Kapitel 16
»Wir müssen runter zum Stall! Haben Sie ein Transportmittel?«, rief Jess aufgeregt. »Wie sind Sie hergekommen?«
»Auf meinem Motorrad«, antwortete Jones. Er rannte bereits zur Einfahrt des Farmhofes. »Aber ich habe keinen zweiten Helm für Sie!«
»Das lässt sich nicht ändern«, antwortete sie. »Das hier ist ein Notfall. Bringen Sie uns runter zum Reitstall, okay?«
Jones startete seine Maschine, und Jess nahm hinter ihm auf dem Sattel Platz. Sie klammerte sich fest an ihn, während er den Hügel hinunter zum Reitstall jagte.
Vor der Einfahrt zum Stall kamen sie schlitternd zum Stehen. Jetzt war auch das panische Wiehern von Pferden in ihren Boxen zu hören.
»Rufen Sie die Feuerwehr und die Polizei!«, ordnete Jess an, als sie vom Beifahrersitz kletterte. Jones hatte sein Mobiltelefon bereits aus der Tasche gezogen und brüllte aufgeregt hinein.
Jess rannte in den Hof, um sich einen raschen Überblick über die Situation zu verschaffen. Das Feuer war in einem Strohballen ausgebrochen und züngelte entlang des Fundaments des Stallgebäudes auf der linken Seite des Hofs. Obwohl bereits eine Menge Rauch aufstieg und das trockene Holz wie Zunder brannte, war noch genügend Zeit, um die Pferde in Sicherheit zu bringen. Das Problem war, dass die Tiere in heller Panik waren und dass Jess keine Erfahrung im Umgang mit verängstigten, um sich tretenden und beißenden Pferden hatte.
Jones erwies sich als unerwartete Hilfe. »Machen Sie das Gatter zur Koppel auf!«, rief er. »Wir führen sie raus und treiben sie dort hinunter!«
In diesem Moment vernahmen sie ein neues Geräusch. Aus dem Innern der letzten Stallbox, die Penny Gower als Büro und Sattelkammer benutzte, kamen dumpfe Schreie, gefolgt von wütendem Hämmern von innen gegen die Tür.
»Ist da draußen jemand? Ich kann nicht raus! Bitte helfen Sie mir! Hilfe …!« Die Stimme klang schrill vor Verzweiflung.
»Das ist Penny!« Jess rannte zur Tür.
Sie stellte fest, dass nicht nur die beiden Hälften der Tür von außen mit Bolzen verriegelt worden waren, sondern die untere Hälfte darüber hinaus mit einer Mistgabel verkeilt war.
Jess trat die Mistgabel zur Seite und zerrte an den Riegeln. »Alles in Ordnung, Penny. Ich bin es, Jess Campbell. Wir holen Sie da raus.«
Die untere Hälfte der Tür flog auf, und Penny kam auf allen vieren heraus. Sie zog sich an Jess in die Höhe, und Jess hielt sie fest und stützte sie.
»Alles in Ordnung«, sagte sie, bevor der Rauch mit dem nächsten Atemzug ihre Lungen füllte und sie einen Hustenkrampf erlitt. Ihre Augen tränten, und sie war außerstande, Penny weiterzuhelfen.
»Nein, ist es nicht!«, krächzte Penny. »Gar nichts ist in Ordnung! Hinten im Büro ist eine Gasflasche!« Sie zeigte hinter sich. »Wenn das Feuer bis dorthin vordringt, fliegt sie in die Luft!«
Die Box neben dem improvisierten Büro erzitterte unter dem Anprall panischer Huftritte.
»Solo!« Penny rannte zur Stalltür. »Ich muss ihn rauslassen!«
»Penny! Wenn eine Gasflasche da drin steht, könnte sie jeden Augenblick explodieren!«
Doch Pennys einzige Sorge galt den Pferden. Jones war unterdessen vom geöffneten Gatter zur Koppel zurückgerannt. Er begann, auf der anderen Seite des Hofes die Türen zu öffnen. Jess half mit und betete insgeheim, dass die Gasflasche nicht hochging. Es gelang ihnen, sämtliche Türen zu öffnen, doch Solo weigerte sich, seine Box zu verlassen. Sie konnte ihn sehen, wie er sich hierhin und dorthin wendete, immer wieder mit den Hufen austrat und sich wilder und wilder gegen die schwelenden Wände der Box warf wie eine zum Pferd gewordene Flipperkugel. Die anderen Tiere rannten auf dem Hof wild durcheinander. Jones brüllte heiser und wedelte wild mit den Armen, um sie in Richtung des offenen Koppelgatters zu dirigieren. Die meisten rannten denn auch auf die Koppel, nur Sultan schien entschlossen, zur Straße durchzubrechen.
