Kapitel 14
Ihr Plan, noch einmal zum Foot to the Ground zu fahren und David Jones zu befragen, war durch das Wochenende und die Reise nach London am Tag zuvor in den Hintergrund geraten. Am Mittwochmorgen jedoch war er wieder präsent.
Jess drückte den Knopf der Zentralverriegelung an ihrem Schlüsselbund, und die Blinker des Wagens leuchteten zur Bestätigung auf. Ihr Plan war, geradewegs zu Ian Carter zu gehen und ihn zu informieren, was ihre Reise nach London ergeben hatte. Sie hatte sich kaum vom Wagen abgewandt, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Sie blickte sich um und sah einen jungen Mann in Motorradkluft, der mit dem Helm unter dem Arm auf sie zuhastete wie ein enthauptetes Gespenst.
»Inspector! Haben Sie einen Moment Zeit? Ich muss mit Ihnen reden! Es ist wirklich dringend!«
David Jones war ihr zuvorgekommen. Nach Atem ringend blieb er vor ihr stehen.
»Selbstverständlich«, sagte sie. »Möchten Sie mit ins Gebäude kommen?« Sie deutete zum Eingang. Er wirkte sehr aufgeregt. Was war nun schon wieder passiert?
Er musterte den Betonklotz des Hauptquartiers mit gehetzten Blicken, und sie fragte sich, ob er befürchtet verhaftet zu werden, sobald er den Bau erst betreten hatte.
»Es ist angenehmer als hier draußen«, sagte sie beruhigend. »Ich könnte uns einen Kaffee bringen lassen.«
Er zögerte immer noch unsicher. »Ich bin hergekommen, weil ich eine Aussage machen möchte. Ich will nur etwas klarstellen. Ich kann für mich selbst reden, wissen Sie? Ich brauche keine anderen Leute, die für mich reden!« Seine Stimme wurde lauter, schriller, und drohte, sich zu überschlagen.
Wie sie sich beinahe schon gedacht hatte, waren der Anwalt, Mr. Fairbrother, und sein Anruf bei Phil Morton die Ursache des Besuchs. David Jones hatte – wahrscheinlich von seiner Mutter – erfahren, was geschehen war, und hatte, wie vorherzusehen war, hektisch reagiert angesichts des ungünstigen Lichts, das sie unwillentlich auf ihn geworfen hatte.
»Gerne, aber wir können uns dabei setzen, meinen Sie nicht?«, sagte sie gleichmütig, in der Hoffnung, ihn ein wenig zu beruhigen. Er war wirklich völlig außer sich, das Gesicht gerötet, die Augen geweitet. Als sie ein paar Tage zuvor im Hof des Foot to the Ground mit ihm gesprochen hatte, war seine Miene beinahe ausdruckslos gewesen, und nur hin und wieder hatte er für einen kurzen Moment die Contenance verloren. Jetzt hingegen schien jeder Gesichtsmuskel zu zucken, als wäre er statisch aufgeladen. Halb erwartete sie blaues Elmsfeuer, das über den Motorradhelm unter seinem Arm tanzte.
Sie übernahm die Führung und ging mit entschlossenen Schritten in Richtung des Gebäudes. Das Knirschen der schweren Motorradstiefel auf dem Kies hinter ihr verriet ihr, dass er ihr folgte.
Ein paar Minuten später saß Jones mit hängenden Schultern in einem Bürosessel, in den Händen einen heißen Becher Kaffee. Der Helm lag vergessen neben ihm auf dem Boden. Ihre Einladung hatte den Zweck gehabt, ihn zu entspannen, doch es hatte nicht funktioniert. Er sah immer noch aus wie ein Nervenbündel. Kein Wunder, dachte Jess mitfühlend, dass sich seine Familie um ihn sorgte und einen Anwalt um Hilfe gebeten hatte.
»Fairbrother hat Sie angerufen, stimmt’s? Ich hab nichts damit zu tun, hören Sie?« Schon seine ersten Worte bestätigten ihren Verdacht. Seine Augen glitzerten vor Ärger, doch er galt nicht ihr.
»Ja, Mr. Fairbrother hat uns angerufen«, sagte Jess unverbindlich.
Jones zuckte zusammen und verschüttete Kaffee.
»Passen Sie auf!«, warnte ihn Jess. »Es mag nicht der beste Kaffee auf der Welt sein, aber er ist heiß.«
Jones beugte sich vor und stellte den Becher auf dem zerkratzten Tisch des Verhörzimmers ab. »Es war meine Mutter. Es war ihre Idee. Sie ist mit einer Frau namens Foscott befreundet.«
»Selina Foscott?«
»Ja. Sie waren bei ihr und haben ihr dieses Photo gezeigt von dem Flugblatt, das Jake als Reklame für sein Lokal hat drucken lassen. Mutter geriet in Panik, weil sie dachte, ich würde einen Rückfall erleiden und wieder ausrasten.«
»Sie hatten einen Nervenzusammenbruch, ist das richtig? Das ist doch sicher etwas anderes als ›ausrasten‹?«, warf Jess ein.
»Sie wissen nicht, was ich alles angestellt habe damals«, sagte David steif. »Ich war krank. Ich … ich habe meine Familie und meine Freunde vor den Kopf gestoßen. Ich habe mein Zimmer schwarz gestrichen.«
»Was soll daran ungewöhnlich sein?«, entgegnete Jess. »Viele Jugendliche tun so etwas. Schwarz ist vielleicht ein wenig bedrückend. Ich weiß nicht, ob ich mich für Schwarz entschieden hätte.«
»Nein, nein!«, rief er ärgerlich. »Ich habe alles schwarz angestrichen, die Wände, die Decke, die Möbel. Ich habe sogar meine Bettwäsche schwarz gefärbt.« Er hielt sinnierend inne. »Es hat nicht besonders gut funktioniert, offen gestanden. Die Wäsche hatte eine ganz merkwürdige Farbe. Alles, nur nicht schwarz.«
»War Ihren Eltern Ihr Nervenzusammenbruch peinlich?«
Man hätte meinen können, dass diese doch sehr persönlichen Fragen den jungen Mann noch mehr aus der Fassung brachten, doch während sie sich unterhielten, bemerkte Jess, wie seine Anspannung sichtlich nachließ. Es fiel ihm leichter, über seine Krankheit zu reden, als so zu tun, als wäre alles Schnee von gestern und hätte keinerlei Bedeutung für das Hier und Jetzt.
Er sieht eine Art Psychotherapeutin in mir, dachte sie selbstironisch. Zu schade, dass ich keine Couch im Büro habe, auf die er sich legen kann.
