Kapitel 4
Lucas war zu Hause. Normalerweise erfüllte ihn das Betreten seines vornehmen spätgeorgianischen Bürgerhauses in Cheltenham mit dem Stolz, den ein Jäger angesichts einer Trophäe empfindet. Es stand in einer Reihe mit anderen weiß oder pastellfarben gestrichenen Wohnhäusern. Die hohen Schiebefenster, die früher einmal, als Cheltenham noch ein schicker Kurort gewesen war, den Ausblick auf klappernde Fuhrwerke gewährt hatten, klapperten heute angesichts des lärmenden Verkehrs. Trotz allem hatte das Haus seine vornehme, herrschaftliche Aura behalten.
Lucas gefiel das. Er hatte mit Nichts angefangen, ohne Beziehungen und sonstige Vorteile, und sich nach oben gearbeitet, wie er neuen Bekanntschaften gerne erzählte. Alles, was er besaß, hatte er sich selbst erarbeitet. Neben seinem Haus eine kleine Wohnung im Londoner Stadtteil Docklands, die er jedoch nur als pied-à-terre benutzte, als Zweitwohnung und Basis, wenn seine Geschäfte ihn in die Hauptstadt riefen. Die Wohnung war »neues Geld« und deswegen, trotz aller Macht und allem Glitzer, behaftet mit dem Makel des Protzigen.
Nicht so dieses Haus. Zugegeben, es war ein wenig heruntergekommen gewesen, als er es fünf Jahre zuvor gekauft hatte, doch es hatte trotzdem eine Aura von einer Herzoginwitwe »in verminderten Vermögensverhältnissen« besessen. Wegen dieses heruntergekommenen Zustands und der antiquierten Ausstattung hatte er es zu einem sehr ordentlichen Preis erstehen können. Seither hatte er ein kleines Vermögen für die Renovierung und Möblierung ausgegeben. In den Kosten eingeschlossen war ein teurer Innenarchitekt. Zuerst war Lucas alles andere als glücklich über dessen Wahl blasser blauer und gelber Farbtöne als Dekor gewesen. Es war ihm zu feminin erschienen. Doch inzwischen sah er, dass der Architekt Recht gehabt hatte. Das Farbschema betonte die luftige Höhe der Decken, die stuckverzierten Simse und Deckenrosetten und Lucas’ eigene Sammlung an antikem Mobiliar aus der damaligen Zeit.
Nicht, dass viele Menschen das Innere von Lucas’ Haus zu Gesicht bekommen hätten. Er wohnte allein. Er war einmal verheiratet gewesen, als sehr junger Mann. Die Ehe hatte nicht lange gehalten, und er war zu dem Schluss gekommen, dass er nicht für die Ehe geschaffen war. Abgesehen von allem anderen – eine Scheidung zum heutigen Tag würde ihn Millionen kosten.
Natürlich gab es Frauen in seinem Leben. Er besaß ein kleines, schwarzes Büchlein, in welchem er die Nummern einiger williger Gespielinnen notiert hatte, die er im Umkreis von London ausführen konnte, je nach Bedarf. Sie alle wussten, dass sie nichts weiter waren als eine Nummer in seinem Buch, doch wenn Lucas sie ausführte, zeigte er sich sehr großzügig, und wenn sie »brave Mädchen« waren, bekamen sie im Allgemeinen auch noch ein teures Geschenk. Es war ein geschäftliches Arrangement, wie alles andere in Lucas’ Leben. Die Mädchen waren zufrieden damit. Wenn eine von ihnen keine Lust mehr hatte, ersetzte er ihre Nummer durch eine andere. Im Grunde genommen nichts weiter als hochklassige Nutten, wenngleich exklusiv genug, um dieser abfälligen Bezeichnung zu entgehen. Sie waren ausnahmslos »Models« oder »Schauspielerinnen«. Zu seinen Gunsten sei gesagt, dass er eine aufrichtige Freundschaft zu diesen Mädchen unterhielt. Sie alle hielten ihn für einen »großartigen Kerl«. Er mochte sie wirklich. Er war nur nicht bereit, sich mit irgendeiner von ihnen auf eine permanente Beziehung einzulassen.
