Kapitel 12

»Da wären wir wieder«, sagte Tom Palmer, als er sich an dem Mercedes vorbeiquetschte und auf die verkrümmte Gestalt herabsah, die im hinteren Teil der Garage reglos auf dem Boden lag. »Ah, ja. Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen. Aber Sie brauchen mich nicht, um Ihnen das zu sagen. Sehr übel.« Er kratzte sich den schwarzen Lockenkopf und starrte den Leichnam interessiert an.

»Wir brauchen Ihren Bericht, Tom, so schnell wie irgend möglich«, sagte Jess. »Wann können Sie die Obduktion durchführen?«

»Frühestens morgen Vormittag.«

»Das bedeutet sicher, dass ich schon wieder beim Zersägen einer Leiche zuschauen darf«, meldete sich Phil Morton düster zu Wort.

»Die Spurensicherung ist vor Ort«, berichtete Jess später an jenem Tag Superintendent Carter. »Wenigstens ist die Garage relativ klein. Sie untersuchen selbstverständlich auch den Wagen. Es gibt Blut rings um den Kopf des Toten, doch ansonsten keine offensichtlichen Kontaminationen. Burton scheint zu jener Sorte von Leuten gehört zu haben, die ihre Garagen fanatisch sauber halten. Weder auf dem Boden noch auf einem der Regale oder auf den Werkzeugen befindet sich Staub. Der Einsatzleiter der Spurensicherung meint, dass die Chancen auf einen guten Finger- oder Fußabdruck verschwindend gering sind. Der Wagen wurde kürzlich gereinigt. Bis jetzt haben wir keine Mordwaffe gefunden.

Burton scheint dort gearbeitet zu haben, und nach den Dingen, die wir rings um ihn fanden, hat er einen Kratzer an einem Außenspiegel ausgebessert. Mit großer Wahrscheinlichkeit stammt der Kratzer von der Cricket Farm, wo er einen Torpfosten gestreift hat und wo wir die abgeplatzte Farbe gefunden haben. Das Labor kann uns sicher sagen, ob die Farbe vom Mercedes ist. Es sieht so aus, als hätte er Freude daran gefunden, an seinem Wagen herumzubasteln. Wir fanden einen leeren Haken an der Wand, wo möglicherweise ein Werkzeug fehlt. Wir fanden kein Werkzeug auf dem Garagenboden oder sonst wo, das dort seinen Platz haben könnte, also ist es möglicherweise die Mordwaffe, und der Täter hat es mitgenommen. Ein Mauschlüssel wäre eine Möglichkeit. Tom Palmer denkt, dass es so etwas gewesen sein könnte. Falls ja, falls der Mörder den Gegenstand gepackt und zugeschlagen hat, als Burton ihm den Rücken zuwandte, dann hat er hinterher die Geistesgegenwart besessen, die Tatwaffe mitzunehmen. Inzwischen könnte sie überall sein. In einem Fluss oder einem See oder mitten in einem Gebüsch irgendwo auf dem Land, wo man sie in hundert Jahren nicht findet.

Die Aussage der Putzfrau sowie Dr. Palmers vorläufige Einschätzung lassen vermuten, dass Burton entweder spät am letzten Freitag, dem Tag, als die Leiche entdeckt wurde, oder wahrscheinlich am darauf folgenden Samstag umgebracht wurde. Mrs. Pardy hat ihn am Montag nicht gesehen, als sie um neun Uhr morgens im Haus war, und sie hat in der gesamten vergangenen Woche nichts mehr von ihm gehört. Ich denke, wir können begründet annehmen, dass er seinen Außenspiegel auf der Farm beschädigt hat. Sein Mörder hat ihn bei den Reparaturarbeiten unterbrochen. Hat er den Besuch erwartet? Woher wusste der Mörder, welche Garage die von Burton ist? Sie befindet sich nicht beim Haus, sondern drei Straßen weiter, auf einem Garagengrundstück. Burton hat seinem Mörder den Rücken zugewandt. Wir können davon ausgehen, dass er ihn kannte.«

Carter lauschte schweigend ihrer Zusammenfassung, dann nickte er. »Wurde die Leiche inzwischen offiziell identifiziert?«