»Ja, das können Sie laut sagen. Es mag undankbar klingen, wenn ich so etwas sage, aber es ist die Wahrheit. Ich sage nicht, dass sie mir nicht geholfen hätten. Sie taten alles, was in ihrer Macht stand, aber es ist keine Krankheit, mit der man so leicht fertig wird – jemand den ganzen Tag herumsitzen zu haben, der ständig heult, wirres Zeug redet und die merkwürdigsten Dinge tut.« Er sah Jess direkt in die Augen. »Aber jetzt geht es mir wieder gut.«
»Ja. Ja, das sehe ich.«
Er zuckte die Schultern. »Sie haben Angst, dass es wieder passieren könnte. Alle beide, aber Mum mehr als Dad. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Mum sowieso nicht – Mrs. Foscott hat sie aufgestachelt. Mrs. Foscott ist das taktloseste Weibsstück im gesamten Universum, wussten Sie das?«
»Selina Foscott?«
»Natürlich, wer denn sonst? Meine Mutter bestimmt nicht! Dad ist im Moment nicht zu Hause. Er war auf irgendeiner internationalen Konferenz in Straßburg, und seitdem ist er in London, in seinem Club. Er bereitet sich auf eine schwierige Verhandlung vor. Deswegen hat Mutter die Sache selbst in die Hand genommen, nachdem Selina ihr dieses Photo gezeigt und ihr die Ohren vollgequatscht hat. Sie wusste sich nicht anders zu helfen, als Fairbrother anzurufen und ihn dazu zu bringen, dass er Sie anruft. Ich denke, er hat versucht, sie davon abzubringen, doch sie war viel zu aufgeregt, also hat er letzten Endes nachgegeben. Dad ist natürlich an die Decke gegangen, als er davon erfahren hat. Ich dachte, das Telefon würde explodieren. Sie wollte nur meine Nerven schonen, aber Dad meinte, es würde so aussehen, als versuchten sie, also meine Eltern, zu verhindern, dass ich vernommen werde. Mit anderen Worten, als hätte ich etwas zu verbergen in Bezug auf Evas Tod. Aber das ist nicht so. Dad wollte Ihnen einen Brief schicken, aber ich sagte, dass ich das selbst regeln müsste, und dass alles, was sie unternähmen, den … den unglücklichen Eindruck noch verstärken würde, den Fairbrother erweckt hat. Dad meinte, na schön, ich sollte ihn aber bitte sehr hinzurufen, falls ich in die Klemme gerate. Und jetzt bin ich hier.«
»Ich nehme an, Ihre Mutter ist untröstlich, weil sie etwas falsch gemacht hat?«, lächelte Jess.
»Das ist richtig.« Jones grinste schief. »Wenn das noch viel länger dauert und Sie den Mörder von Eva nicht bald finden, dann kriegt Mum selbst einen Nervenzusammenbruch. Entschuldigung, das hätte ich nicht sagen sollen. Aber wenn man jemanden liebt, dann macht man sich Sorgen um ihn, oder nicht?«
Jess dachte an ihren Bruder Simon in der fliegenverseuchten Umgebung des Flüchtlingslagers. »Ja, Sie haben Recht.«
»Ich habe mir immer Sorgen wegen Eva gemacht«, sagte Jones ernst. »Weil ich ziemlich verliebt in sie war – aber das haben Sie vermutlich längst rausgefunden.«
»Ich nahm an, dass es so war, ja. Es ist normal. Sie war eine sehr hübsche junge Frau.«
»Ja, das war sie. Wunderschön. Das Photo wird ihr nicht gerecht … und ich nehme an, ihre Leiche war auch kein schöner Anblick, oder? Ich weiß, wie Tote aussehen – immerhin habe ich Medizin studiert, früher einmal.«
»Nein«, gestand Jess. »Sie war kein schöner Anblick.«
»Der Tod raubt jegliche Persönlichkeit«, sagte Jones, und sein Blick ging in die Ferne, zurück zu alten Erinnerungen. »Der menschliche Körper bleibt als leere Hülle zurück. Ich glaube fest, dass es eine Seele geben muss – oder irgendetwas wie eine Seele –, weil im Tod definitiv etwas den Körper verlässt.«
Jess hatte sich vorgebeugt. »David …«, sagte sie leise.
Er blinzelte, schüttelte den Kopf und riss sich sichtlich zusammen. »Ja, richtig. Wie gesagt, Eva war sehr attraktiv und eine nette Person obendrein. Ich habe mich in sie verliebt. Aber sie hatte schon einen Freund.«
»Erzählen Sie weiter«, forderte Jess ihn auf, weil er schon wieder verstummt war.
»Hat Milada Ihnen etwas davon erzählt?« Jones starrte sie an.
»Sie hat erzählt, Eva wäre regelmäßig an ihrem freien Tag von einem Mann abgeholt worden, am Ende der Gasse. Er wäre nie in das Pub gekommen, sagt sie.«
»Das ist richtig, genau!«, platzte Jones vehement hervor. »Und das ist eigenartig, meinen Sie nicht? Bei Wind und Wetter ist sie zu Fuß runter zur Hauptstraße, um auf ihn zu warten. Er hat sie nie bis vor die Tür gebracht, nicht einmal dann, wenn es in Strömen geregnet hat. Sie ist immer zu Fuß von unten heraufgekommen, wo er sie abgesetzt hat.«
»Haben Sie eine Idee, warum das so gewesen sein könnte?«
»Ganz einfach, er wollte nicht gesehen werden«, antwortete Jones. »Milada und ich haben uns einmal darüber unterhalten. Eva war sehr spät nach Hause gekommen, in den frühen Morgenstunden. Milada erzählte mir, sie habe runtergehen und die Tür entriegeln müssen, nachdem Eva sie auf dem Handy angerufen und geweckt habe. Eva war nachts um drei Uhr zu Fuß die unbeleuchtete Straße von der Kreuzung heraufgekommen. Was für ein Kerl macht so etwas? Milada denkt, dass er verheiratet ist.«
»Es wäre eine mögliche Erklärung. Es gibt auch noch andere. Vielleicht hatte er einfach nur schlechte Manieren, wie Sie schon sagten.« Sie zögerte. »Haben Sie je versucht herauszufinden, wer es ist?«, fragte sie schließlich. »Haben Sie Eva nach ihm gefragt?«
»Ich habe sie ein einziges Mal gefragt, und sie hätte mir fast den Kopf abgerissen. Es ginge mich nichts an, meinte sie, und sie hatte natürlich Recht. Also habe ich das Thema nicht mehr angeschnitten und es Milada überlassen. Ich dachte, die beiden Mädchen würden schon untereinander schwatzen, Sie wissen schon. Sie haben sich schließlich ein Zimmer geteilt. Ich dachte, irgendwann würde sie Milada alles erzählen, aber Milada sagt, das habe sie nicht.«
Jones nahm seinen Becher mit erkaltetem Kaffee und trank ein paar Schlucke. Als er ihn wieder abgestellt hatte, fuhr er fort: »Ich wünschte wirklich, ich hätte Bronwen Westcott gebeten, mit Eva über diesen Kerl zu reden. Bronwen geht es genauso. Sie hat gewaltige Schuldgefühle, weil sie nie versucht hat herauszufinden, wohin Eva in ihrer freien Zeit verschwunden ist. Sie meint, sie wäre in loco parentis gewesen, an Eltern statt. Ich widersprach, Eva war kein Kind mehr. Aber Bronwen meint, Eva wäre ganz allein in diesem Land gewesen und hätte unter ihrem Dach gelebt. Nicht im selben Flügel, aber im selben Haus. Und deswegen glauben Bronwen und Jake, dass sie für sie verantwortlich waren. Oder zumindest Bronwen glaubt das.«
»Jake Westcott nicht?«
»Er hat schon Gewissensbisse, jetzt, wo Bronwen ihm so in den Ohren liegt. Ich glaube, wenn sie ihn nicht ständig daran erinnern würde, wäre er viel gelassener. Jake ist in erster Linie Geschäftsmann. Er interessiert sich nicht für das Privatleben seines Personals, nur dafür, dass sie ihre Arbeit machen. Wie ich das sehe, ist das vollkommen okay. Er ist der Einzige, der sich keine Sorgen macht, ob ich wieder durchdrehe. Ich mag ihn. Er ist ein anständiger Kerl.«
Ein oder zwei Sekunden herrschte Stille. Jones trank seinen Kaffee leer, doch er machte keine Anstalten, zu gehen.