Außerdem gab es die – gelegentlichen – Affären mit verheirateten Frauen. Mit gelangweilten, reichen Ehefrauen mit Zeit im Überfluss, die Lust auf ein kleines Abenteuer hatten. Sie wussten, dass Lucas nicht indiskret war oder mit seinen Eroberungen prahlte. Er wusste, dass sie nur ihren Spaß haben wollten. Er liebte wie sie die Herausforderung, den Schauer der Aufregung. Er hatte immer darauf vertraut, dass sie keine Dummheiten machten, und bis jetzt hatte sich dieses Vertrauen auch ausgezahlt. Doch es gab immer ein erstes Mal …
Was Männer anging, hielten die meisten Lucas für einen »guten Kumpel«. Bis auf diejenigen, die ihm in die Quere gekommen waren oder sein Vertrauen missbraucht hatten. Sie grollten lange über diesen »Mistkerl Burton«. Lucas reagierte ausgesprochen empfindlich auf derartige Dinge und zahlte in der Regel mit gleicher Münze zurück. Ansonsten war er ein Mann, der zu seinem Wort stand, der seine Gedanken beisammenhatte und anderen keine Gelegenheit gab, ihn zu übervorteilen. Es fiel ihm leicht, zivilen Umgang zu pflegen, selbst mit Konkurrenten, die er bei Geschäften ausgestochen hatte, und so hatte er nicht allzu viele Feinde. Lucas war immer ausgesucht freundlich und charmant, was selbst die wenigen, die seinen Namen verfluchten, widerwillig einräumen mussten.
Im Moment jedoch war Lucas nicht nach Charmantsein zumute, ganz und gar nicht, und das Betreten seines Hauses hatte diesmal nicht wie üblich seine Stimmung gehoben. Er fühlte sich grauenhaft. Er hatte in der gemieteten Garage den Dreck von seinem Mercedes gewaschen. (Der Nachteil dieser alten Häuser bestand darin, dass sie keine eigenen Garagen besaßen.) Er hatte auch seine Schuhe gesäubert und würde sie bei nächster Gelegenheit entsorgen. Jetzt zog er sie aus und starrte sie verdrießlich an: nicht länger kostspielige Errungenschaften, sondern potentiell belastendes Beweismaterial. Der Dreck an seinen Schuhen konnte zurückverfolgt werden, und selbst der kleinste Krümel würde der Polizei verraten, dass er auf der Cricket Farm gewesen war. Der Mercedes ließ sich nicht so leicht beseitigen, genauso wenig, wie Lucas riskieren konnte, den Wagen in seinem verdreckten Zustand durch eine Waschanlage zu fahren, wo er Aufmerksamkeit und Kommentare auf sich ziehen würde. Also hatte er ihn gewaschen, so gründlich es ging, auch wenn er wusste, dass die Spurensuche trotzdem noch etwas finden konnte.
Auf dem Weg nach Hause hatte er die dreckigen Lappen und sein verschmutztes Taschentuch in einen Müllcontainer geworfen. Doch es gab ein drittes Problem. Zu seiner Bestürzung hatte er beim Waschen und Säubern des Wagens einen Kratzer am linken Außenspiegel entdeckt. Es war kein großer Kratzer, doch er war an einer deutlich sichtbaren Stelle. Er war nicht sicher, wo er sich den Kratzer zugezogen hatte. Vielleicht auf diesem verdammten Farmhof oder, nachdem er in Panik davongefahren war und auf dieser Einfahrt zu einem Feldweg angehalten hatte, um seinen Anruf zu tätigen. Er hoffte inständig, dass er sich den Spiegel dort an der Trockensteinmauer zerkratzt hatte. Er war so aufgeregt gewesen, dass ihm nichts aufgefallen war. Und wenn er sich den Kratzer auf der Farm zugezogen hatte, dann bedeutete das ein ernstes Problem. Es war eine Spur, die man zurückverfolgen konnte, eine Spur, die er am Tatort zurückgelassen hatte.
