Kapitel 5
Samstagmorgen war, wie Jess sehr schnell erkannte, keine gute Zeit, um einen Reitstall zu besuchen, erst recht nicht einen Reitstall, der nicht nur Reittiere in Pension nahm, sondern auch Reitunterricht anbot.
Sie stieg aus dem Wagen und überflog die zwei heruntergekommenen Schuppen mit den Boxen darin. Das Wellblechdach hatte dringend Reparaturen nötig. »Wenn es hier regnet«, dachte sie, »muss das einen höllischen Lärm machen. Ich schätze, die Gäule sind daran gewöhnt.« Der freie Raum zwischen den Schuppen bildete eine Art Hof mit einer Badewanne, die als Pferdetränke diente, einem Stapel Heuballen und einem leicht dampfenden Misthaufen. Am anderen Ende parkten mehrere Fahrzeuge, und dahinter sah Jess eine Koppel mit einer Reihe niedriger Sprünge.
Sie war früh dran, doch die Arbeit hier hatte noch früher angefangen; das Ausmisten war offensichtlich schon vorbei, und der warme Geruch nach Dung mischte sich in den säuerlichen Geruch der Pferde. Die Tiere selbst waren größtenteils draußen im Hof. Eine Gruppe am anderen Ende wurde von Leuten beaufsichtigt, die wie die Eigentümer aussahen. Das waren wahrscheinlich die Pensionspferde. Ein kleines Mädchen, das mit den ausgestreckten Armen kaum bis zum Widerrist reichte, bürstete voller Elan eines der Tiere, ein kräftiges Pony. Die beiden anderen Pferde waren gesattelt und fertig zum Ausreiten, und ein großer, dürrer junger Mann wuchtete sich ungeschickt auf sein Tier. Das Pferd spürte seine Unerfahrenheit; es legte die Ohren an und stampfte mit den Hinterhufen. Die stämmige Frau, die es am Zaumzeug hielt, streichelte seinen Hals und redete beruhigende Worte, zuerst zum Pferd, dann zum Reiter.
»Ruhig, ganz ruhig … Alles in Ordnung bei Ihnen, Mr. Pritchard?«
»Ja, bestens, danke, Lindsey«, antwortete er eine Spur zu heiter.
Lindsey ließ das Zaumzeug los, und die Aura von Nervosität, die Mr. Pritchard umgab, wurde stärker.
Jess näherte sich der Frau namens Lindsey.
»Guten Morgen. Sind Sie die Inhaberin?«
Lindsey wandte ihr ein sommersprossenübersätes Gesicht zu. »Nein, das ist Penny. Penny Gower. Sie ist im Büro.« Sie deutete auf die letzte Box in der Reihe hinter ihr. »Geht es um Reitstunden oder um einen Stellplatz? Weil, wenn Sie sich nicht angemeldet haben …«
»Nein«, unterbrach Jess sie und zeigte ihren Dienstausweis.
»Oh. Richtig …«, sagte Lindsey. »Es geht um diese elende Geschichte oben auf der alten Farm, stimmt’s?«
Die Nervosität, die sich plötzlich in ihre Stimme geschlichen hatte, übertrug sich sogleich auf das Pferd des dünnen Anfängers, Mr. Pritchard. Es stampfte erneut mit den Hufen und tänzelte rückwärts.
»Hey!«, ächzte Pritchard erschrocken. »Ruhig. Ganz ruhig!«
»Keine Sorge, Mr. Pritchard, es ist nichts. Tätscheln Sie ihm den Hals.«
Pritchard beugte sich ein wenig vor, sodass er den Hals des Tieres eben erreichen konnte, und tätschelte es nervös.
Irgendwie glaube ich nicht, dachte Jess, dass der gute Mr. Pritchard es bis zum Reiter des Jahres bringt.
»Und wer sind Sie?«, fragte sie die junge Frau.
»Lindsey. Lindsey Harper, Ma’am. Aber ich kann Ihnen nicht helfen«, fügte sie hastig hinzu. »Ich war am Freitag hier, aber nur, weil Mr. Pritchard eine Unterrichtsstunde wollte. Wir sind nicht in die Nähe der Farm geritten, nur dort hinten über die Felder.« Sie zeigte in die Ferne. »Ich komme auch nicht auf dem Heimweg dort vorbei. Tut mir leid.«
»Dann muss ich wohl ins Büro zu Miss Gower«, sagte Jess. Sie deutete auf die anderen Pferde. »Sind das die jeweiligen Besitzer beim Striegeln der Tiere?«
»Ja. Das sind unsere Pensionspferde. Die meisten Besitzer kommen am Wochenende hier heraus. Unter der Woche kümmern Penny und ich uns um die Tiere. Wir haben außerdem noch zwei Reitpferde, die Penny gehören. Das hier ist eines davon.« Sie zeigte auf das Pferd mit Mr. Pritchard im Sattel.
Lindsey drehte sich zu dem zweiten gesattelten Tier um und legte stolz die Hand auf die Mähne. »Und das hier ist mein alter Bursche. Ich habe ihn hier stehen, und er macht sich nützlich, ist es nicht so, eh?«
Das Pferd schwang den Kopf in ihre Richtung und stieß mit der Schnauze sanft gegen ihre Schulter.
»Er wird ungeduldig«, sagte Lindsey taktvoll.
»Sicher. Lassen Sie sich von mir nicht aufhalten.« Jess lächelte Mr. Pritchard ein letztes Mal zu, bevor sie in Richtung »Büro« davonging.
Mr. Pritchard, als Reaktion auf das Lächeln und das gezeigte Interesse, hielt die Zügel nonchalant in der Rechten und stemmte die Linke mit ausgestelltem Ellbogen auf den Oberschenkel, eine Pose, wie sie Kavallerieoffiziere in alten Illustrationen einzunehmen pflegten. Sein Versuch, einen schneidigen Eindruck zu hinterlassen, war alles andere als überzeugend, doch so viel musste man ihm lassen: Er versuchte es zumindest. Wie auch immer, seine Bemühungen galten aller Wahrscheinlichkeit nach weniger Jess als vielmehr seiner eigenen Beruhigung.
Als Jess vor dem Büro angekommen war, vernahm sie Stimmen. Sie war nicht die erste Besucherin, und wer immer die Person war, sie klang schrill. Dass das Büro früher auch als Stallbox gedient hatte, war an der geteilten Tür zu erkennen, deren beide Hälften an der Wand festgehakt waren. Jess wich dem verbeulten Eimer aus, der vor dem Eingang lag, und klopfte zaghaft an, bevor sie eintrat.