»Solo!«, brüllte Penny. »Er sieht nur noch auf einem Auge und ist völlig verwirrt!«
»Sie können da nicht rein!« Jess packte Penny am Arm, um sie zurückzuhalten. »Er kann Sie nicht richtig sehen, und er ist völlig von Sinnen vor Angst. Er wird Sie in Grund und Boden trampeln!«
»Geben Sie mir Ihre Jacke!«, verlangte Penny. »Schnell!«
Jess zog ihre Jacke aus, und Penny packte sie, um damit in Richtung der Box zu rennen. Sie verschwand im Innern. Jess hörte, wie sie mit dem verängstigt schnaubenden Tier redete, und einige Sekunden später tauchte sie wieder auf und zerrte das Tier hinter sich her. Solo erschien, die Jacke über dem Kopf. Irgendwie schien er zu spüren, dass er nicht länger eingeschlossen war, denn unvermittelt schoss er vorwärts, und Penny segelte der Länge nach in den Dreck. Die Jacke flog herunter, und Solo jagte davon – glücklicherweise in Richtung Koppel.
In diesem Augenblick vernahmen sie die Sirene des sich nähernden Löschzugs.
»Los, weg vom Gebäude«, befahl Jess. »Gehen Sie runter zur Koppel, und helfen Sie Jones mit den Pferden.«
Sie selbst rannte zur Einfahrt und winkte dem Fahrer des Löschzugs, anzuhalten. »Eine Gasflasche!«, rief sie, so laut sie konnte, und deutete auf den brennenden Stall. Sie wusste, dass Gasflaschen von allen Gefahren bei Feuerwehrleuten besonders gefürchtet waren.
»Verstanden. Treten Sie zurück!«, ordnete einer der Feuerwehrleute an.
In diesem Moment erschien ein kleiner Konvoi von Polizeifahrzeugen und hielt hinter dem Löschzug an.
Während Jess zum ersten Wagen rannte, stiegen Carter und seine Fahrerin Bennison aus. Die Ställe brannten inzwischen lichterloh und waren nicht mehr zu retten. Flammen schossen hoch hinauf in den Himmel, und selbst das Holz, das ihnen bis jetzt noch nicht zum Opfer gefallen war, fing in der immensen Hitze an zu schwelen und verfärbte sich.
»Das war Brandstiftung!«, rief Jess über das Brüllen des Feuers, das Fauchen des Wassers und das Krachen von splitterndem Holz hinweg. »Und versuchter Mord. Jemand hat Penny Gower in der Sattelkammer eingesperrt und dann den Stall angezündet! Ich habe sie rausgeholt.«
»Irgendeine Idee, wer dahintersteckt?«, rief Carter zurück.
»Wenn ich raten sollte, würde ich sagen Ferris. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich dachte eigentlich, er wäre in sie verliebt.«
Penny war irgendwie über den Hof zu ihnen gekommen und stand jetzt mit rauchgeschwärztem Gesicht, auf dem sich Tränenspuren abzeichneten, inmitten der umherfliegenden Asche neben ihnen. Sie ruderte hilflos mit den Armen, als wolle sie irgendein verschwundenes Objekt packen.
»Wie konnte er mir das antun?«, klagte sie. »Wie konnte Andy mir nur so etwas antun?«
»Sind Sie sicher, dass es Ferris war?« Jess packte sie am Arm. »Penny, haben Sie ihn gesehen oder gehört?«
»Ob ich ihn …? Darauf können Sie Gift nehmen! Der Mistkerl ist ohne Vorwarnung im Büro aufgetaucht und hat mich angebrüllt. Wenn ich den Rest meines Lebens lieber mit den Pferden verbringen möchte und ohne ihn, dann würde er mir verdammt noch mal dabei helfen. Er hat mir einen Faustschlag ins Gesicht versetzt, dass ich zu Boden gegangen bin, und mich in der Box eingesperrt.« Penny starrte Jess und Carter aus wilden Augen an. »Er hat versucht, mich umzubringen! Mein Gott, Andy hat versucht, mich umzubringen!« Sie schluchzte unkontrolliert.
»Mehr als ein Mord wurde von enttäuschten Liebenden begangen«, bemerkte Carter auf seine rätselhafte Weise, die Jess als faszinierend empfunden hätte, wären nicht andere Dinge gewesen, die sie von seinen Worten ablenkten.
Die Kopfschmerzen zum Beispiel, die im Hintergrund gelauert hatten, seit sie im Schlafzimmer auf der Cricket Farm wieder zu sich gekommen war, meldeten sich nun mit aller Macht zurück. Blitze und Sterne huschten über ihr Gesichtsfeld. Übelkeit stieg in ihr auf. Die Welt ringsum geriet ins Schwanken. Sie spürte, dass jemand sie bei den Schultern packte. Carters Stimme (sie vermochte ihn nicht länger klar zu sehen) erklang in ihren Ohren.
»In den Wagen mit Ihnen. Passen Sie auf Ihren Kopf auf! Wir bringen Sie zur Notaufnahme.«
Jemand legte ihr die Hand auf den Kopf, damit sie sich nicht stoßen konnte, und schob sie auf den Rücksitz des Wagens, wie einen verhafteten Ganoven.
»Jawohl, Sir. Auf dem schnellsten Weg«, hörte sie im Hintergrund eine weibliche Stimme sagen.
»Bennison«, dachte sie benommen und wollte den Namen laut aussprechen, doch sie sollte nie erfahren, ob ihr das noch gelungen war.