»Tatort!«, schnaubte Lucas laut, während er sich Whisky in ein Glas schüttete. So würden es die verdammten Bullen nennen, wenn sie die Leiche schließlich fanden. Was früher oder später der Fall sein würde. Je später, desto besser. Doch es war zu viel gehofft, dass die Leiche niemals entdeckt werden würde. Ein paar verrückte Minuten lang, am Straßenrand bei diesem Feld, hatte er sich erlaubt, optimistisch zu sein. Doch er war Realist. Früher oder später würde jemand zu der Farm gehen. Früher oder später würde jemand die Leiche finden.
Er würde sich selbst um den Kratzer kümmern müssen. Er konnte den Wagen nicht zur gewohnten Werkstatt bringen, um den Schaden beheben zu lassen. Sie kannten ihn dort, und sie würden sich an ihn erinnern. Auch diese Beulendoktoren konnte er nicht anrufen, die zu einem nach Hause kamen und kleinere Kratzer reparierten. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als es selbst zu tun. Verdammt, als Teenager hatte er eine ganze Reihe alter Karren zurechtgemacht. Er würde sich gleich am nächsten Morgen an die Arbeit begeben. Sie würden ihm nicht auf die Spur kommen – nicht, wenn er ordentliche Arbeit leistete und den Wagen richtig säuberte und die Lackstelle reparierte. Warum zum Teufel sollten sie überhaupt? Allerdings, wenn der andere redete … das war eine Sache, um die er sich noch heute Abend kümmern musste. Anders als der Lackschaden am Spiegel duldete diese Sache keinen Aufschub bis zum nächsten Morgen.
Er ging, das Glas in der Hand, nach draußen in die Küche. Lucas kochte nicht selbst, abgesehen von getoastetem Weißbrot zum Frühstück. Er ließ sich das Essen entweder von einem Lieferservice bringen, oder er ging selbst in ein Restaurant. An diesem Abend jedoch wollte er keine anderen Menschen sehen, weil er aufgeregt war und befürchtete, jemand könnte es bemerken. Und hungrig war er eigentlich auch nicht. Im Gegenteil, ihm war übel. Vielleicht sollte er doch etwas essen.
Er suchte fruchtlos in den mehr oder weniger leeren Schränken, die kaum mehr enthielten als die baren Notwendigkeiten für sein Frühstück: Marmelade, Kaffee und Tee, ein altes geöffnetes Paket Zucker, eine zur Hälfte aufgegessene Packung Cornflakes und aus irgendeinem Grund eine Dose Sardinen. Sein Kühlschrank war leer bis auf Butter und Milch und ein halbes Dutzend Dosen Bier. Warum zum Teufel hatte er keinen Käse im Haus? Jeder hatte Käse in seinem Kühlschrank, nur er nicht.
Zum ersten Mal dämmerte ihm – und es kam wie ein richtiger Schock –, wie erbärmlich dieses Sammelsurium aus Nahrungsvorräten erscheinen musste. Er hatte sich immer für einen Mann gehalten, der sich nichts aus einem häuslichen Leben machte. Und jetzt hatte er die plötzliche, höchst unwillkommene Vision von sich als einem alternden Junggesellen, ohne Familie, ohne Frau oder Partnerin, ohne irgendjemanden, der einen Dreck auf ihn gab. Nicht einmal seine Gespielinnen. Er war ihnen egal. Früher einmal war ihm dieses Fehlen jeglicher Verpflichtung als Freiheit erschienen.
Jetzt ließ es ihn – war das möglich? – aussehen wie einen Verlierer.
Er schob den Gedanken von sich. Er war nicht er selbst – wer zum Teufel war das schon, nachdem er über eine Leiche gestolpert war?
Schließlich förderte er eine Packung Schokoladenkekse zutage, die seine Putzfrau wohl im Schrank deponiert hatte für ihre endlosen Teepausen. Sie kam dreimal die Woche und hatte kaum etwas zu tun. Glücklicherweise war sie erst am Montag wieder an der Reihe. Vielleicht hatte sie die Sardinen gekauft. Auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, warum.