Nach dem hellen Sonnenschein draußen war es hier drin beinahe stockdunkel. Es gab kein Fenster – das einzige Licht kam durch die Tür hinter ihr. Jess stand blind wie ein Maulwurf da, während sie darauf wartete, dass sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnten. Ein Geruch nach Schweiß und Leder stieg ihr in die Nase.
Als sich die Schatten hoben, sah sie, dass sich außer ihr drei weitere Personen in dem kleinen Raum befanden, der nach ihrem Hinzukommen überfüllt erschien. Da das »Büro« offensichtlich zugleich als Sattelkammer diente, gab es ohnehin kaum freien Raum. Eine der Anwesenden war eine junge Frau ungefähr in Jess’ Alter. Sie war auf eine sehr englische Art attraktiv, auch wenn sie ein leichtes Pferdegesicht hatte. Ihr unordentliches braunes Haar war mit einem Kopftuch zurückgebunden. Außer ihr war noch ein Mann im Raum, den Jess auf Ende dreißig oder Anfang vierzig schätzte. Er lehnte mit verschränkten Armen an der gegenüberliegenden Wand. Er trug Reithosen und Stiefel und einen Pullover über einem karierten Hemd. Er sah nicht aus wie ein gewöhnlicher Kunde, dazu benahm er sich zu sehr, als wäre er zu Hause. Die dritte Person, die Jess am nächsten stand, war eine Frau in unbestimmbarem Alter. Ihr Teint war wettergegerbt, und sie hatte wahrscheinlich kein Gramm überflüssiges Fett am Leib. Ihre Haare waren drahtig und ungekämmt, ihre Kleidung abgetragen. Sie starrte die neu hinzugekommene Jess herrisch an, unübersehbar ungehalten wegen der Störung.
Die jüngere Frau saß hinter einem alten Tisch. Sie wirkte einerseits erleichtert angesichts des neuen Besuchs, andererseits misstrauisch. Die widersprüchlichen Emotionen standen ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie an Jess gewandt. Sie musste Penny Gower sein. Gott sei Dank nicht die drahtige Frau, dachte Jess.
Bevor Jess antworten konnte, stieß sich der Mann grinsend von der Wand ab. »Sie ist von der Polizei«, sagte er. »Hat man dich überfallen, Pen?«
»Polizei?«, mischte sich die drahtige Frau rigoros ein. »Sind Sie etwa wegen diesem Mist auf der Cricket Farm hergekommen?«
Jess ignorierte sie und zog erneut ihren Dienstausweis, um ihn allen zu zeigen. Sie war ein wenig verunsichert, weil sie so schnell erkannt worden war, obendrein, noch bevor sie den Mund geöffnet hatte. Doch es war nicht das erste Mal, und sie nahm an, dass sie sich wohl daran gewöhnen musste. Den meisten ihrer Kollegen in Zivil erging es nicht anders. Abgesehen davon hatten sie nach dem Leichenfund auf der Farm wahrscheinlich damit gerechnet, dass die Polizei früher oder später auftauchen würde.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie stören muss, aber könnten wir uns vielleicht kurz unterhalten?«
Der drahtigen Frau gefiel es überhaupt nicht, dass Jess sie ignoriert hatte. Aus dem Augenwinkel bemerkte Jess, wie sie sich aufplusterte und bereit machte zum Angriff.
»Ja, natürlich«, antwortete Penny Gower. An die drahtige Frau gewandt: »Tut mir leid, Selina, ich bin gleich wieder für Sie da. Sobald die Polizei mich nicht mehr braucht.«
»Ha!«, rief die Drahtige finster und marschierte mit einem letzten vernichtenden Blick auf Jess nach draußen. Wahrscheinlich, vermutete Jess, um sich geradewegs beim Chief Constable zu beschweren.
»Ich muss auch los«, sagte der Mann, auch wenn er nicht klang, als meinte er es ernst. Er rührte sich nicht vom Fleck.
»Nein.« Penny streckte die Hand aus, um ihn zurückzuhalten. »Bitte, bleib hier, Andy. Inspector, das hier ist Andrew Ferris, ein Freund. Er war am Freitag ebenfalls hier. Ich nehme doch an, Sie sind hier, um über den Freitag zu reden? Ich bin übrigens Penny Gower.« Sie sah sich um. »Bitte, so nehmen Sie doch Platz. Dort ist ein Stuhl …«
Ferris stieß sich eilfertig von der Wand ab, packte den klapprigen alten Holzstuhl und schob ihn mit einer schwungvollen Bewegung der Besucherin zu. Jess nahm genauso behutsam Platz wie zuvor der arme Mr. Pritchard im Sattel.
»Ich hoffe doch, ich habe keine wichtige Kundin verärgert«, sagte Jess mit einem Kopfnicken in Richtung Hof.
»Ma Foscott?«, entgegnete Ferris grinsend. Er hatte gute Zähne. Er war überhaupt ein gut aussehender Bursche. »Machen Sie sich keine Sorgen deswegen. Sie ist eine alte Streitaxt.«
»Leise!«, zischte Penny. »Sie lauscht wahrscheinlich draußen, Andy. Ihr richtiger Name lautet Selina, Inspector. Selina Foscott. Sie hat das Pony ihrer Tochter bei uns eingestellt.«
Jess rief sich das kleine Mädchen ins Gedächtnis, das fleißig das kräftige Pony gestriegelt hatte.
»Sie war übrigens auch hier am Freitag. Selina und Charlie waren letzte Woche jeden Tag hier.«
Verdammt!, dachte Jess. Ich habe Mrs. Foscott auf die Füße getreten, und jetzt muss ich sie auch noch befragen! Sie wird sich einen Spaß daraus machen, mich zappeln zu lassen!
»Ich bin wegen des Vorfalls auf der Cricket Farm hier«, sagte sie laut und in geschäftsmäßigem Ton. Ferris hob eine Augenbraue und sah aus, als wolle er im nächsten Moment wieder grinsen, doch dann schien er zu merken, dass es unangemessen gewesen wäre.
Jess bedachte ihn mit einem Blick, der ihm sagen sollte, dass sie ihn durchschaut hatte, und er reagierte angemessen zerknirscht, wie ein zur Einsicht gebrachter Schuljunge.
»Was mich besonders interessiert ist die Frage, ob einem von Ihnen am Freitag vielleicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist, ganz gleich zu welcher Tageszeit. Oder an irgendeinem anderen Tag in der vergangenen Woche. Ich weiß, dass Sie die Farm von hier aus nicht sehen können, aber Sie sind trotzdem die nächsten Nachbarn.«
Penny winkte in einer ausholenden Geste. »Das hier ist alles Elis Land. Eli Smith, meine ich. Mir gehören nur die Ställe selbst. Alles andere habe ich von Eli gepachtet. Die Anlage war völlig heruntergekommen, als ich sie übernommen habe. Der vorherige Besitzer hatte sein Geschäft aufgeben müssen, die Pferde waren weg, und niemand hatte ein Interesse daran, den Reiterhof weiterzuführen.«
»Woher haben Sie davon erfahren?«, erkundigte sich Jess neugierig.