»Noch etwas?«, fragte Jess schließlich.
Er errötete. »Also … es lässt mich dastehen wie einen Spanner oder einen Voyeur, aber da ist noch etwas, ja.«
»David«, sagte Jess ernst zu ihm. »Wenn die Menschen immer alles Verdächtige melden würden, was sie sehen, wäre unser Leben als Polizeibeamte sehr viel einfacher, und wir könnten eine ganze Menge Verbrechen verhindern. Aber oft wollen sie nicht in irgendetwas verwickelt werden, oder sie fürchten, sich lächerlich zu machen oder als paranoid betrachtet zu werden, oder, wie Sie es nennen, als Spanner oder Voyeur. Also ignorieren sie die Schwellungen und blauen Flecken im Gesicht einer Frau und den verängstigten Gesichtsausdruck eines Kindes, sobald der neue Freund der Mutter in Sicht kommt, oder Kinder, die zu nah bei Eisenbahngleisen spielen. Hin und wieder meldet ein besorgter Bürger etwas Eigenartiges, und die Behörden werden nicht aktiv, und später gibt es ein Unglück, ich weiß. Die Menschen sind zu Recht wütend und verärgert, wenn so etwas geschieht, und es tut mir auch ausgesprochen leid – aber das bedeutet nicht, dass die Menschen es nicht zumindest versuchen sollten.«
»Also gut«, unterbrach David sie. »Aber es war nichts dergleichen. Eva hatte keine Angst, und sie hatte auch keine blauen Flecken. Ich hatte keinen Grund zu der Annahme, dass irgendetwas nicht stimmte oder dass sie in echter Gefahr schwebte. Ich dachte einfach nur, dass der Typ, mit dem sie sich herumtrieb, nicht der Richtige für sie war und sich einen Dreck um sie kümmerte.«
Er zuckte die Schultern. »Nachdem Eva und ich diesen Disput gehabt hatten wegen ihres Freundes habe ich eine ganze Weile darüber gebrütet. Ich sage nicht, dass sie nicht das Recht hatte, mich zurechtzustutzen, aber es schwelte in mir. Ich hatte nur davon angefangen, weil ich mir Sorgen machte. Ich war nicht eifersüchtig. Na ja, ein klein wenig vielleicht, zugegeben, aber ich habe ihr Recht respektiert, sich zu treffen, mit wem sie wollte. Ich dachte, dass sie vernünftig war und wusste, was sie tat. Sie hatte Harper und seinen Spießgesellen die kalte Schulter gezeigt. Sie war nicht dumm.
Wie dem auch sei, als sie das nächste Mal einen freien Tag hatte, schlüpfte ich nach draußen und schlich vor ihr runter zur Straßenecke. Jake war an jenem Morgen nicht im Laden, sondern zu irgendeinem Lieferanten gefahren, was mir nur recht war. Ich versteckte mich hinter der Hecke wie ein Spanner. Nach einer Weile kam Eva zur Straßenecke runter. Sie hatte ihren pinkfarbenen Mantel an. Ich konnte ihn durch Lücken in der Hecke sehen. Sie hing fast zehn Minuten lang da rum, und ich wurde immer wütender. Warum um alles in der Welt geht sie nicht zurück ins Pub?, dachte ich. Warum lässt sie sich so von diesem Kerl behandeln? Sie so warten zu lassen … Ich war drauf und dran, aus meinem Versteck zu springen und ihr genau das zu sagen, ganz egal, wie wütend sie hinterher auf mich wäre, als ich plötzlich einen Wagen hörte. Er kam mit ziemlicher Geschwindigkeit angerast, also hatte er sich wohl verspätet. Er hielt mit quietschenden Bremsen, dann knallte eine Wagentür, als Eva einstieg, und sie brausten davon. Bis ich aufgestanden war und den Kopf über die Hecke strecken konnte, waren sie schon fast verschwunden. Ich erhaschte nur noch einen kurzen Blick auf Eva in ihrem pinkfarbenen Mantel auf dem Beifahrersitz, dann waren sie um die Kurve. Hinterher schämte ich mich. Ich hatte ihr hinterherspioniert, und das war nicht schön. Sie war auch in dieser Nacht erst spät wieder zurück, sagt Milada. Milada war nicht gerade glücklich, wie Sie sich denken können. Sie war gerade eingeschlafen, als Eva sie wieder weckte.«
»Aber das könnte sehr wichtig sein!«, rief Jess aufgeregt dazwischen. »Ein Durchbruch! Sie haben ihn gesehen, David, Sie sind der einzige Zeuge, der diesen Freund von Eva Zelená gesehen hat!«
»Ich habe ihn nicht gesehen, nur seinen Wagen. Es war nur ein kurzer Moment. Ein silberner Wagen. Ich habe die Nummer nicht erkennen können, nicht mal einen Teil, leider«, entschuldigte er sich.