Lucas kippte den Whisky hinunter, machte sich einen großen Becher Kaffee und zog sich damit und mit den Keksen in sein Arbeitszimmer zurück, um sein weiteres Vorgehen zu planen. Er brauchte einen klaren Kopf, um nachdenken zu können.
Jetzt fühlte er sich wieder halbwegs normal, und er war bereit, sich mit der Person in Verbindung zu setzen, die er eigentlich hatte treffen wollen – das Treffen, das er so urplötzlich hatte absagen müssen. Diese Geschäftsbeziehung war definitiv vorbei. Der andere würde vielleicht zuerst nicht der gleichen Meinung sein, doch er würde es einsehen, dafür würde Lucas schon sorgen. Abgesehen davon – je länger er darüber nachdachte, desto mehr störte ihn der scheinbare »Zufall«. Von allen möglichen Stellen, wo eine Leiche liegen konnte – eine Leiche, ein menschlicher Leichnam, einfach so! –, hatte sie ausgerechnet in diesem Kuhstall gelegen. An der Stelle, wo Lucas und der andere verabredet gewesen waren.
Nein, nein. Zufälle wie dieser ereigneten sich im Film und in Büchern. Sicher, sie konnten sich auch im richtigen Leben ereignen, doch er musste ganz sicher sein.
War er möglicherweise das Opfer einer linken Tour geworden?
Hatte sich einer von jenen, die er bei einem Geschäft ausgestochen hatte, nicht von seinem Charme besänftigen lassen? War das die Rache eines Konkurrenten?
Falls ja, so wollte er wissen, wer dahintersteckte. Und derjenige würde feststellen, dass er es mit dem anderen Lucas zu tun hatte. Dem Lucas, der überhaupt keinen Charme versprühte. Dem Straßenschläger, der er früher einmal gewesen war.
Er dachte nicht, dass die Person, mit der er sich hatte treffen wollen, hinter dieser Sache steckte. Weil sie keinen Grund dazu hatte. Aber jemand anders. Jemand, der von dem geplanten Treffen gewusst hatte, wahrscheinlich. Verdammt, er hatte dem anderen Verschwiegenheit eingeschärft und gedacht, sie wären beide der gleichen Meinung, was das anging. Es lag schließlich in ihrer beider Interesse. Es hatte doch wohl keine dritte Partei …?
Er nahm sein Mobiltelefon hervor und ging die Liste von Nummern in seinem Adressbuch durch, dann drückte er auf eine Taste.
»Ich bin’s«, sagte er forsch, als das Gespräch angenommen wurde. »Bist du allein? … Gut, dann hör genau zu. Unsere Geschäftsbeziehung ist vorbei … Ja, vorbei! Ich bin über eine Leiche gestolpert auf dieser verdammten Farm! … Nein, ich bin nicht betrunken, verdammt! Warum zum Teufel hast du diesen Treffpunkt ausgesucht? Ich bin in eine Art Kuhstall gegangen, und da lag eine Leiche … Ja, ich bin sicher! Woher soll ich denn wissen, wer es war? Früher oder später wird man sie finden, und dann wimmelt es auf der verdammten Farm von Bullen! Ich war nie dort, klar? Du und ich, wir waren nie dort verabredet. Das ist unsere Geschichte, und dabei bleibt es. Wir sind lediglich Bekannte, nichts weiter, ohne jede gemeinsame Vergangenheit … Ja, du hast mich richtig verstanden. Bekannte, mehr nicht, und dabei wird es bleiben …«
Die Person am anderen Ende der Leitung protestierte laut.
»Halt die Klappe!«, schnappte Lucas. »Der Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht, dass mich jemand aufs Kreuz legen wollte …«
Weiterer heftiger Protest.
Lucas fuhr ihm über den Mund. »Hör zu, ich sage ja nicht, dass du es warst! Aber wenn nicht du, wer dann? Hast du geredet? Hast du mit irgendjemandem geredet? Irgendeine Andeutung fallen lassen? Ein Blatt Papier herumliegen lassen mit meinem Namen oder meiner Nummer darauf? Oder dem Namen dieser verdammten Farm? Hat irgendjemand vielleicht mithören können, was wir am Telefon besprochen haben?«
Eine markige Antwort kam aus dem Hörer.