»Oh, nun ja …« Penny sah sie verlegen an. »Ich habe in London gewohnt. Ich war Lehrerin. In London ist das heutzutage alles andere als ein Vergnügen, glauben Sie mir. Und ich … ich steckte in einer Beziehung, die keine Aussicht auf Zukunft hatte.« Sie errötete.
»Wer nicht?«, murmelte Ferris hinter ihr.
»Als ich ein Kind war«, fuhr Penny fort, »haben wir immer eine Tante besucht, die hier in der Gegend wohnte. Ich war gerne hier. Meine Tante starb, und ich kam raus zu ihrer Beerdigung. Zufällig war gerade das Halbjahr zu Ende, und ich nahm mir eine Woche frei. Ich kam ganz allein, weil ich … na ja, ich hatte das Bedürfnis, allein zu sein. Ich fuhr ein wenig herum und kam hier vorbei und entdeckte zufällig das Verkaufsschild. Es hatte schon so lange dort gehangen, dass es umgefallen war. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, es wieder aufzustellen. Ich hielt an und stieg aus, um mir die Ställe anzusehen. Irgendwie … irgendwie hat mich all das angesprochen. Es war in einem furchtbaren Zustand, keine Frage, aber ich spürte auch, dass ich meinem Leben eine neue Richtung geben musste. London war unerträglich geworden, und dieses Schild schien mir eine Chance zu bieten, etwas völlig anderes zu machen. Meine Tante hatte mir ein wenig Geld hinterlassen, und ich war schon immer verrückt nach Pferden … ich traf eine spontane Entscheidung und habe zugeschlagen.«
»Es muss ziemlich viel Geld gekostet haben, alles halbwegs in Schuss zu bringen und neu zu eröffnen«, sagte Jess. »Und eine ganze Menge harter Arbeit obendrein.«
»Ich habe jeden Cent von meiner Erbschaft ausgegeben«, erwiderte Penny Gower offen. »Und auch meinen Anteil von der Wohnung in London. Ich hatte Glück, dass mein ehemaliger Partner die Wohnung behalten wollte. Er hat mich ausgezahlt. Jetzt komme ich mehr schlecht als recht über die Runden, und das auch nur, weil ich ein paar sehr gute Freunde habe, die mir unter die Arme greifen. Eine davon ist Lindsey Harper. Vielleicht sind Sie ihr schon begegnet draußen?« Sie sah Jess abwartend an.
»Ja, wir haben kurz miteinander geredet.« Jess nickte.
»Lindsey hat ihr eigenes Pferd im Stall und kommt zusätzlich fast jeden Tag vorbei und arbeitet fast bis zum Umfallen, um mir zu helfen, wo sie kann.«
»Hat sie keine andere Arbeit?«, fragte Jess neugierig.
»Oh, nein. Ihr Mann verdient gut und ist ständig unterwegs …« Penny stockte verlegen.
»In fremden Betten«, fügte Ferris weniger taktvoll hinzu.
»Und dann habe ich noch Andy hier.« Penny lächelte Ferris an.
Ferris erwiderte ihr Lächeln, und der Ausdruck in seinen Augen verriet Jess alles. Verliebt bis über beide Ohren, dachte sie mitfühlend. Er denkt, sie ist die Allergrößte. Ich frage mich, ob sie seine Gefühle erwidert? Sie mag ihn, schätze ich. Aber sie ist nicht verliebt.
»Andy kommt nicht nur her und hilft bei der schweren Arbeit, beispielsweise beim Aufbau der Sprünge auf der Koppel. Er erledigt auch meine Buchführung, ohne Geld dafür zu nehmen.«
»Ich bin Buchhalter«, erklärte Ferris. »Ich bin selbstständig. Ich kann mir meine Zeit mehr oder weniger frei einteilen.«
»Außerdem gibt es auch noch Eli«, sagte Penny plötzlich. »Er kann Dinge reparieren. Schweißen. Er ist außerdem mein Vermieter, und offen gestanden, ich zahle eine lächerlich geringe Miete für mein Cottage. Sie haben Eli schon kennen gelernt? Oh, was für eine törichte Frage. Natürlich haben Sie schon mit ihm geredet.«
»Falls Sie Eli Smith meinen, ja. Er war derjenige, der … der das Opfer gefunden hat.« Jess hätte »die Tote« sagen können, doch manche Zeugen wurden ganz eigenartig, wenn sie dieses Wort hörten. Auch wenn Penny Gower und Andrew Ferris vermutlich aus härterem Stoff gemacht waren.
Penny beugte sich über den Tisch nach vorn. »Eli ist sehr hilfsbereit«, sagte sie mit Nachdruck. »Er ist ein wenig exzentrisch, aber das kommt daher …« Sie zögerte.
»Ja?«
Sie sah Jess verlegen an, dann zuckte sie mit den Schultern. »Sie werden es ohnehin erfahren, schätze ich. Die Smiths haben früher zusammen auf der Cricket Farm gelebt. Vor vielen Jahren, meine ich. Die Eltern und die beiden Brüder Eli und Nathan. Ich weiß nicht, welcher von beiden der ältere war. Eines Tages hat Nathan aus Gründen, die niemals ans Licht gekommen sind, seine beiden Eltern mit einer Schrotflinte erschossen. Er wurde verhaftet, doch während er auf seine Verhandlung wartete, ist es ihm gelungen, sich in seiner Zelle zu erhängen. Eli vernagelte das Haus und überließ die Farm sich selbst. Er ist nie wieder zurückgekehrt, um dort zu wohnen. Er benutzt den Hof als Lager, aber das ist alles.«
»Er hat uns von seinem Schrotthandel erzählt«, sagte Jess nachdenklich. Sie hatte Phil Morton gebeten, Eli Smith in der nationalen Polizeidatenbank nachzuschlagen. Das war es, was er finden würde. Kein Wunder, dass Eli Smith nervös auf die Anwesenheit der Polizei auf der Cricket Farm reagierte.
»Andy und ich fühlen uns ein wenig schuldig«, sagte Penny Gower unerwartet mit einem Blick zu Ferris zur Bestätigung.
Ferris starrte sie verblüfft an, doch dann nickte er loyal.
»Tatsächlich?«, fragte Jess. Sie wartete.