»Silbern?« Jess wäre fast aus ihrem Stuhl gesprungen. »Ein großer Wagen? Welches Fabrikat, konnten Sie das erkennen?«
»Ich schätze, es war ein Citroën. Ein Citroën Saxo. Ein Freund von mir hatte mal einen. Er sah fast genauso aus. Ungefähr die gleiche Größe jedenfalls.«
»Könnte es nicht vielleicht ein Mercedes gewesen sein?«
Er schüttelte entschieden den Kopf. »Definitiv nicht, nein. Viel kleiner, wie gesagt, ein Saxo vielleicht, aber bestimmt kein Mercedes.«
Verdammt. Zwei Schritte vor, einer zurück. »Hören Sie, David«, sagte Jess ernst. »Ich brauche Sie nicht für eine Aussage über die Sorgen Ihrer Mutter um Sie. Aber Sie müssen eine Aussage machen über diesen Wagen und darüber wie es dazu gekommen ist, dass Sie ihn gesehen haben. Es könnte ein äußerst wichtiges Indiz sein. Ich kann nicht genug betonen, dass Sie die einzige Person sind, die Evas Freund je so nahe gekommen ist, selbst wenn Sie ihn nicht gesehen haben. Machen Sie sich keine Gedanken wegen des Versteckspiels hinter der Hecke und allem anderen. Glauben Sie mir, wir hören sehr viel merkwürdigere Geschichten als diese. Würden Sie unterschreiben, wenn wir einfach alles in ein Protokoll packen? Weil wir dieses Indiz möglicherweise sehr dringend brauchen werden.«
»Also schön, einverstanden«, sagte Jones. »Ich habe nichts dagegen. Meinetwegen auch das Verstecken hinter der Hecke. Sie müssen mich für sehr ichbezogen halten. Oder besessen von Eva. Aber Eva ist tot, und wie Sie selbst sagen, ich habe den Wagen gesehen. Ich schätze, ich hätte Ihnen gleich davon erzählen sollen, als Sie zum Foot to the Ground gekommen sind. Aber ich habe mich für mein Verhalten geschämt. Ich unterschreibe eine Aussage.« Er zögerte. »Es tut mir leid, dass ich es nicht sofort gesagt habe. Ich bin froh, dass ich es jetzt getan habe.«
»Ich auch, David, ich auch«, erwiderte Jess.
Er sah für den Augenblick erleichtert aus. Er spielte mit dem Kaffeebecher. »Ihr … Ihr Bruder«, begann er unerwartet. »Der in den Flüchtlingslagern arbeitet. Ich schätze, Sie hören nicht so oft von ihm, oder?«
Sie hatte einen Fehler begangen. Sie hätte sorgfältiger nachdenken müssen, bevor sie einem möglichen Zeugen etwas Persönliches von sich selbst erzählte. Insbesondere einem Zeugen, den sie noch nie zuvor gesehen und der mit dem Opfer zusammen im gleichen Betrieb gearbeitet hatte. Dadurch hatte sie eine Verbindung geschaffen – eine gefährliche Sache, die Art von Fehler, vor der sie gewarnt worden war während ihrer Ausbildung und gegen die sie eigentlich eine automatische Sicherung eingebaut haben sollte. Manchmal zahlte es sich aus, sich bei Ermittlungen freundlich zu geben. Doch ein Ermittlungsbeamter gab nie etwas von sich preis, und genau das hatte sie getan, indem sie David Jones von ihrem Bruder erzählt hatte.
Der Fairness halber musste gesagt werden, dass er bisher keine Anstalten machte, dieses Wissen einzusetzen, um sie zu manipulieren. Doch das konnte sich ganz schnell ändern.
»Nicht oft«, antwortete sie in neutralem Tonfall, während sie die kalten Reste ihres eigenen Kaffees trank.
Jones runzelte die Stirn. »Was sagen Ihre Eltern dazu? Sind sie noch am Leben? Ihre Eltern?«
Er wurde aufdringlicher. »Sie haben sich damit abgefunden.«
Was nicht stimmte. Ihr Vater gab sich stoisch, doch das bedeutete nicht, dass es ihm nichts ausmachte oder er sich nicht sorgte. Ihre Mutter sorgte sich ununterbrochen. Jess sorgte sich ebenfalls. Simon war ihr Zwilling.
»Warum fragen Sie?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage, in dem Versuch, die Unterhaltung wieder an sich zu reißen. Sie war schließlich diejenige, die hinter dem Schreibtisch saß. Sie war die Ermittlerin, sie leitete das Verhör, sollte es erforderlich werden. Dieser junge Mann ihr gegenüber war ein Zeuge und möglicherweise ein Verdächtiger. Noch während sie dies dachte, kam ihr ein weiterer unerwünschter Gedanke. Er muss schon Ende zwanzig sein, auch wenn er aussieht, als wäre er gerade erst aus dem Teenageralter heraus.
Jones war krank gewesen, und manchmal bewirkte eine Krankheit eine unerwartete Veränderung des äußeren Erscheinungsbilds, nicht nur Gewichtsverlust und Veränderung der Haarfarbe oder -dichte, sondern auch Alterung oder – in Jones’ Fall – das Gegenteil. Er war nur ein paar Jahre jünger als sie selbst, doch sie musste sich diese Tatsache immer wieder ins Gedächtnis rufen. Er ist kein Junge mehr. Er ist ein Mann.
Julia Jones hingegen sah ihren Sohn bestimmt nicht als Mann. Ihr panischer Anruf beim Familienanwalt hatte das gezeigt.
David beobachtete sie währenddessen unablässig, und sie überkam ein eigenartiges Gefühl, als würde er ihre Gedanken lesen. Ich darf ihn nicht unterschätzen!, sagte sie sich. Er hat Medizin studiert und gelernt, Symptome zu lesen und herauszufinden, was ein Patient vor ihm verbarg oder selbst überhaupt noch nicht wusste. Jede noch so kleine verräterische Spur: das Zucken eines Muskels, die Textur der Haut, die nervösen Hände, alles erzählte ihm eine Geschichte. Es gab eine Reihe von Parallelen zu ihrer eigenen Ausbildung. Einen Zeugen zu beobachten war nichts anderes als einen Patienten zu studieren. Sie hatte David Jones studiert, seit er sie auf dem Parkplatz angesprochen hatte. Er hatte seinerseits sie studiert. Ihre Unruhe nahm zu.
»Ich bin ein Einzelkind«, sagte er unvermittelt, und sein Verhalten war plötzlich so viel entspannter, dass es Jess genauso deutlich spürte, als hätte sich die Raumtemperatur geändert.