»Mrs. Pardy hat den Toten als Mr. Lucas Burton identifiziert, ihren Arbeitgeber. Ich hatte ein schlechtes Gefühl, sie darum zu bitten, doch wie sich herausstellte, hätte ich mir keine Sorgen machen müssen. Sie hat mit keiner Wimper gezuckt. ›Ja, das ist er‹, meinte sie nur, und ob sie sich nun mit seinen Anwälten in Verbindung setzen solle wegen des Wochenlohns, den er ihr schuldig geblieben war.«

»Wissen wir, wer die Anwälte und Nachlassverwalter sind?«

Jess schüttelte den Kopf. »Mrs. Pardy hat uns gebeten, sie zu informieren, sobald wir es herausgefunden haben. Diese Frau ist die ichbezogenste Person, die mir je über den Weg gelaufen ist. Sie hatte einen lockeren Job bei Burton, und er war mehr oder weniger der ideale Arbeitgeber. Man sollte meinen, sie hätte den Anstand, ihrem Bedauern über seinen Tod Ausdruck zu verleihen, aber nein – nicht ein Wort. Nichts, außer der Frage, was mit ihrem ausstehenden Lohn ist.«

»Auch der ideale Arbeitgeber ruft manchmal keine Liebe oder Sympathie hervor«, warf Carter leise ein.

Ihre Unterhaltung drohte ins Stocken zu geraten, deswegen fuhr Jess hastig fort. »Ich wollte gerade zu seinem Haus fahren und mich gründlich umsehen. Versuchen herauszufinden, mit wem er Geschäfte gemacht hat und wer seine Anwälte und Nachlassverwalter sind. Mrs. Pardy hat mir ihre Schlüssel überlassen. Oh, wir haben übrigens keinerlei Schlüssel bei dem Toten gefunden. Wir nehmen daher an, dass der Mörder im Besitz sämtlicher Schlüssel des Toten ist, sowohl der Fahrzeug- und Garagen- als auch der Wohnungs- und Hausschlüssel. Er hat die Garage hinter sich abgeschlossen, als er gegangen ist. Wir haben auch kein Mobiltelefon bei Burton gefunden. Das hat der Mörder ebenfalls mitgenommen. Er war sehr gründlich. Eva Zelenás Mörder war genauso gründlich, was das Mitnehmen sämtlicher persönlicher Dinge wie Handtasche, Mobiltelefon oder Schmuck angeht.«

Carter kniff die Augen zusammen, und Jess wurde unbehaglich zumute unter dem Starren der braungrünen Augen. »Und die Putzfrau sagt, es gäbe keine Anzeichen, dass jemand anders im Haus war? Ich denke, wenn der Mörder die Hausschlüssel mitgenommen hat, dann wollte er sie sicher auch benutzen. Vielleicht gibt es einen belastenden Hinweis in Burtons Haus. Oder der Mörder denkt, dass es einen gibt.« Er hob die Augenbrauen und wartete.

Jess erkannte, dass von ihr die Rolle des Advocatus Diaboli erwartet wurde, und sie erwies ihm diesen Gefallen.

»Er könnte sich zu sehr gesorgt haben, dass man ihn sieht, als dass er das riskiert hätte. Das Haus steht an einer geschäftigen Straße. Es hat keinen Vorgarten, nur ein Geländer ungefähr einen Meter vor der Fassade. Vielleicht gibt es keinen Hinterausgang. Das müssen wir überprüfen. Ansonsten muss jeder, der ins Haus will, dies unter den Augen der Nachbarn und Passanten auf der Straße tun.«

Carter lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Wie gründlich ist diese Putzfrau Ihrer Einschätzung nach?«

Jess lächelte. »Offen gestanden, sie hat überhaupt nichts zu tun. Sie räumt die Küche auf und das Bad und vielleicht das Schlafzimmer. Das sind die Räume, die täglich benutzt werden. Die anderen Zimmer – na ja, sie muss nichts weiter tun, als hin und wieder einen Staubsauger über die Teppiche zu schieben.«

»Wir wissen, dass Burton allein im Haus gewohnt hat, und der Mörder wusste dies möglicherweise auch«, gab Carter zu bedenken. »Falls ja, dann wusste er auch, dass er ungestört sein würde, sobald die Putzfrau gegangen war. Falls er ordentlich zu Werke gegangen ist und sich auf beispielsweise das Arbeitszimmer konzentriert hat, dann hat die gute Mrs. – wie war noch gleich ihr Name, Pardy? Dann hat die gute Mrs. Pardy vielleicht gar nicht bemerkt, dass jemand Fremdes im Haus war.« Er erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. »Wir werden zusammen zum Haus des Toten fahren und uns das ansehen.«