»Weil es unsere Schuld ist, oder besser gesagt, meine Schuld, dass der arme Eli dieses schreckliche Erlebnis hatte. Eine weitere Tote auf der Farm zu finden, meine ich. Verstehen Sie, es war Eli, der seine toten Eltern gefunden hat damals und seinen Bruder. Es heißt, Nathan hätte am Küchentisch gesessen und auf ihn gewartet. Einfach so, als wäre nichts gewesen. Ich glaube, Eli war auf dem Markt, als es passiert ist. Er kam in die Küche, und da lag das Gewehr vor Nathan auf dem Tisch, und alles war voller Blut. Können Sie sich vorstellen, wie das für Eli gewesen sein muss? Nichts ahnend nach Hause zu kommen und einen solch grauenvollen Anblick vorzufinden?« Penny erschauerte. »Und jetzt hat er all das schon wieder durchmachen müssen. Ahnungslos über eine Leiche stolpern …«
»Nathan muss durchgedreht sein«, sagte Ferris. »Ich begreife nicht, warum sie nicht auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert haben. Der arme Kerl hat sich in seiner Zelle aufgehängt.«
Und das hat wahrscheinlich eine Menge Aufruhr verursacht und eine offizielle Untersuchung, dachte Jess. Nathan Smith hätte wegen Selbstmordgefahr rund um die Uhr unter Beobachtung stehen müssen. Es hätte gar nicht möglich sein dürfen, dass er sich das Leben nahm.
»Ich frage mich, warum Nathan nicht seinen Bruder ebenfalls über den Haufen geschossen hat mit dieser Flinte«, sinnierte Ferris. »Er muss mehr als genug Zeit zum Nachladen gehabt haben.«
»Warum ist es Ihre Schuld, dass Eli Smith den Leichnam gefunden hat?«, fragte Jess an Penny gewandt. So spannend diese Schilderung einer lange zurückliegenden grausigen Tat auch sein mochte, sie war hier, um ein jüngeres Verbrechen aufzuklären. Selbstverständlich mussten sie auch die alten Morde untersuchen. Drei Leichen auf einer einzigen Farm …
Ferris und Penny Gower hatten unterdessen gleichzeitig angefangen zu reden, begierig, ihre Geschichte zu erzählen. Jess fragte sich, ob sie sich abgesprochen hatten.
»Nein, es ist überhaupt nicht deine Schuld!«, widersprach Ferris indigniert. »Ehrlich, Pen, du musst dir abgewöhnen, dich andauernd wegen anderer Leute zu sorgen. Es war Elis Grund und Boden, wer sonst hätte die Tote finden sollen?«
»Natürlich ist es meine Schuld!«, beharrte sie. »Ich hab den Wagen gesehen!«
Sie stritten, bis Jess sie zur Ordnung rief. Sie hatte das Gefühl, vor einer gleichermaßen begeisterten wie undisziplinierten Schulklasse zu stehen.
»Ja, richtig …«, sagte Ferris entschuldigend. »Es ist eben nur, dass Pen …«
»Nein, ist es nicht! Ich mag Eli, und er ist mir nicht gleichgültig! Er ist kein junger Mann mehr …«
Jess hob eine Hand. »Nur einer von Ihnen beiden, bitte. Miss Gower?«
Am Ende kam die Geschichte doch noch einigermaßen zusammenhängend ans Licht.
Penny Gower hatte einen fremden Wagen bemerkt, vermutlich einen silbergrauen Mercedes, doch sie war nicht ganz sicher. Jedenfalls eine teure Limousine. Er hatte am Straßenrand gestanden, in einer Einfahrt zu einem Acker.
»Ich kam mit dem Pferdehänger von Elis Haus zurück. Eli hat ihn für mich repariert. Wie ich bereits sagte, Eli ist sehr hilfsbereit.«
»Der Mercedes …«, erinnerte Jess sie geduldig.
Der Fahrer war im Wagen gewesen, doch er hatte sich merkwürdig verhalten, als Penny ihn passiert hatte. Sie hatte den Eindruck, als hätte er versucht, sich vor ihr zu verstecken. Sie hatte mit Andrew darüber gesprochen, nach ihrer Rückkehr zum Reitstall.
Heftiges Nicken von Ferris an dieser Stelle, und er setzte den Bericht fort.
»Ich dachte, wir, das heißt, einer von uns, sollte Eli informieren. Weil wir nicht so genau wissen, was er auf der Farm lagert. Verstehen Sie mich nicht falsch«, fügte er hastig hinzu, »ich will nicht andeuten, dass er dort illegale Dinge lagert oder so etwas. Offen gestanden, das meiste sieht in meinen Augen aus wie Schrott, aber es muss einen Wert haben, sonst würde Eli nicht damit handeln. Wie dem auch sei, ich erbot mich, ihn anzurufen …«
»Und ich gab Andrew Elis Handynummer …«
»Was ich dann auch tat. Er meinte, er würde sich auf der Farm umsehen. Eli ist kein Mann vieler Worte, wissen Sie? Ich dachte, meinetwegen, ich habe meinen Teil getan und ihn informiert.«
Ferris runzelte die Stirn. »Ich wollte schon auflegen, als er plötzlich hinzufügte, dass er ohnehin bald zur Farm müsse, um ein paar Dinge dort zu deponieren, also könne er es auch gleich machen und noch am selben Tag hinfahren, also am Freitag. Es sieht Eli gar nicht ähnlich, so schwatzhaft zu sein, deswegen nahm ich an, dass die Neuigkeit ihn irgendwie nervös machte. Jedenfalls, der alte Knabe fuhr zur Farm und fand die Leiche. Penny hat Recht. Es muss schlimm gewesen sein für den alten Burschen. Genug, um ihn aus der Spur zu bringen, wie damals sein Bruder Nathan. Es tut mir leid, dass ich nicht oben bei der Farm gewartet und mich mit ihm zusammen umgesehen habe. Andererseits ist er ziemlich eigen, was seine Geschäfte angeht. Er hätte nicht gewollt, dass ich ihn begleite. Er hätte vermutlich geglaubt, dass ich neugierig bin und schnüffle.«
»Um welche Zeit war das?«, fragte Jess und zückte ihr Notizbuch.
Penny und Ferris beobachteten interessiert ihr Tun, dann sahen sie einander fragend an.