»Sie meinen, dass sich Ihre Mutter aus diesem Grund stärker um Sie sorgt?«
»Das zum einen«, räumte er ein. Inzwischen sprach er beinahe so, als rede er über eine andere Person und nicht über sich selbst. Die Vernehmung war plötzlich zu einer Konferenz geworden. Er und sie unterhielten sich wie Gleichgestellte, wie Kollegen, die über eine schwierige Diagnose diskutierten. »Zum anderen denke ich, es liegt daran, dass Eltern, die nur einen einzigen Nestling haben, von diesem erwarten, dass er hoch fliegt, wirklich richtig hoch, wenn er flügge wird. All ihre Hoffnungen und Sehnsüchte ruhen in diesem einen menschlichen Wesen. Dieses eine Kind muss etwas erreichen, oder sie haben als Eltern versagt.«
»Das würde ich nicht so sehen!«, widersprach Jess energisch. Was bildete sich dieser Kerl ein? Eben noch ein nervenkranker Zeuge und jetzt ein Dr. Freud?
»Oh doch, glauben Sie mir«, sagte Jones ironisch. Er bückte sich, um seinen Helm aufzuheben. »Ich muss wieder zurück zum Foot to the Ground. Auf mich wartet Arbeit und auf Sie ganz bestimmt auch.«
»Ich brauche Sie trotzdem noch für eine schriftliche Aussage wegen des silbernen Wagens«, erinnerte sie ihn. »Ich bringe Sie zu Detective Constable Stubbs, und Sie können ihm alles erzählen. Es dauert nicht lang, keine Sorge.«
»Also schön, einverstanden«, sagte er großzügig. Sämtliche Anspannung war von ihm gewichen wie die Luft aus einem Reifen. Die Sitzung auf der Couch des Psychotherapeuten war erfolgreich gewesen.
Ich frage mich, ob ich den falschen Beruf ergriffen habe, dachte Jess.
»Wir können diesen jungen Mann nicht von der Liste der Tatverdächtigen streichen«, sagte Carter, nachdem er Jess’ Bericht zu Ende angehört hatte. »Er ist psychisch instabil, und er war trotz aller gegenteiligen Beteuerungen besessen von diesem Mädchen. Er sagt, er habe sich hinter dieser Hecke versteckt, um zu sehen, wer Eva abholt, weil er sich Sorgen um sie gemacht habe. Doch das ist die übliche Ausrede bei Stalkern. ›Ich wollte ihr nichts tun. Ich habe in ihrem besten Interesse gehandelt, weil ich mir Sorgen gemacht habe‹ – diesen und ähnliche Sprüche kennen ich und Sie zur Genüge.«
»Ja, sicher«, stimmte Jess zweifelnd zu. »Trotzdem. Irgendwie kann ich mir schlecht vorstellen, dass er Eva etwas angetan haben soll.«
»Vielleicht hatte er nicht die Absicht. Wir behalten ihn im Auge. Wie sind Sie in London vorangekommen?«
Jess fasste ihre Abenteuer kurz zusammen. »Ich weiß nicht, ob Burton nur im Immobilienmarkt tätig war. Dort sieht es im Moment gar nicht so gut aus, habe ich Recht? Jedenfalls steht das in den Zeitungen, die ich lese.«
»Wenn sie zum richtigen Zeitpunkt investiert haben, was anzunehmen ist, dann müssen sie sich meiner Meinung nach keine großen Sorgen machen«, entgegnete Carter. »Er wird zweifelsohne noch weitere geschäftliche Projekte verfolgt haben, um sich zu diversifizieren. Er war allem Anschein nach ein sehr reicher Mann. Wir werden seine übrigen Aktivitäten aufdecken, auch wenn es eine Weile dauern kann. Vielleicht ist er jemandem auf die Füße getreten.«
»Armstrong meint, Burton habe sich aus einer einfachen, ärmlichen Kindheit nach oben gearbeitet. Vielleicht war es jemand aus Burtons Vergangenheit. Wir haben immer noch keine Angehörigen gefunden. Sie können uns sicherlich mehr über den Mann erzählen – woher er kommt, wie er seine ersten Reichtümer erworben hat und dergleichen. Bis jetzt hat sich niemand gemeldet, aber es muss jemanden geben, ein Familienmitglied.«
»Manche Menschen haben niemanden.« Carter straffte die Schultern. »Alle direkten Verwandten sind gestorben, und mit den weiter entfernten haben sie nie in Verbindung gestanden. Sie sind Einzelgänger. Burton hatte allerdings einen einheimischen Anwalt, der auch als Nachlassverwalter fungiert. Er hat sich gestern bei mir gemeldet, während Sie in London waren. Er hatte versucht, seinen Mandanten zu kontaktieren, und als er keinen Erfolg hatte, ist er bei seinem Haus vorbeigefahren. Dort hatte er auch kein Glück, also setzte er sich mit Burtons Putzfrau in Verbindung. Von ihr erfuhr er, dass Burton tot ist und die Polizei ermittelt. Er ist begierig darauf, mit uns zu reden, das heißt, mit Ihnen. Er sagt, dass Sie sich bereits kennen.«
»Tatsächlich?«, fragte Jess verblüfft.
»Wie es aussieht, waren Sie bei seiner Frau. Sein Name ist Foscott. Reginald Foscott. Ich habe seine Visitenkarte hier, falls Sie ihn anrufen und nicht zu ihm nach Hause fahren wollen.« Carter zog eine kleine weiße Karte hervor und hielt sie Jess hin.
»Wer hätte das gedacht?«, sagte sie laut, während sie die Karte entgegennahm. »Reggie Foscott!«
»Ich dachte mir, dass es Sie überraschen würde«, entgegnete Carter mit undurchdringlicher Miene.
»Ah, Inspector Campbell. Ich denke, wir kennen uns bereits«, sagte Foscott, indem er sich von seinem Platz hinter dem Schreibtisch erhob und eine lange, schlanke Hand ausstreckte.
Jess ergriff sie. Sein Händedruck war so schlaff, als habe er keine Knochen – ein Eindruck, den Foscott bei näherer Betrachtung insgesamt erweckte. Zuvor, bei ihrem Zusammentreffen in seinem Haus, hatte sie lediglich den Eindruck eines großen, dünnen, schlaksigen Mannes gehabt. Jetzt fühlte sie sich unwillkürlich an Munchs Gemälde »Der Schrei« erinnert.
Foscott lud sie ein, doch bitte Platz zu nehmen. Jess tat, wie geheißen, und fand sich auf einem jener Besucherstühle wieder, deren sogenannte »Rückenlehnen« sich an der schmerzhaftesten Stelle in das Kreuz des Besuchers drückten. Sie war gezwungen, aufrecht zu sitzen, alles andere als bequem, um nicht die Lehne zu berühren. Ein viktorianischer Schullehrer hätte seine wahre Freude gehabt. Woran lag es nur, sinnierte sie, dass die Foscotts weder zu Hause noch auf der Arbeit imstande schienen, Besuchern einen halbwegs bequemen Sitzplatz anzubieten?