Sie stand erneut vor Lucas Burtons Haus, nur diesmal mit Carter, anstatt wie zuvor mit Phil Morton. Es schien ihr eine Ewigkeit her, dass sie hier gewesen war, und nicht nur acht Stunden. Im Gegensatz zu Phil gab Carter keinen Kommentar von sich, als er an der Fassade nach oben starrte. Was Jess anging, so war ihr der Anblick bereits vertraut. In ihren Ohren klangen die Worte des Superintendents in Bezug auf die neugierigen Nachbarn. Unwillkürlich starrte sie die Straße hinauf und hinunter.

Eine kühle abendliche Brise hatte sich erhoben, und es wurde rasch dunkler. Ein paar Blätter segelten raschelnd über das Pflaster, und eine Frau eilte vorbei. Sie hielt den Mantel mit einer Hand vor dem Hals zusammen und hob den Kopf nicht für einen Moment, doch sie musste die beiden bemerkt haben. Aus der entgegengesetzten Richtung näherte sich ein Mann mit einem dicken kleinen weißen Hund auf der abendlichen Runde. Der Mann war schon älter und offensichtlich ein Anwohner. Er hatte sie bemerkt und verbarg sein Interesse nicht. Die Fenster zur Straße hatten keine Warnschilder; es gab keine offizielle Nachbarschaftswache, doch Jess war sicher, dass die Anwohner ein eigenes Warn- und Überwachungssystem hatten. Oder vielleicht hatte Mrs. Pardy auch die Neuigkeit vom Besuch der Polizei verkündet, nachdem sie und Morton am Vormittag da gewesen waren. Die Anwohner wussten, dass die Polizei sich für Burton interessierte, und jetzt war sie zurück. Ein paar Häuser weiter sprang ein junger Mann in einer Lederjacke auf die Straße. Die Tür fiel krachend ins Schloss. Er marschierte mit raschen Schritten zu einem am Straßenrand parkenden Wagen, stieg ein und fuhr davon. Reiner Zufall wahrscheinlich, oder vielleicht hatte er sie auch vom Fenster aus gesehen und wollte nicht zu Hause sein, wenn die Polizei vorbeikam und an Türen klopfte und Fragen stellte.

Was auch immer es war, Jess und Carter waren unübersehbar, wie sie vor dem Haus standen und warteten. Die Dunkelheit ringsum nahm rapide zu. Nicht mehr lange, und die Straßenlaternen würden aufflammen.

»Sir?«, murmelte Jess.

Ihre Stimme schien Carter aus tiefen Gedanken zu reißen. »Was? Oh, ja. Haben Sie die Schlüssel der Putzfrau da?«

Sie sperrte die Tür auf, und beide traten ein.

Der zweite Besuch in Burtons elegantem Haus fühlte sich viel eigenartiger an als der erste. Beim ersten Mal hatte die Putzfrau sie und Morton eingelassen. Diesmal war sie mit Carter allein und uneingeladen hier. Das Haus fühlte sich kalt und abweisend an ohne Mrs. Pardys widerwillige Gegenwart und ihre Becher mit heißem Tee. Bei einem kleinen Tischchen in der Halle blieb Carter stehen. Er untersuchte das Möbel. Es war mit Intarsien verziert und sah kostbar und zweifelsohne sehr alt aus. Das moderne Telefon darauf wirkte eigenartig deplatziert – genau wie die beiden Besucher. Jess warf einen Blick zur Treppe, fast, als erwarte sie, dass jemand sie vom ersten Absatz aus beobachtete. Doch alles war unheimlich still, und mit einem Mal beneidete sie Mrs. Pardy überhaupt nicht mehr um ihre scheinbar so leichte Arbeit. Woche für Woche drei Tage mehrere Stunden in dieser von Menschen verlassenen Perfektion zu verbringen, wo die Stille nur durchbrochen wurde vom dumpfen Geräusch eines Wagens oder vom Schlagen einer Tür – es musste richtig unheimlich sein.