»Den Mercedes muss ich so gegen Viertel vor vier gesehen haben«, antwortete Penny unsicher. »Ich bin gegen zwanzig vor vier bei Elis Cottage losgefahren. Das weiß ich so genau, weil ich auf die Uhr gesehen habe. Andrew hatte gesagt, dass er vorbeikommen wolle, und ich wollte vor ihm beim Reitstall sein. Aber er war schon da, als ich ankam.« Sie errötete. »Ich will damit nicht sagen, dass ich zu schnell gefahren bin oder so. Auf der anderen Seite hatte ich kein Pferd im Hänger, deswegen musste ich keine Rücksicht nehmen.«
»Sie sind nicht an der Cricket Farm vorbeigekommen auf dem Weg hierher, Mr. Ferris?«, fragte Jess.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kam von der anderen Seite. Penny kam ziemlich genau um Viertel vor vier hier an, wie sie schon sagte. Es dauert nur ein oder zwei Minuten von der Farm bis hierher mit dem Wagen. Die alte Foscott und ihre unsympathische Göre fuhren gegen vier, fünf nach vier, und ich beschloss gegen Viertel nach, zwanzig nach vier, den guten Eli auf seinem Handy anzurufen.«
»Das hat Mr. Smith uns gegenüber mit keinem Wort erwähnt«, sagte Jess. »Ich meine nicht die Familiengeschichte. Ich kann ja verstehen, warum er das nicht erwähnt hat. Aber er hat uns auch nicht erzählt, dass Sie einen Wagen gesehen haben oder dass Mr. Ferris ihn deswegen angerufen hat.«
Penny und Ferris wechselten Blicke. Dann kicherte Ferris, und Penny grinste ebenfalls.
»So ist er eben«, sagte sie. »Das sieht ihm ähnlich.«
»Genau, so ist er eben«, wiederholten beide noch einmal und lachten.
»Entschuldigung«, beeilte sich Penny zu sagen. »Ich weiß, es ist keine lustige Angelegenheit. Was wir ausdrücken wollten, Eli ist nun einmal so. Verstehen Sie? Er redet nicht viel. Nicht mal mit mir. Genau wie Andrew schon erwähnt hat. Er sagt, was er zu sagen hat, die nackten Fakten, und das war’s. Er hat meinen kleinen Pferdehänger repariert. Eines der Tiere hat gescheut und ein Loch in die Wand getreten. Ich habe ihn gefragt, ob er es machen könnte. Er kam vorbei, sah sich die Sache an und meinte nur: ›Ja‹. Ich kuppelte den Hänger hinter den Wagen und fuhr ihn zu seinem Cottage, und er hat das Loch in der Seite repariert. Die ganze Zeit über hat er kaum ein Wort gesprochen, außer, als er sich weigerte, Geld von mir zu nehmen.«
Sie lächelte. »Abgesehen davon dachte Eli wahrscheinlich, dass er mich schützt, indem er mich nicht in die Sache hineinzieht. Er meint nämlich, mich beschützen zu müssen, auf seine Weise, verstehen Sie? Er kommt regelmäßig hier im Stall vorbei, angeblich, weil er die Pferde mag. Er wandert herum und bietet an, Dinge zu reparieren, die seit seinem letzten Besuch kaputtgegangen sind.« Plötzlich erschien ein Ausdruck der Bestürzung in ihrem Gesicht. »Oh. Mir kommt da gerade ein Gedanke. Eli denkt doch nicht etwa, mir könnte etwas zustoßen hier draußen? Ich meine, ich bin normalerweise nicht allein. Es ist immer jemand da. Lindsey, ein Pferdebesitzer, ein Reitschüler oder Andy …«
Plötzlich waren ihr die Implikationen der Tatsache bewusst geworden, dass keinen Kilometer von hier entfernt eine Frauenleiche gefunden worden war. Ihr Unterkiefer sank herab, und sie starrte Jess erschrocken an.
Ferris legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Schon gut, Pen, beruhige dich. Die Polizei wird die Sache aufklären.«
So viel Zuversicht von Seiten der Öffentlichkeit war herzlich willkommen. Jess hoffte, dass sie dieses Vertrauen nicht enttäuschen würde.
Im Verlauf der Unterhaltung im Büro hatte es in der Box nebenan verschiedene Male Unruhe gegeben. Ein Tier hatte geschnaubt und mit den Hufen gestampft. Jetzt, als sie das Büro verließ, streckte das Pferd den Kopf nach draußen.
»Hallo, alter Freund«, sagte Jess und streckte die Hand aus, um das Tier zu tätscheln.
»Vorsichtig«, rief eine männliche Stimme hinter ihr. »Wir vermuten, dass er auf dieser Seite fast blind ist. Besser, wenn Sie sich von der anderen Seite nähern.«
Ferris war hinter ihr aus dem Büro gekommen.
»Oh«, sagte Jess verlegen.
»Hören Sie«, fuhr er mit leise drängender Stimme fort. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Penny in Gefahr schwebt, oder? Ich meine, es ist einsam hier draußen. Ich weiß zwar, dass im Allgemeinen tagsüber jemand da ist, aber Penny kommt frühmorgens und geht erst spät in der Nacht, wenn niemand mehr da ist. Die Pferde müssen versorgt werden, verstehen Sie? Ich kann nicht verhindern, dass sie herkommt, und ich kann nicht die ganze Zeit bei ihr sein. Ich habe selbst ein Geschäft, um das ich mich kümmern muss.«
»Nach allem, was Sie und Miss Gower mir erzählt haben, gibt es keinen Grund für die Annahme, sie könne in Gefahr schweben«, sagte Jess langsam. »Allerdings hat sie den silbernen Mercedes gesehen und einen Blick auf den Fahrer erhascht. Das macht sie zu einer wichtigen Zeugin. Falls der Fahrer des Mercedes etwas mit der Sache zu tun hat, ist ihm das vermutlich ebenfalls klar. Der Pferdeanhänger war ein verräterischer Hinweis darauf, wohin sie unterwegs war.«
»Also könnte es sein, dass er herkommt und sich hier umsieht?« Ferris nickte in Richtung des Hofs.
»Miss Gower sollte sich umsichtig verhalten, das ist alles. Wir geben zu Beginn einer Ermittlung grundsätzlich nicht sämtliche Informationen an die Presse weiter, und die Tatsache, dass sie den parkenden Wagen gesehen hat, gehört sicherlich zu den Informationen, die wir zunächst für uns behalten werden.«
»Das wäre uns sehr recht«, entgegnete Ferris.
Jess sah sich um.
»Falls Sie Selina Foscott suchen, sie ist mit Charlie dort hinten«, sagte er und zeigte zur Koppel.
»Charlie ist das Pony?«
»Charlie ist ihre Tochter. Viel Glück.«
Er kehrte ins Büro zurück.