»Wie du meinst«, sagte Lucas. »Ich mag keine Zufälle, und Zufälle wie diesen erst recht nicht. Ich bin überzeugt, dass mich jemand reinlegen wollte. Vielleicht uns beide, und ich will wissen, wer es war und warum! Eins kannst du mir glauben – ich werde es herausfinden!«
Als Jess spät am Freitagabend nach Hause kam, lag auf ihrer Fußmatte gleich hinter der Tür ein zerknitterter Briefumschlag mit einer ausländischen Briefmarke. Sie bückte sich und hob ihn freudig überrascht auf. Simon hatte Zeit gefunden, ihr zu schreiben! Briefe von ihrem Zwillingsbruder waren eine Seltenheit. Simon war Arzt und arbeitete für eine medizinische Hilfsorganisation an verschiedenen Brennpunkten auf der Welt. Die Gegenden, in denen er zum Einsatz kam, waren abgelegen und gefährlich, und die Kommunikation unsicher und störanfällig. Er hatte keine Freizeit. Aus diesem Grund war sein Brief, wahrscheinlich des Nachts im flackernden Lichtschein einer Öllampe geschrieben, eine Kostbarkeit.
Sie steckte ihn in die Tasche, um ihn später genussvoll zu lesen, und versetzte der Tür mit dem Absatz einen Stoß, dass sie ins Schloss fiel.
Ihre Wohnung war klein, doch es gefiel ihr so, weil sie nur wenig Arbeit machte. Sie hatte keine Zeit (und keine Lust) auf regelmäßiges Staubsaugen und Wischen. Auf der anderen Seite war sie von Natur aus sauber und verspürte eine Abneigung gegen Unordnung und Chaos. Aus diesem Grund war die Wohnung sorgfältig möbliert, mit nicht mehr als den notwendigen Stücken und ohne jeglichen Zierrat, mit Ausnahme eines gerahmten Familienphotos, aufgenommen im Garten eines gemieteten Feriencottages in Cornwall, als sie und Simon ungefähr zwölf Jahre alt gewesen waren.
Sie grinsten in die Kamera, und ihre rotbraunen Haare leuchteten im Sonnenlicht. Jess hatte beide Arme um den Labrador der Familie geschlungen. Sie hatten den Hund in jedem Urlaub mitgenommen, weil niemand es fertigbrachte, ihn in einen Zwinger zu geben. Erst nachdem er in den Hundehimmel gegangen war, unter einer feierlichen Grabrede, die ihr Vater im Garten hinter ihrem Haus gehalten hatte, war die Familie zum ersten Mal ins Ausland in Urlaub gefahren. Was nicht bedeutete, dass sie nicht herumgekommen wären als Kinder. Jess’ Vater war bei der Armee gewesen, und als kleines Mädchen hatte sie ein paar Jahre in einer NATO-Siedlung in Deutschland gelebt. Ein weiterer Grund, nahm sie an, dass ihre Eltern keine Lust verspürt hatten, sich zur Ferienzeit durch die Flughäfen oder Fährdocks zu kämpfen. Und vielleicht auch der Grund, warum sie und Simon sich als Erwachsene zu einem so unsteten Leben entschlossen hatten. Simon reiste mehr in der Welt umher als sie, doch als Kriminalpolizistin arbeitete sie auch kaum jemals zu normalen Bürozeiten. Das Unerwartete stand stets auf der Schwelle, genau wie heute.
Jess lächelte den Schnappschuss an und versuchte sich zu erinnern, wer ihn gemacht hatte – schließlich waren alle vier im Bild. Sie vermochte es nicht zu sagen.