Die Cricket Farm war gleichermaßen unheimlich, und doch konnte es keinen größeren Gegensatz geben als zwischen diesem Haus und der Cricket Farm, die Jess ebenfalls zusammen mit Carter uneingeladen betreten hatte. Die Atmosphäre im Farmhaus war eine von Elend und Arbeit gewesen und über allem von bäuerlicher Armut. Es mochte kein glückliches Heim gewesen sein, doch es war immerhin ein Heim gewesen. Burtons Haus war Geld und Repräsentation und sonst absolut gar nichts.

Während sie sich von einem Zimmer zum nächsten bewegten, wuchs in Jess das Gefühl, unerwünscht zu sein, immer mehr. Irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Alles war elegant, großzügig und allzu perfekt. Was weniger an den Fähigkeiten der Putzfrau lag, als vielmehr an der Persönlichkeit des verstorbenen Besitzers.

Schließlich dämmerte es ihr. »Es ist wie … wie ein Bühnenbild. Eine Kulisse«, sagte sie.

Carter drehte sich zu ihr um und sah sie überrascht und fragend an.

»Es ist, als hätte Burton sich überlegt, welchen Eindruck er erwecken will, und sich anschließend darangemacht, das Haus entsprechend herzurichten. Vielleicht war er als Mensch genauso.«

Carter antwortete nicht; er schien darauf zu warten, dass sie den Gedanken vertiefte. »Irgendwie erscheint mir das alles nicht echt. Das Haus auf der Farm ist seit fast dreißig Jahren verlassen und hat trotzdem immer noch mehr Leben ausgestrahlt. Menschen haben dort gelebt, mit Gefühlen und mit Sorgen. Das Haus hat uns davon erzählt und von ihren Leben. Dieses Haus hier erzählt überhaupt nichts über Lucas Burton, außer, dass er jede Menge Geld hatte und ein Einzelgänger war.«

»Ganz genau mein Gedanke«, sagte Carter unerwartet. »Die interessante Frage ist doch, herauszufinden, wie er zu seinem Vermögen gekommen ist. Ich denke, wir können davon ausgehen, dass er der Unbekannte ist, der vergangenen Freitag auf der Cricket Farm war. Doch wir wissen nicht, aus welchem Grund er dort war. Wir nehmen an, dass Eva Zelená dieser Grund ist – vielleicht wollte er ihren Leichnam verstecken. Vielleicht hat sie ihn dorthin begleitet, und er hat sie dort umgebracht. Falls sie je in diesem Mercedes war, tot oder lebendig, dann hat sie Spuren hinterlassen. Aber wenn er Eva umgebracht hat – wer hat dann ihn umgebracht?«

Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht sind wir auf einer falschen Fährte. Vielleicht war es irgendetwas anderes, das Carter an jenem Tag zur Cricket Farm führte. Er fand die Leiche und geriet in Panik. Der Mord an ihm könnte ohne jeden Zusammenhang mit dem Mord an Eva Zelená sein. Das Ergebnis eines Zerwürfnisses mit einem Geschäftspartner. Wir wissen nicht, ob wir es hier mit einem oder mit zwei voneinander unabhängigen Fällen zu tun haben.« Er stieß einen Seufzer aus.

Bis sie im Arbeitszimmer angekommen waren, herrschte draußen Dunkelheit, und sie waren gezwungen, das Licht einzuschalten. Von diesem Augenblick an konnte sie von draußen jeder sehen. Falls der Mörder hier gewesen war, dann hatte er das Licht bestimmt nicht eingeschaltet, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er hatte entweder das Risiko auf sich genommen und war am helllichten Tag gekommen oder in dunkler Nacht mit einer Taschenlampe.

Jess blickte sich um. Oberflächlich betrachtet war das Büro genauso ordentlich und aufgeräumt wie der Rest des Hauses. Der Bildschirm eines offenen Laptops auf dem Schreibtisch war schwarz – wie das Telefon in der Eingangshalle ein schriller Kontrapunkt der Moderne inmitten des sorgfältig arrangierten, harmonischen Ganzen voll kostbarer Antiquitäten. Carter nahm das Gerät in Augenschein.

»Das sollen sich die IT-Spezialisten vornehmen.«

Jess trat zu ihm und streifte Einmalhandschuhe über, bevor sie versuchte, die mittlere Schublade zu öffnen. Sie hatte ein Schloss, in dem kein Schlüssel steckte, und Jess erwartete, dass sie verschlossen war. Doch sie glitt ohne Widerstand auf.