»Ich freue mich, dass Sie gekommen sind«, intonierte Foscott. »Zu schade, dass wir, als Sie meine Frau besuchten, noch nicht ahnen konnten, dass Ihre Ermittlungen meinen Mandanten – meinen verstorbenen Mandanten, wie ich vielleicht hinzufügen sollte – Lucas Burton …« Über seine Gesichtszüge huschte ein eigenartiger Ausdruck, und Jess stellte überrascht fest, dass er grinste. »… obwohl, der Mandant eines Anwalts ist auch nach seinem Tod in der Regel noch sein Mandant, nicht wahr?«
Gütiger Himmel, Reggie Foscott hatte einen Witz gerissen. Der humorvolle Foscott brachte sie fast noch mehr aus der Fassung als der ernste. Wie dem auch sein mochte, Jess gelangte sehr schnell zu der Erkenntnis, dass sein Anflug von schwarzem Humor nur vorübergehend gewesen war. Wahrscheinlich brachte er diesen Kalauer jedes Mal, wenn er es mit Angehörigen von Verstorbenen zu tun hatte, um sie ein wenig zu beruhigen.
Wie zur Bestätigung nahm sein Gesicht rasch wieder den vertrauten düsteren Ausdruck an. »Kommen wir zum Geschäftlichen«, sagte er nüchtern.
Jess beschloss, das Kommando zu übernehmen. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen, mich zu empfangen, Mr. Foscott«, begann sie. »Und dafür, dass Sie die Polizei überhaupt informiert haben. Wir stoßen auf einige Schwierigkeiten in unseren Bemühungen, einen nächsten Angehörigen von Mr. Burton zu finden. Wir hoffen, dass Sie uns weiterhelfen können.«
Foscott legte die Fingerspitzen zusammen. »Ah … ganz recht. Leider nein, nein, ich kann Ihnen da auch nicht weiterhelfen, wenigstens nicht im Augenblick. Ich hatte im Gegenteil gehofft, Sie hätten diesbezüglich ein paar Informationen für mich.«
Jess wurde bewusst, dass sie ihn angaffte, und sie riss sich hastig zusammen. »Mr. Burton war ein Geschäftsmann mit einer Reihe profitabler Unternehmungen. Wir dürfen davon ausgehen, dass es ein Testament gibt?«
»Es gab ein Testament«, verbesserte Foscott sie. »Jetzt gibt es keins mehr, und genau das ist, wie Sie verstehen werden, das Problem und der Grund, aus dem ich verzweifelt nach den nächsten Angehörigen von Mr. Burton suche. Oder nach sonst irgendjemandem, der einen Anspruch auf das Erbe erheben könnte. Weil andernfalls alles an die Krone geht. Wie Sie richtig sagten, es ist ein beträchtliches Vermögen. Zwei wertvolle Wohnimmobilien, dazu kostbare Antiquitäten und Sammlerstücke, die sonstigen persönlichen Dinge … hinzu noch die Gelder auf diversen Bankkonten, die laufenden Investments et cetera perge perge. Es wird eine Zeit lang dauern, bis ich alles entwirrt und herausgefunden habe, wo die einzelnen Werte stecken, und bis ich mich mit dem Schätzbeamten über die Steuer geeinigt habe. Ein Teil seines Vermögens ist mit großer Wahrscheinlichkeit im Ausland angelegt.«
»Kein Testament?« Jess runzelte die Stirn. »Aber es gab ein Testament, ist es das, was Sie mir sagen wollen? Was ist damit passiert?«
»Ich habe es vernichtet, auf Instruktion meines Mandanten hin. Es gab einen guten Grund dafür. Lassen Sie mich erklären. Mr. Burton war einer von jenen sehr reichen Männern, die niemanden haben, dem sie ihr Geld hinterlassen können. Er war unverheiratet, das heißt geschieden, und er hatte keine Kinder. Er stand nicht in Verbindung mit irgendwelchen Verwandten. Er meinte zwar, er habe keine, aber meiner Erfahrung nach gibt es fast immer den einen oder anderen. Vielleicht eine Person, die der Erblasser noch nie gesehen hat oder von deren Existenz er nichts ahnt. Ein entfernter Cousin in Australien beispielsweise. Nichtsdestotrotz gibt es im Allgemeinen einen nächsten Angehörigen.«
Ja. Ja, Carter hatte Unrecht. Menschen mochten gelegentlich denken, sie hätten keine Angehörigen, doch eine Suche im Stammbaum der Familie führte manchmal zu einer ganzen Schar unvermuteter Verwandter. Genau das war allem Anschein nach Foscotts Problem.
Der merkwürdige, flüchtige Ausdruck huschte erneut über sein Gesicht. »Manchmal stellen wir fest, dass der gesuchte Erbe das schwarze Schaf der Familie ist, dessen Name aus den Annalen gestrichen und nie wieder laut ausgesprochen wurde. Bei Familien kann man sich so gut wie sicher sein, Inspector, dass sie die eine oder andere Überraschung bereithalten. Ein Todesfall, eine Beerdigung und vor allen Dingen ein letzter Wille – all das bringt diese Überraschungen, diese Geheimnisse zurück ans Licht.«
Sein Ausflug in die Ungezwungenheit war vorüber. Seine Gesichtszüge nahmen die gewohnte düstere Schwermut an, und es stand ihm tatsächlich viel besser.
Frohsinn ist allem Anschein nach nicht dein Ding, Reggie!, dachte Jess.
»Mr. Burton hat mir gegenüber erklärt, dass seine Ehe eine Jugendsünde war und nur achtzehn Monate gehalten hat. Er und seine junge Frau haben sich einvernehmlich getrennt. Sie hatten über die Jahre sporadischen Kontakt. Sie hat erneut geheiratet und sich erneut scheiden lassen. Ihr Name war Janice Grey, nach ihrem zweiten Ehemann. Sie hat ihn behalten. Ich glaube, er hat sie hin und wieder zum Essen ausgeführt, wenn er in London war. Er scheint auf eine eigenartige, beinahe rührende Weise Verantwortung für sie empfunden zu haben. Und so hat er sie in seinem Testament als seine Alleinerbin benannt. Wenn ich mich recht entsinne, waren seine Worte: ›Warum nicht? Janice soll alles haben.‹«
Foscotts Tonfall war missbilligend angesichts der großmütigen Art und Weise, wie sein Mandant dieses riesige Vermögen einfach abgetan hatte.
»Ich schlug vor, dass er einen zweiten Erben benennen sollte, für den Fall, dass Janice Grey vor ihm verstirbt. Eine Wohltätigkeitsorganisation beispielsweise, oder irgendeine andere Institution. Mr. Burton reagierte mit sehr deftigen Bemerkungen auf das Thema Wohltätigkeitsorganisation. Kurz gesagt, er wollte auf gar keinen Fall eine derartige Klausel in seinem Testament. Janice Grey sei drei Jahre jünger als er, sagte er, woraus ich schloss, dass sie zum Zeitpunkt der Eheschließung erst sechzehn Jahre alt gewesen war. Kein Wunder, dass die Ehe nicht lange gehalten hat! ›Janice ist gesund und fit‹, sagte Burton. ›So zäh wie ein alter Knobelbecher.‹ Vielleicht nicht sehr galant, aber ein ermutigender Gedanke, wenn man einen Erben benennen muss.