Sie ging ins Schlafzimmer und streifte ihre feuchte, schmutzige Kleidung ab. Nachdem sie heiß geduscht und sich die Haare gewaschen hatte und in saubere, trockene Sachen geschlüpft war, fühlte sie sich bereits sehr viel besser. Ihre vorhergehende Müdigkeit war zusammen mit dem Schmutz von der Cricket Farm weggespült worden. Belebt kehrte sie in ihr Wohnzimmer zurück und schaltete den lokalen Radiosender ein. Die Medien hatten keine Reporter auf die Farm geschickt – wahrscheinlich hatte sich die Neuigkeit noch nicht bis zu ihnen herumgesprochen. Der Radiosender jedenfalls erwähnte nichts von einem Leichenfund. Später würde sie die Nachrichten im Fernsehen verfolgen; vielleicht hatte das regionale Bulletin bis dahin Wind von der Leiche im Kuhstall bekommen. Der Fundort hatte etwas Schauerliches, das den Redakteuren der Nachrichtensendungen möglicherweise zusagte. Die Schlagzeilendichter der Boulevardpresse jedenfalls würden jubeln.
Sie persönlich hätte es vorgezogen, wenn die Medien nichts erfuhren, bis das Wochenende vorüber war. Später – falls es ihnen nicht gelang, das Opfer zu identifizieren – würden sie die Hilfe der Medien benötigen, doch im Moment konnte sie kein Kamerateam gebrauchen, das sich auf der Cricket Farm herumtrieb. Später hingegen konnte ein umsichtig lanciertes Photo dem Gedächtnis der Öffentlichkeit auf die Sprünge helfen.
Insbesondere wollte sie nicht, dass Eli Smith an diesem Wochenende von Reportern belagert wurde. Jess war sicher, dass Smith zutiefst erschüttert war. Niemand, der einen Leichnam auf seinem Grund und Boden fand, war erfreut darüber. Doch Smith war mehr als unglücklich. Er war nervös. Er war ein Einzelgänger, und niemand konnte voraussehen, wie er auf die aufdringlichen Fragen von Reportern reagierte.
Sie hatten vereinbart, dass er am nächsten Morgen, am Samstag, um zehn vorbeikommen und seine Aussage unterzeichnen würde. Phil Morton konnte sich darum kümmern. Theoretisch musste Jess erst am Montagmorgen wieder zur Arbeit, doch sie konnte nicht das ganze Wochenende warten und nichts tun.
Zum einen waren die ersten Tage einer Mordermittlung immer die wichtigsten. Und zum zweiten – nicht weniger wichtig – sollte Superintendent Ian Carter am Montag seinen neuen Posten antreten, und sie mussten vorzeigen können, was sie am Wochenende herausgefunden hatten.
Sie wussten nur wenig über den neuen Chef. Er kam aus der anderen Ecke des Landes, und sie hatten keine Ahnung, was ihn dazu bewogen hatte, sich hierher versetzen zu lassen. Ein Bekannter, ein in den Ruhestand gegangener höherer Beamter, hatte Jess verraten, dass Carter ein sehr erfahrener Mann war. »Ich glaube, ich habe vor Jahren mal Rugby gegen ihn gespielt«, hatte der gleiche Informant weiter gesagt. Sie hatte bisher kein Photo von Carter gesehen, und ihre Phantasie hatte einen groß gewachsenen konservativen Exsportler heraufbeschworen, der einen aussichtslosen Kampf gegen sein zunehmendes Gewicht kämpfte.
Ihre Pläne für den nächsten Morgen sahen aus diesem Grund etwa folgendermaßen aus: früh aufstehen und eine Runde joggen, nach Hause kommen, frühstücken und dann ins Hauptquartier und sehen, was los war. Anschließend zur Cricket Farm fahren und sorgfältig die Gegend erkunden. Sie hatte Stallungen gesehen unten am Fuß des Hügels, hinter dem kleinen Wäldchen. Sie mussten herausfinden, ob und wer im Verlauf der letzten Woche dort gewesen war.
Sie hatte noch genügend Zeit vor den Abendnachrichten, um sich etwas zu essen zu machen. Sie ging in ihre Kitchenette, setzte Nudeln auf, und als sie fertig waren, rührte sie eine Dose Tunfisch und ein Glas Pesto unter. Dann setzte sie sich mit ihrem Essen auf einem Tablett vor den Fernseher. Sie besaß keinen Esstisch. Wer sollte sich auch daran setzen?