»Man sollte meinen, dass er seine persönlichen Dinge weggeschlossen hat – schließlich war er die meiste Zeit über außer Haus, und Mrs. Pardy hatte alle Zeit der Welt, in seinen Sachen herumzuschnüffeln, wenn ihr danach war.«

»Oder der Mörder hat auch den Schlüssel zum Schreibtisch, zusammen mit all den anderen Schlüsseln, die er dem Toten abgenommen hat«, entgegnete Carter. Er trat neben sie und blickte hinunter in die offene Schublade. Der Inhalt – Briefe, Rechnungen, handschriftliche Notizen – war ein unordentliches Durcheinander. »Das sieht ganz und gar nicht so aus, wie der tote Mr. Burton seine privaten Dokumente aufbewahren würde, nicht einmal in einer Schublade«, fügte der Superintendent hinzu. Er zeigte nach unten auf eine große Klammer. »Um was wetten wir, dass einige dieser Papiere ursprünglich von diesem Ding zusammengehalten wurden?«

Jess blickte sich im Zimmer um. Ein Aquarell, das eine Meereslandschaft zeigte, hing ein wenig schief an der Wand. Carter folgte ihrem Blick, ging zum Bild und nahm es mit behandschuhten Händen vom Haken. Die Wand dahinter war leer, und auch auf der Rückseite des Rahmens war nichts versteckt. Er hängte es wieder auf.

»Das da hängt auch schief«, sagte Jess und deutete auf eine zweite Meereslandschaft auf der gegenüberliegenden Seite des Büros.

Carter nahm auch dieses Bild ab und kontrollierte die Wand dahinter, mit dem gleichen Ergebnis.

»Dieser Bücherschrank ist nicht an seinem richtigen Platz«, bemerkte er, indem er sich umdrehte und auf einen hübschen Schrank mit Glastüren deutete. »Er hat sicher flach an der Wand gestanden. Jetzt steht er schief.«

»Mrs. Pardy mit ihrem Staubsauger?«, schlug Jess vor.

Er ging zum Schrank, bückte sich und untersuchte ihn aus der Nähe. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Jemand war hier, aber es war nicht die Putzfrau. Er hat die Bücher rausgenommen, und obwohl er sie wieder zurückgestellt hat, war er zu hastig. Sehen Sie hier, Band eins und Band zwei des Grafen von Monte Cristo stehen nebeneinander, und der dritte Band auf dem nächsten Regalboden, eins tiefer. Kingstons Peter the Whaler steht auf dem Kopf! Ausgaben des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die in edwardianischen Knabenschulen gelesen wurden. Ob unser Mr. Burton sich für die Klassiker interessiert hat? Oder hat er diese Bücher in einem Antiquariat erstanden, als Dekoration für seinen antiken Bücherschrank?«

Carter richtete sich auf und kehrte zu Jess zurück, während er sich den Staub von den Händen klopfte.

»Wer auch immer dieses Büro durchsucht hat, er ist von Natur aus methodisch und ordentlich, nur, dass er bei dieser Gelegenheit keine Zeit hatte. Ich würde sagen, er ist ein Denker. Viel zu schlau, um den Inhalt der Schreibtischschublade einfach auf den Boden zu kippen oder die Bücher aus dem Schrank zu reißen und das Chaos als Visitenkarte zurückzulassen. Doch weil er so in Eile war, warf er die Papiere in den Schreibtisch zurück und vergaß, die Schublade wieder zu verschließen. Und er schob sämtliche Bücher zurück in den Schrank, allerdings nicht in der richtigen Ordnung.«

Jess hatte das Gefühl, dass er eine Antwort, einen Widerspruch von ihr erwartete. »Besteht nicht die Möglichkeit, dass die Putzfrau das Haus durchwühlt hat, gleich nachdem ich heute Morgen mit Phil Morton hier war? Vielleicht hat sie nach Geld gesucht oder irgendwelchen kleinen Wertgegenständen, die sie unauffällig hätte einstecken können. Nachdem wir gegangen waren, wusste sie schließlich, dass ihr Arbeitgeber nicht wieder zurückkehren würde. Sie sorgt sich um ihren ausstehenden Wochenlohn. Wahrscheinlich denkt sie, dass sie Anspruch auf Schadensersatz hat.«