Wachhunde, dachte Jess. Sie bewachen Penny Gower. Sowohl Eli Smith als auch Andrew Ferris glaubten, auf sie aufpassen zu müssen. Manche Frauen lösen so etwas bei Männern aus, dachte sie melancholisch. Sie hatte diesen Trieb noch nie bei Männern ausgelöst, soweit sie es wusste.
Charlie Foscott und ihr Pony ritten auf der Koppel im Kreis und bereiteten sich auf die Sprünge vor. Das Pony war wirklich sehr kräftig. Es erinnerte an ein Fass auf vier viel zu kurzen Beinen und erweckte außerdem den Eindruck, als könne es jeden Moment scheuen – und die zerbrechliche Gestalt im Sattel sah aus, als wisse sie das nur zu gut.
Selina Foscott sah Jess näher kommen und bellte: »Halt!«
Im ersten Moment glaubte Jess, der Befehl habe ihr gegolten, doch Charlie zügelte das Pony augenblicklich, und Jess merkte, dass sie nicht gemeint gewesen war. Das Pony senkte den Kopf und begann an den vereinzelten Grasbüscheln zu rupfen, die im zertrampelten Erdreich wuchsen. Die Reiterin saß hoch im Sattel und starrte zu Jess hinüber. Sie hatte den gleichen arroganten Gesichtsausdruck wie ihre Mutter. Jess hatte zunächst Mitleid für die Tochter von Selina Foscott empfunden, doch das änderte sich nun.
»Ah«, sagte Selina Foscott und stapfte durch das lehmige Erdreich in Richtung Gatter. »Sie wollen mit mir reden, nehme ich an?«
»Wenn Sie ein paar Minuten erübrigen könnten, Mrs. Foscott?« Sie machte nicht den Eindruck, als wolle sie sich sperren. Im Gegenteil, sie schien geradezu darauf erpicht zu reden. Ob sie etwas Interessantes beizusteuern hatte, war eine andere Frage. Im Allgemeinen waren es die redseligen Zeugen, die sich als die größte Zeitverschwendung entpuppten.
»Wissen Sie, wer sie ist?«, fragte Mrs. Foscott.
Jess nahm an, dass die Tote gemeint war. »Noch nicht. Penny Gower hat erwähnt, dass Sie vergangene Woche jeden Tag hier waren. Ist das richtig?«
»Wir haben keine Zeit zu verschwenden. Eine Pferdeschau steht vor der Tür. Sultan muss fit sein bis dahin. Beim letzten Mal hat er die blaue Rosette gewonnen in seiner Klasse, wissen Sie?«
»Oh, tatsächlich? Sehr gut.« Nichts auf der Welt konnte ihr gleichgültiger sein. Wie viele Reiter mochten in dieser Klasse angetreten sein? Jess atmete tief durch und lenkte das Gespräch zurück auf das Thema.
»Auf dem Weg hierher kommen Sie an der Cricket Farm vorbei?«
Mrs. Foscott nickte. »Ich kann nicht sagen, dass ich der alten Farm große Beachtung schenke. Ich versuche sie zu ignorieren, verstehen Sie? Es ist ein richtiger Schandfleck. Sie macht einen verlassenen Eindruck. Manchmal sehe ich Eli Smith oder seinen Laster auf dem Hof.«
»Haben Sie ihn am Freitag gesehen?«
»Nein. Falls er dort war und die Leiche gefunden hat, dann muss das später gewesen sein, nachdem ich wieder nach Hause gefahren war. Wir hätten fast einen Unfall gehabt, kaum dass wir im Wagen saßen!« Sie schnitt eine Grimasse. »Ich wollte vom Stall auf die Straße einbiegen, als ein großer silberner Mercedes wie ein Irrer den Hügel heruntergerast kam und mich fast gerammt hätte! Ich musste eine Vollbremsung machen! Diese Spinner denken, weil es eine Landstraße ist und nicht viel Verkehr herrscht, könnten sie rasen wie die Irren! Aber die Straße ist sehr schmal, und rechts und links gibt es auch kaum Platz.«
»Um welche Uhrzeit war das, Mrs. Foscott?«
»Oh, gegen vier oder kurz danach, schätze ich. Es hatte angefangen zu regnen. Ich war kurz im Büro«, sie winkte in Richtung der Ställe, »um Bescheid zu sagen, dass ich Sultan wieder in seine Box gestellt hatte. Charlie hat das Sattelzeug abgeladen, und dann wollten wir nach Hause fahren.« Sie blickte finster drein. »Ich hielt an der Einmündung an, sah in beide Richtungen, und als nichts zu sehen war, wollte ich auf die Straße abbiegen, und, wie ich bereits sagte, plötzlich kam dieser Irre den Berg heruntergeschossen. Der Idiot hätte mir fast die Stoßstange abgefahren! Charlie hat vor Schreck geschrien. Sie dachte, es wäre vorbei, und im ersten Moment dachte ich das auch!« Mrs. Foscott sah Jess nachdenklich an. »Wenn ich seine Nummer gesehen hätte, hätte ich ihn ganz bestimmt angezeigt, das können Sie mir glauben.«
Jess fragte sich, ob Mrs. Foscott vielleicht dachte, dass Kriminalbeamte auch als Verkehrspolizisten fungierten. Ihr wurde bewusst, dass die detaillierte Schilderung dazu gedacht war klarzumachen, dass der Beinaheunfall nicht Selinas Schuld war. Penny Gower war nur kurze Zeit vorher an einem verdächtigen Wagen von ähnlichem Aussehen vorbeigekommen, sinnierte Jess. Sie hatte mit Andrew Ferris darüber gesprochen, und er hatte Eli Smith angerufen. Der Mercedes, mit dem Mrs. Foscott beinahe zusammengestoßen wäre, war etwa zwanzig Minuten später am Reitstall vorbeigekommen. Das bedeutete, dass der Fahrer die Stelle, wo Penny ihn hatte stehen sehen, nicht augenblicklich verlassen hatte. Warum? Weil er sicher sein wollte, dass er Penny nicht unterwegs überholte? Oder hatte er etwas anderes gemacht? Jemanden angerufen? Oder versucht, sich zu säubern? Der Hof der Cricket Farm war sehr schmutzig.