Eli Smith hatte einen Tisch. Phil Morton hatte Recht gehabt, und sein Zuhause war sehr isoliert. Smiths Cottage war eines von vieren, die zur Farm gehörten und auf dem Gelände standen. Zwei davon bildeten ein Doppelhaus und waren so weit verfallen, dass sie nicht mehr bewohnbar waren. Die beiden anderen standen einen Kilometer voneinander entfernt und waren immer noch in einigermaßen vernünftigem Zustand. Smith bewohnte eines davon selbst; das andere war an Penny Gower vermietet. Rein technisch betrachtet war sie seine nächste Nachbarin, doch die Entfernung war so groß, dass er sie kaum je sah, es sei denn, er fuhr zur Farm. Manchmal fuhr er auch den Hügel hinunter zu den Stallungen, um zu sehen, ob alles so weit in Ordnung war.
Er mochte die Pferde. Als er ein Knabe gewesen war, hatten sie noch Ackergäule auf der Farm gehabt. Später waren die Tiere einem Traktor gewichen. Modernisierung hatten sie es genannt. Er war traurig gewesen, dass die beiden Pferde wegmussten, und hatte geglaubt, dass sein Vater es ebenso bedauert hatte. Eine jener wenigen Gelegenheiten, zu denen Eli und sein Vater einer Meinung gewesen waren. Doch die Ackergäule mit Namen Dolly und Florence waren alt gewesen. Auf einer Farm gab es keinen Platz für Sentimentalität. Ganz sicher nicht auf der Cricket Farm.
Eli hatte seine »Werkstatt« auf der Rückseite des Cottages. Sie bestand aus einem Wellblechschuppen mit einem Stromanschluss, den er vom Haus hierher gelegt hatte. Hier konnte er so viel Lärm machen, wie er wollte. Niemand hörte es. Niemand beschwerte sich. Niemand kam vorbei und fragte neugierig, was er dort machte. Eli konnte neugierige Menschen nicht ausstehen. Das war noch etwas, das er in seiner Kindheit gelernt hatte. Was die Bullen anging, die steckten ihre Nasen in alles und jedes. Ein Grund mehr, überlegte Eli, ihnen nicht mehr zu erzählen, als sie unbedingt wissen mussten. Wissen mussten sie, dass im Kuhstall eine Leiche lag. Aber das war es auch schon. Nicht mehr, nicht weniger.
An jenem Abend saß Eli mit seiner Familie an seinem Kiefernholztisch in der Küche. Ihm war klar gewesen, dass sie wussten, was passiert war, und dass sie auftauchen würden, und so war er nicht überrascht. Sein Vater saß ihm gegenüber am anderen Ende, seine Mutter zu seiner Linken und sein Bruder zur Rechten.
Sie waren nicht ununterbrochen da, doch ein- oder zweimal die Woche leisteten sie ihm Gesellschaft. Wenn sie kamen, nahm er ihre Anwesenheit hin, wie man den Besuch von Verwandten hinnimmt. Er war nicht sonderlich erfreut, sie zu sehen – auf der anderen Seite war die Konversation mit ihnen auch nicht sonderlich ermüdend. Niemand erwartete von den Toten, dass sie geschwätzig waren.
Er zog ihre gegenwärtige Einsilbigkeit jedenfalls dem ständigen Genörgel und den gegenseitigen Schuldzuweisungen vor, die diese Zusammenkünfte charakterisiert hatten, als sie noch alle am Leben gewesen waren. Auch wenn sie es irgendwie selbst jetzt noch fertigbrachten, ihn zu ärgern. Ohne ein Wort dabei zu sagen.
Sein Bruder beispielsweise bestand darauf, einen Strick um den Hals zu tragen. Das ärgerte Eli, weil es nicht nur taktlos war, sondern außerdem unrichtig. Nathan hatte seinen Kopfkissenbezug benutzt, in Streifen gerissen und aneinandergeknotet, um sich damit in seiner Gefängniszelle zu erhängen. Woher hätte er einen richtigen Strick wie diesen nehmen sollen? Typisch Nathan. Er war schon immer ein Klugscheißer gewesen.