»Sie würde sich nicht für seine persönlichen Unterlagen oder den Inhalt eines Bücherschranks interessieren«, lautete seine prompte Antwort. »Sie würde das eine oder andere kleine Teil einstecken, eine Schnupftabakdose oder sonst irgendetwas, das sie in einen Antiquitätenladen mitnehmen und von dem sie behaupten könnte, dass ihre Tante es ihr hinterlassen hätte. Wenn ich wetten müsste, würde ich auf den Mörder setzen. Er hat die Schlüssel benutzt, die er seinem Opfer abgenommen hat. Wir kommen zu spät. Er hat das Haus durchsucht und alles mitgenommen, was ihn belasten könnte. Äußerlich hat er die Dinge so zurückgelassen, wie er sie angetroffen hat, bis auf ein paar kleinere Details. Er hat den Computer stehen lassen, weil er vielleicht dachte, dass man ihn vermissen und er seinen heimlichen Besuch dadurch signalisieren würde. Vielleicht hat er ja versucht, die Festplatte zu löschen? Nun, das ist einfacher gesagt als getan.«

»Er hat nach einem Wandtresor gesucht«, sagte Jess leise und zeigte auf die schiefen Bilder.

»Ja, aber hat er einen gefunden? Falls es einen gibt, müssen wir ihn ebenfalls finden.«

Sie fanden keinen.

»Wir lassen morgen alles nach Fingerabdrücken untersuchen«, sagte Carter zu guter Letzt mit einem Seufzer. »Was auch immer das Ergebnis ist, es ist bedeutungslos, solange wir keinen Verdächtigen haben. Schicken Sie die Detectives Stubbs und Bennison her. Sie sollen den Inhalt der Schreibtischschubladen für weitere Untersuchungen einpacken, sowie sämtliche anderen persönlichen Unterlagen, nicht zu vergessen den Laptop.«

Beide blieben noch einen Moment in der Eingangshalle stehen und blickten sich schweigend um. Dann wandten sie sich wie auf ein geheimes Kommando um und verließen das Haus, das seine Geheimnisse nicht preisgegeben hatte.

Es war bereits spät, als Jess die Tür ihrer Wohnung mit dem Absatz hinter sich schloss. So klein, vollgestellt und staubig sie auch sein mochte, sie war real und ihr Heim, und sie war froh, dort zu sein. Die Wohnung war kein Mausoleum wie das Haus auf der Cricket Farm oder – auf eine andere Weise – das von Lucas Burton.

Sie nahm das vergrößerte Gruppenbild der Belegschaft des Foot to the Ground zur Hand und ließ ihren kleinen Rucksack zu Boden gleiten. Dann stellte sie das Photo sorgfältig neben die Familienaufnahme von ihren Eltern, ihrem Bruder und sich selbst und trat einen Schritt zurück, um es zu betrachten.

»Zwei Familienphotos«, murmelte sie. Westcott und sein Personal waren auch eine Art Familie. Wie sollte es anders sein? Sie verbrachten ihre Tage zusammen. Die Mädchen hatten unter dem gleichen Dach geschlafen wie die Westcotts. Auf dem Photo hatten die Westcotts unausweichlich die elterliche Rolle inne, und der Handwerker Bert die eines älteren Onkels. Die drei Jungen? David Jones’ leibliche Eltern wohnten gleich um die Ecke. Hatten die Westcotts das Gefühl gehabt, den Mädchen eine Art Ersatzeltern zu sein? Nein, nicht nach dem, was Bronwen Westcott gegenüber Phil Morton ausgesagt hatte. Sie waren Arbeitgeber, hatte sie deutlich betont, und nicht Schutzengel. Und jetzt fühlte sie sich aus irgendeinem Grund schuldig deswegen.

Familienphotos verrieten dem aufmerksamen Betrachter eine Menge. War das der Grund, aus dem Eli im Haus auf der Cricket Farm sämtliche Photos abgehängt hatte, obwohl er alles andere zurückgelassen hatte?

Jess warf einen genaueren Blick auf das Gruppenbild. Eva Zelená und David Jones standen dicht beieinander. Hatte der Photograph sie so aufgestellt? War es Zufall? Oder hatte sich David in diese Position manövriert? Er stand leicht in Evas Richtung gelehnt, wohingegen sie aufrecht stand und direkt in die Kamera blickte. Seine Haltung war beschützerisch und besitzergreifend zugleich, doch Eva stand irgendwie für sich allein.

Jess wurde klar, dass sie sich noch einmal mit David Jones unterhalten musste.