Sie mag von robuster Gesundheit gewesen sein, doch es nutzte ihr nichts. Vor sechs Monaten verlor sie bei einem Autounfall das Leben. Mr. Burton kam zu mir. Er war sehr aufgebracht. Völlig außer sich, das einzige Mal, dass ich ihn so gesehen habe, wenn ich das erwähnen darf. Er instruierte mich, das Testament augenblicklich zu vernichten, und er gab mir seine Kopie, damit ich sie ebenfalls vernichte.«
»Also musste er sich nach einem neuen Erben umsehen«, sagte Jess nachdenklich.
»Ganz recht. Ich wies ihn darauf hin, dass er baldmöglichst mit dem Aufsetzen eines neuen Testaments anfangen sollte. Ich wollte nicht klingen, als wäre ich scharf aufs Geschäft, aber ich dachte, nachdem Mr. Burton sein vorhergehendes Testament vernichtet hatte, würde er mir zu gegebener Zeit den neuen Erben mitteilen. Ich machte ihn so zartfühlend, wie ich konnte, auf die delikate Natur des Schicksals aufmerksam. Zum Zeitpunkt unserer Unterhaltung war Mr. Burton sechsundvierzig Jahre alt. Ich nannte den Tod von Janice Grey als Beispiel.
›Drängen Sie mich nicht, Foscott!‹, lautete seine Erwiderung. ›Lassen Sie mich in Ruhe darüber nachdenken. Ich melde mich wieder bei Ihnen.‹ Und genau das hat er nicht getan.«
An dieser Stelle unterbrach Foscott seinen Bericht und lehnte sich zurück, während er auf einen Kommentar von Jess wartete.
»Sie haben versucht, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, und von seiner Putzfrau erfahren, dass er tot ist«, sagte Jess. »Oder wenigstens haben Sie das Superintendent Carter so zu verstehen gegeben.«
Foscott neigte gesalbt den Kopf. »In der Tat. Ich hatte angefangen, mir Sorgen zu machen. Wenn Mandanten beginnen, Dinge zu verschieben, verliert die Zeit ihre Bedeutung für sie. Im Fall von Lucas Burton waren bereits sechs Monate vergangen, und aus sechs Monaten wird ein Jahr, ehe man sich’s versieht, und dann zwei. Die Aussicht, dass mein Mandant ohne Testament verscheiden könnte, war ein bürokratischer Alptraum. Unglücklicherweise ist es genau so gekommen. Wir haben auch andere Angelegenheiten für Mr. Burton geregelt. Diese Kanzlei verfügt über eine eigene Abteilung, die sich mit Eigentumsübertragungen befasst. Unser Sachbearbeiter hat den Kauf des Hauses in Cheltenham abgewickelt, und wir verwahren die Besitzurkunde von Mr. Burton, zusammen mit anderen Dokumenten privater und geschäftlicher Natur. Er mochte es nicht, sensibles Material zu Hause herumliegen zu haben. Jetzt müssen wir wohl oder übel an der Auflösung der wirren Situation arbeiten, die durch Mr. Burtons frühzeitiges Dahinscheiden entstanden ist.«
Einen Augenblick lang saßen beide schweigend da. Jess dachte nach. Das ist also der Grund, warum wir keinen Wandsafe gefunden haben. Burton hat einfach alles in einen Umschlag gesteckt und zu seinem Anwalt gebracht. Zu öffnen im Fall meines Todes, oder etwas Ähnliches. Foscott trommelte die Fingerspitzen gegeneinander und sah sie ausdruckslos an.
»Lucas Burton war sechsundvierzig Jahre alt«, sagte Jess schließlich. »Er hat seinen Reichtum nicht über Nacht erworben. Wäre es nicht möglich, dass es ein älteres Testament gibt, eines, das nicht von Ihnen aufgesetzt wurde? Vielleicht ein Testament, das er in London geschrieben hat, vor mehr als zwanzig Jahren, auf einem von diesen Formularen, die man bei seiner Bank bekommen kann?«
»Wir halten nichts von diesen Formularen«, antwortete Foscott und sprach wahrscheinlich für seinen gesamten Berufsstand.
»Aber es könnte existieren. Es könnte irgendwo herumliegen«, beharrte Jess. »Da Sie auf seine Anweisung hin das spätere Testament vernichtet haben … würde das nicht bedeuten, dass ein hypothetisches früheres Testament wieder gültig ist?«
Foscott erschauerte. »Das wäre durchaus möglich, wenn es ans Licht käme. Glauben Sie nicht, dass ich mir dieser Möglichkeit nicht bewusst wäre, Inspector. Aus diesem Grund habe ich ihn auch ausdrücklich gefragt, als ich das Testament zu Gunsten von Janice Grey aufgesetzt habe, ob es ein früheres Testament gäbe, von dem ich wissen sollte. Ich wies ihn darauf hin, dass er es in diesem Fall vernichten müsste. Begünstigte mit einem alten Testament in der erhobenen Faust, die Anspruch auf ein Erbe erheben, sind in meinem Fach nicht ungewöhnlich. Sie reagieren im Allgemeinen sehr ungehalten, wenn sie erfahren, dass es ein neueres Testament gibt, in dem sie nicht mehr bedacht werden. Damals machte ich einen kleinen Scherz darüber. Ich erinnerte Mr. Burton daran, dass der Streit um alte Testamente die Grundlage für zahlreiche, äh, Detektivgeschichten von der Sorte bildet, wie Agatha Christie sie geschrieben hat. Er versicherte mir, dass es kein derartiges Testament gäbe.«
Oje, Reggie, dachte Jess. Du und deine verunglückten Scherze. Wie oft hast du diesen »Witz« über Agatha Christie schon erzählt? »Wer war der Testamentsvollstrecker? Des Testaments, das Sie vernichtet haben?«, fragte sie laut.