»Hören Sie, Inspector«, sagte Selina Foscott unvermittelt, indem sie wieder in die herrische Art verfiel, die ihr eigen war. »Wie ist dieses Mädchen überhaupt gestorben?«
»Ich fürchte, diese Informationen sind noch nicht für die Öffentlichkeit freigegeben, Mrs. Foscott«, entgegnete Jess. »Offen gestanden wissen wir es selbst noch nicht. Wir müssen das Ergebnis der Obduktion abwarten. Wir müssen sicher sein, was diese Dinge angeht, das verstehen Sie doch sicher?«
»Selbstverständlich!«, schnappte die andere Frau. »Ich bin keine Idiotin! Was ich wissen will, ist: Wurde sie erschossen?«
»Oh.« Jess war verblüfft. »Soweit wir wissen, nicht, nein. Aber wie ich Ihnen bereits sagte, die Obduktion wird sicherlich …«
Sie durfte nicht ausreden. »Oh. Na dann«, sagte Selina befriedigt. »Der alte Eli Smith hatte nichts damit zu tun, so viel steht fest.« Sie fixierte Jess mit einem drohenden Blick. »Wenn der alte Eli jemanden hätte töten wollen, aus irgendeinem Grund, beispielsweise, weil das Mädchen auf seiner Farm herumgeschnüffelt hat, dann hätte er sie mit einer Schrotflinte in Stücke geschossen.«
»Wieso?«, fragte Jess ratlos.
Mrs. Foscott starrte sie in grimmiger Befriedigung an, weil sie dem Inspector endlich den Wind aus den Segeln genommen hatte. »Weil das die Methode der Smiths ist«, sagte sie. »Sie haben doch sicher davon gehört? Von dem Doppelmord auf der Farm?«
»Nathan Smith hat seine Eltern erschossen, wenn ich richtig verstanden habe«, erwiderte Jess.
Selina nickte. »Ganz genau. Das hat er getan, und das ist es, was Eli ebenfalls tun würde.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich noch genau an die elende Geschichte. Damals war niemand wirklich überrascht, so viel steht fest. Die Smiths waren schon immer eine merkwürdige Familie. Sie haben sich nie mit Fremden abgegeben. Leute wie sie haben keine großartige Phantasie. Wenn sie einmal etwas gefunden haben, das funktioniert, dann bleiben sie dabei. Glauben Sie mir, wenn Eli jemanden umbringen wollte, würde er es auf die gleiche Weise tun wie damals sein Bruder Nathan. Er hätte nicht genügend Hirn, um sich eine neue Methode auszudenken.«
Sie starrte die schweigende Jess an. »Das war alles? Mehr brauchen Sie nicht von mir?«
Jess sammelte sich. »Äh, nein. Nein, nicht im Augenblick. Könnten Sie mir Ihre Anschrift und Telefonnummer hinterlassen, Mrs. Foscott? Für den Fall, dass wir noch weitere Fragen haben, beispielsweise wegen diesem Mercedes?«
»Selbstverständlich«, sagte Selina Foscott beinahe vergnügt. »Freut mich, wenn ich Ihnen behilflich sein kann.«
Als Jess außer Hörweite war, zog sie ihr Handy hervor und rief Phil Morton an.
»Phil? Setzen Sie sich mit der Verkehrsüberwachung in Verbindung. Es gab einen Zwischenfall mit einem silbernen Mercedes am Freitag, irgendwann zwischen vier und halb fünf. Wenn wir hier in Gloucestershire etwas im Überfluss haben, dann sind es Radarfallen. Wenn er wie ein Irrer gefahren ist, was eine Zeugin behauptet, dann hat ihn vielleicht eine erwischt. Und wenn er mit den Gedanken woanders war, bei einer Leiche in einem Kuhstall beispielsweise, dann hat er es vielleicht nicht einmal bemerkt.«
Lindsey Harper stand in ihrem Schlafzimmer vor dem Drehspiegel und betrachtete ihr Spiegelbild. Die Sonne ging unter und badete alles in einem sanften goldenen Schein. Selbst ihre Haare leuchteten. Die natürliche Farbe war ein fahles Gelb. Kein hübsches sexy Blond, sondern einfach nur fahl. Sie ließ es zwar regelmäßig färben, doch weil sie so viel Zeit draußen verbrachte, bleichte es immer wieder rasch aus.
Lindsey war eine kräftige Person. Nicht fett, sondern groß und starkknochig, eher wie ein Mann gebaut und nicht wie eine Frau. So war es schon immer gewesen. Als Kind hatten Fremde sie stets für einen Jungen gehalten.
Sie seufzte. Vor einer Stunde war sie vom Stall nach Hause gekommen, hatte geduscht und war in ein Kleid geschlüpft, ihrem Mann zu Gefallen, Mark, der jeden Augenblick von einer Geschäftsreise zurück sein musste. Ihre Mutter hatte es ihr vor vielen Jahren eingetrichtert: Eine Frau musste sich hübsch machen für ihren Mann. Doch Kleider waren nichts, das Lindsey gestanden hätte. Hosen, Pullover, Reitstiefel, ärmellose Steppwesten standen ihr weit besser.
»Ich sehe aus wie ein Klavier, über das jemand eine Decke drapiert hat«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Man kann meine Umrisse erkennen, und das Kleid hängt an mir wie ein Fetzen.«
Besonders ärgerlich, weil es ein ziemlich kostspieliger Fetzen gewesen war.
Die Haustür unten fiel lautstark ins Schloss, und im Flur erklangen Schritte. Mark war gekommen. Sie hatte den Wagen nicht gehört, er musste also draußen geparkt haben. Ihr Schlafzimmer lag nach hinten. Sie wusste, ohne ihn zu sehen, was er tat. Er ging ins Wohnzimmer und schenkte sich einen Whisky ein.
Sie zupfte ein letztes Mal an ihrem Kleid und ging nach unten, um ihn zu begrüßen.
»Oh, du bist zu Hause«, sagte er gleichgültig, als sie hereinkam. »Ich dachte, du bist noch im Stall.«
»Ich bin früher zurückgekommen. Ich wollte hier sein, wenn du nach Hause kommst.«
Ihre Bekundung ehelicher Zuneigung wurde ignoriert. »Willst du auch einen Drink?«, fragte er.
»Gin und Tonic, bitte«, antwortete Lindsey, indem sie ihre Frauchen-Masche verwarf. Wem wollte sie etwas vormachen? Sich selbst bestimmt nicht, und Mark wahrscheinlich ebenfalls nicht. »Viel Verkehr?«
»Wie üblich.«
»Und war deine Reise erfolgreich?«
»Ja. Ich denke schon.«
Er brachte ihr den Drink, und sie setzte sich damit auf das Sofa. Er warf sich in einen Sessel daneben. »Was gibt’s zum Abendessen?«
»Lammcurry«, antwortete Lindsey.