Seine Mutter saß mürrisch da und funkelte abwechselnd den ungesäuberten Herd an (Eli wollte verdammt sein, wenn er das elende Ding putzte, nur um ihr zu Gefallen zu sein) oder wischte mit einem Geschirrtuch über den großen Blutfleck auf ihrem Kleid.
Sein Vater starrte den Tisch entlang und an Eli vorbei durch das Fenster hinter ihm. Auch sein Hemd war voller Blut, doch es schien ihn nicht zu kümmern. Eli hegte den Verdacht, dass seine Mutter nur deswegen dauernd mit dem Geschirrtuch hantierte, weil sie Nathan gegenübersaß und ihn daran erinnern wollte, was er getan hatte. Nathan für seinen Teil saß einfach nur grinsend da, mit der Schlinge um den Hals.
»Ich weiß überhaupt nicht, warum du so verdammt selbstgefällig dreinblickst, Nat!«, sagte Eli zu ihm. »Außerdem hat es einen weiteren Mord gegeben. Du bist also nicht der einzige Mörder auf der Farm. Verstehst du? Du bist überhaupt nichts Besonderes.«
Nathan befingerte seinen Strick und feixte. Man konnte ihm einfach nichts sagen. Er wusste immer alles besser.
Seine Mutter wandte den mürrischen Blick vom Herd ab und sah Eli an. Sie gab ihm immer die Schuld für alles, was auf der Farm schiefging. Doch Eli war nicht das Problem gewesen, oder? Nathan war es. Was seinen Vater anging, so saß er einfach nur da und starrte aus dem Fenster. Doch er hatte die Neuigkeit ebenfalls vernommen. Er hatte das Gesicht verzogen, auf die gleiche Weise, wie er es früher immer getan hatte.
»Es ist nicht meine Schuld, wenn die Bullen ins Haus gehen!«, verteidigte sich Eli. »Ich habe ihnen gesagt, dass seit damals niemand mehr im Haus gewesen ist. Aber sie mussten unbedingt die Schlüssel haben. Ich bin nicht daran schuld. Ihr könnt mir keinen Vorwurf machen!«
Vergeblich. Sie gaben ihm immer die Schuld, ganz egal, was es auch war.
»Verschwindet einfach, alle zusammen!«, schnappte Eli. Er war ihre wortlose Gesellschaft leid, und ihre unausgesprochene, nichtsdestotrotz erbarmungslose Kritik trieb ihn auf die Barrikaden.
Sie kamen seinem Wunsch gehorsam nach und verblassten in der schmutzigen Tapete mit dem Chiantiflaschenmuster. Verdammt alberne Tapete für eine Küche, dachte Eli. Wirklich verdammt albern. Eines Tages würde er sie abkratzen und die Wände streichen.
»Oder besser nicht«, sagte er zu seiner alten, getigerten Katze, die unterdessen hereingekommen war. Sie mochte Elis Verwandtschaft nicht und schoss jedes Mal geradewegs durch die Tür nach draußen in den Garten, sobald sie sich zeigte. »Besser, wir lassen alles, wie es ist. Es würde ihnen nicht gefallen, und sie hätten noch etwas, weswegen sie mich die ganze Zeit böse anfunkeln könnten.«
Die Katze tappte vorsichtig durch die Küche und überzeugte sich, dass sie wirklich alle weg waren. Erst danach würde sie in seinen Schoß springen, den Kopf zwischen ihm und der Tischkante hindurchschieben und versuchen, ein paar Leckerbissen von seinem Teller zu stehlen.
Eli fragte sich, ob das junge Mädchen aus dem Kuhstall sich früher oder später zu ihnen gesellen würde. Es war schließlich auf der Farm gefunden worden. Was sie quasi zur Familie zugehörig machte.
Er sann immer noch nach, während er die gekochten Kartoffeln vom Vortag und den gebratenen Schinken aß, jetzt, nachdem die Familie sich verzogen hatte. Er und die alte Tibs (sie hatte den Schinken gewittert und machte sich bereit zum Sprung) hatten das Haus wieder für sich allein. Für den Augenblick jedenfalls.
Nicht auf Dauer.
Sie würden zurückkommen.