»Seine Bank.«
»Wir können Ihnen nicht helfen, Mr. Foscott«, sagte Jess. »Zumindest nicht in dieser Hinsicht. Wir hoffen trotzdem, dass Sie imstande sind, uns Informationen zu geben, die uns nützlich sind. Mr. Burton ist eines gewaltsamen Todes gestorben. Wir gehen davon aus, dass es Mord war.«
»Sein Name stand heute Morgen in den Zeitungen«, entgegnete Foscott missbilligend. »Die Berichte bestätigen, was die Putzfrau mir bereits gesagt hat. Ich nahm an, dass die verspätete Freigabe von Einzelheiten damit zusammenhängt, dass die Polizei nach Angehörigen sucht. Das macht uns zu Verbündeten, Inspector. Ich habe mich augenblicklich mit Superintendent Carter in Verbindung gesetzt.«
»Vielleicht liest ein Angehöriger den Bericht und meldet sich bei uns. Es wäre eine Möglichkeit.«
»Ich wäre nicht weiter überrascht …«, sagte Foscott schroff, »… wenn sich ein halbes Dutzend sogenannter ›Angehöriger‹ meldete, und allesamt falsch. Ein sehr reicher Mann stirbt. Die Umstände sind mysteriös. Reporter suchen immer nach einer trauernden Witwe oder Freundin oder Exfreundin, vorzugsweise von der attraktiven, photogenen Sorte. Sollten sie feststellen – was sie sicherlich sehr bald tun –, dass er ein Einzelgänger ohne bekannte Angehörige war, dann wird dies eine ganz bestimmte Sorte von Leuten anziehen, die alle versuchen, Ansprüche geltend zu machen. Nichtsdestotrotz müssen wir Anzeigen in der Zeitung aufgeben, in denen wir jeden bitten, sich zu melden, der glaubt, Ansprüche zu haben. Falls sich jemand meldet, werden wir selbstverständlich mit großer Sorgfalt prüfen, ob seine Behauptungen zutreffen. Darauf können Sie sich verlassen, ich gebe Ihnen mein Wort.«
Foscott legte die Hand vor den Mund und räusperte sich. »Äh … es gibt da noch ein weiteres Problem.«
»Ja?«, fragte Jess niedergeschlagen.
»Sein Name. Er hieß nicht immer Lucas Burton.«
»Wie bitte?«
Foscotts Augen glitzerten. Sie war sicher, dass er diesen Moment genoss, trotz der Probleme, die sein verstorbener Mandant ihm bereitete.
»Ganz recht. Er wurde als Marvin Crapper geboren. Er hat den Namen einige Jahre vor seinem Umzug nach Cheltenham durch einseitige Rechtserklärung abgelegt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits angefangen Geld zu verdienen, und war sozial aufgestiegen. Der Kauf des Hauses hier in Cheltenham war etwas Symbolisches für ihn. Er glaubte, sich damit irgendwie zu etablieren. Vielleicht befürchtete er, sein alter Name könnte ein falsches Image ausstrahlen unter den neuen Umständen. Wie dem auch sei, er wurde zu Lucas Burton.«
Jess lehnte sich zurück und nahm sich ein paar Augenblicke Zeit, um über die Information nachzudenken. Foscott lächelte ihr wohlwollend zu.
Jetzt mussten sie also nicht nur Lucas Burtons Vergangenheit untersuchen, sondern auch die eines gewissen Marvin Crapper. Ihr kam ein Gedanke.
»Er war sicherlich gut betucht, keine Frage. Es wird eine Weile dauern, sein Erbe zu ordnen. Ich war in seinem Haus in Cheltenham und in seiner Wohnung in London. Das Haus in Cheltenham ist vollgestopft mit Antiquitäten, genau wie Sie erwähnten. Die Wohnung in den Docklands ist modern eingerichtet, aber auch das sind zweifellos alles Designerstücke, nicht gerade billig. Und es gibt eine Reihe von Gemälden. Ich kenne mich nicht aus mit moderner Kunst, aber ich bin sicher, dass es Originale sind. Das Inventar muss wahrscheinlich geschätzt werden, oder? Sein gesamter Besitz, meine ich, auch sein Wagen. Er fuhr sicher einen teuren Wagen, oder?«
»Ich fürchte, ich habe keine Ahnung«, antwortete Foscott noch immer lächelnd. »Zweifellos haben Sie Recht, was den Wagen angeht.«
Ha! Reggie Foscott war auf der Hut. Er hatte bemerkt, wohin Jess’ sorgfältig formulierte Worte führten, und ihr elegant den Weg abgeschnitten. Falls Foscott gewusst hatte, dass Burton einen silbernen Mercedes fuhr, und falls Selina ihrem Mann auf ihre typische, wortreiche und blumige Weise von dem Beinaheunfall mit einem solchen Wagen bei der Ausfahrt des Reitstalls erzählt hatte – und davon ging Jess aus –, dann hatte sich Foscott vielleicht schon gefragt, ob sein Mandant in die Sache verwickelt war.
Doch vielleicht war sie unfair gegenüber Reggie Foscott. Es gab nicht den geringsten Grund, warum er hätte wissen müssen, was für einen Wagen Burton fuhr.
Ihr kam ein weiterer Gedanke. »Ein Mann wie Burton, mit einem so hohen Einkommen, hat doch sicherlich einen persönlichen Buchhalter, der seine Steuererklärungen für ihn erledigt und dergleichen Dinge?«
»Was seine geschäftlichen Investitionen angeht, so gibt es eine Kanzlei von Steuerberatern in London, deren Adresse ich Ihnen gerne gebe.« Foscott brachte die Hand vor den Mund und hüstelte diskret. »Was seine persönlichen Einkünfte angeht, ja, er hatte einen Einheimischen, der seine Buchführung gemacht und all die anderen finanziellen Dinge für ihn erledigt hat.«
»Einen Einheimischen?« Jess hörte die plötzliche Aufregung in der eigenen Stimme. »Wer ist es? Ich sollte mit ihm reden, so schnell wie möglich.«
»Es ist keine große Firma. Er arbeitet allein, aber er hat einen guten Ruf in unserer Gegend. Sein Name ist Andrew Ferris. Er arbeitet von zu Hause aus, wo er ein Büro hat. Ich kann Ihnen die Adresse gerne geben.«
Foscott war offensichtlich immer für eine Überraschung gut. Jess ordnete in Gedanken ihre bisherigen Informationen neu, wie bei einem jener Computerspiele, wo ein Knopfdruck bunte Klötze in einem neuen Muster anordnet.
»Inspector?«, fragte Foscott unter erhobenen Augenbrauen.
Er hatte bemerkt, dass ihre Gedanken vorübergehend abgeschweift waren. Jess riss sich zusammen.
»Ja. Bitte entschuldigen Sie. Ich hatte sowieso mit Mr. Ferris reden wollen. Ich möchte ihm das Photo zeigen, das ich schon Ihrer Frau gezeigt habe«, sagte sie hastig.
»Ah, tatsächlich?«, fragte Foscott nachdenklich.
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar«, sagte Jess, indem sie sich erhob und ihren Rucksack einsammelte, »wenn Sie ihn nicht anrufen und vorwarnen würden, dass ich auf dem Weg bin.«
Foscott errötete. »Das lag nicht in meiner Absicht.«