Endlich zeigte er ein wenig Interesse, oder, um genau zu sein, er starrte sie überrascht an. »Selbst gemacht?«
»Na ja – ich hab den Reis gekocht. Das Lammcurry ist von M&S.«
»Ah. Tiefgefroren.«
»Nein, eine Konserve. Aber es ist sehr gut. Du hast gesagt, dass es dir schmeckt, beim letzten Mal.«
»Ah, ja. Also gut, meinetwegen.«
Er hatte das Interesse schon wieder verloren. Es war ihm egal, was es gab. Es war ihm egal, dass sie es nicht selbst gemacht hatte. Als sie hierhergezogen waren, hatte er vorgeschlagen, eine Köchin einzustellen. Das hatten sie getan, ein einziges Mal, und sie war eine Katastrophe gewesen. Seither hatte Lindsey sich zusammen mit einer Haushaltshilfe durchgeschlagen, deren Hauptaufgabe darin bestand, die riesigen, kavernenartigen Räume von Lower Lanbury House frei von Staub zu halten.
»Auf der Cricket Farm hat es einen Mord gegeben«, sagte sie.
Er hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Jetzt öffnete er sie wieder. »Das ist doch nichts Neues. Es ist schon wer weiß wie viele Jahre her.«
»Nein, nein, nicht Nathan Smith, der seine Eltern erschossen hat. Ein neuer Mord. Sie haben eine Leiche gefunden.«
Mark starrte sie schweigend an. »Red nicht so ein verdammt dummes Zeug«, sagte er schließlich.
Lindsey spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie packte ihr Glas fester. Eine andere Frau hätte ihm den Gin Tonic ins Gesicht geschleudert. Sie versuchte immer noch, ihre Ehe zu retten.
Warum eigentlich, zum Teufel?, fragte eine leise Stimme in ihrem Kopf.
Weil ich in Würde und mit einer ordentlichen Abfindung hier raus will, antwortete sie im Geiste. Ich kenne meinen Mann lange genug, um zu wissen, was für ein rachsüchtiger Mistkerl er ist.
Laut sagte sie: »Eli Smith hat in einem der Nebengebäude den Leichnam einer jungen Frau gefunden. Die Polizei war heute unten beim Reitstall. Das heißt, eigentlich war es nur ein weiblicher Inspector.«
»Gütiger Herr im Himmel!«, rief Mark trocken. »Ist das alles, was die einheimische Polizei aufzubieten hat?«
Lindsey trank den größten Teil ihres Gin Tonic, bevor sie antwortete – damit sie ihm das Zeug nicht überschütten konnte.
»Sie hat mit Penny und mit Andrew Ferris und mit Selina Foscott geredet.«
Jetzt hatte sie seine Aufmerksamkeit. »Und mit dir nicht?«, fragte er scharf.
»Nein, eigentlich nicht. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihr nicht helfen kann. Die Leiche wurde am Freitag gefunden. Ich war zwar am Freitag im Reitstall, aber ich war zu keiner Zeit in der Nähe der Cricket Farm.«
»Dann ist es ja gut«, sagte er. »Dann müssen wir uns deswegen keine Gedanken machen.«
Lindsey hatte sich genau überlegt, was sie an diesem Abend sagen würde. Noch bevor die Tote auf der Cricket Farm gefunden worden war und ein unerwartetes Thema für ein Gespräch lieferte – oder zumindest das, was bei Mark und ihr als Gespräch durchging. Sie hatte ihn – ganz beiläufig – bitten wollen, ihr doch mehr über seine »Geschäftsreise« zu erzählen. Um damit zur eigentlichen Frage zu kommen. Doch es war Zeitverschwendung, wie ihr jetzt klar wurde. Vielleicht war Überraschung eine bessere Strategie, jetzt, nachdem sie ihn mit der Neuigkeit von dem Mord aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
Also fragte sie ihn rundheraus und im Plauderton: »Hast du eigentlich eine Geliebte, Mark?«
Er glotzte sie an. »Habe ich was? Was ist denn das für eine dämliche Frage?«
»Eine ziemlich direkte Frage, sollte man meinen.« Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, doch sie ließ sich nichts anmerken.
Er war verunsichert. Er stand auf und ging zur Bar, um sich einen weiteren Whisky einzuschenken. »Wie kommst du auf diese törichte Idee?«
»Du bist eine Menge unterwegs. Du redest nicht viel darüber. Du …«
Er wirbelte herum. »Ich bin geschäftlich unterwegs! Ich arbeite hart, um dir das Leben zu ermöglichen, das du gewöhnt bist!« Er deutete auf den Raum ringsum.
»Ich habe dieses Haus nicht ausgesucht«, verteidigte sie sich.
»Du hast dich aber auch nicht geweigert, hier einzuziehen und in diesem Haus zu leben. Du hast dich nicht geweigert, mich zu heiraten.«
»Nein«, sagte Lindsey bedauernd. »Ich fühlte mich geschmeichelt. Warum hast du mich überhaupt gefragt? Nein, sag nichts – ich weiß warum. Du brauchtest eine Frau, die in deine ländliche Vorstellung passt. Du hast gedacht, ich wäre diese Frau. Und ich habe diese Rolle ausgefüllt, oder nicht?«
Mark hörte ihr aufmerksam zu, während er angestrengt nachdachte. Sie konnte beinahe hören, wie die kleinen Rädchen in seinem Kopf arbeiteten.
»Was bringt dich überhaupt auf diese alberne Idee, hm?«, fragte er. »Hast du nicht genug Geld? Willst du vielleicht noch ein Pferd kaufen? Dann kauf eben eins!«
»Vielleicht tue ich das auch!«, schnappte sie zurück. Ihre mühsame Selbstbeherrschung war dahin. »Penny braucht dringend ein neues Reitpferd für ihre Kundschaft.«
»Ich habe nicht gemeint, dass du ein Pferd für Penny Gower kaufen sollst! Warum kaufst du kein ordentliches Tier, mit dem du an Wettbewerben teilnehmen kannst? Hast du kein Interesse daran?«
»Damit ich dir noch mehr aus den Füßen bin?«
Mark ging zum Sofa und blieb vor ihr stehen. »Du brauchst ein Ziel«, sagte er leise. »Irgendetwas, das dich von derart verrückten Ideen abhält. Meinetwegen fahr weiter in diesen Reitstall und miste Pferdeboxen aus, wenn es dich glücklich macht, aber du solltest wirklich überlegen, ob du nicht mehr mit Pferden machen willst. Ich verdiene inzwischen genügend Geld, um alles zu bezahlen, und du kannst deine Zeit verbringen, womit du möchtest.« Er lächelte, doch das Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. »Ich habe keine Geliebte, wenn du es genau wissen möchtest. Aber wenn ich eine hätte – glaubst du wirklich, ich würde es dir erzählen?«
Er streckte die Hand aus und packte sie unter dem Kinn.
»Du törichtes Ding«, sagte er. »Lass uns nicht mehr darüber reden, okay?«