihn enttäuschen. »Wir kommen mit einem Spurensicherungsteam wieder. Bis dahin muss ich die Wohnung versiegeln. Sagen Sie, abgesehen von weiblichen Besuchern – hatte er auch andere Personen zu Gast? Männer?«
»Kaum«, sagte Sprang mürrisch.
»Wenn ich die Frage ein wenig anders formulieren darf«, beharrte sie. »Haben Sie in letzter Zeit Fremde beobachtet? Besucher, die Sie nicht kannten? Wie schwierig wäre es für einen Besucher, unbemerkt an Ihrem Büro vorbei ins Haus zu gelangen? Was ist, wenn Sie nicht im Dienst sind?«
»Niemand kommt unbemerkt an mir vorbei!«, schnappte Sprang. »Ich bin der Hauptverwalter, aber ich habe Vertretungen, zugegeben. Mickey Fisher übernimmt normalerweise die Nachtschicht. Auch an ihm kommt niemand unbemerkt vorbei. Und dann haben wir noch einen Aushilfsconcierge, Jason Potts. Er ist ebenfalls auf Zack. Ich dulde keine Müßiggänger und Faulpelze in meinem Team. Und der Company würde es auch nicht gefallen.«
»Company?«
»Die Sicherheitsfirma.«
Vielleicht konnte Gary Collins ihr einen weiteren Gefallen erweisen, dachte Jess, und sich mit der Sicherheitsfirma in Verbindung setzen. Vielleicht konnte er den Nachtportier und den Aushilfsconcierge befragen, und vielleicht konnte er noch einige Bewohner vernehmen, die nicht zu Hause gewesen waren. Collins schien von der hilfsbereiten Sorte zu sein, auch wenn die Metropolitan mit Sicherheit ihren eigenen Berg von dringenden Fällen hatte und Collins vielleicht glaubte, schon genug Zeit mit Jess’ Problem verbracht zu haben. Morton hingegen hatte vielleicht gar nichts einzuwenden gegen einen Tag in London.
Sprang richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und nahm die Haltung eines Feldherrn ein.
»Wenn Sie diesen Schlüssel verlieren, Miss, dann gibt es Ärger, das kann ich Ihnen sagen. Ich bin verantwortlich für diese Wohnungen, nicht Sie, und auch nicht dieser Sergeant von der Met.«