Kapitel 11

»Nun?«, fragte Phil Morton. »Welche Neuigkeit möchten Sie zuerst hören?«

Er legte den Telefonhörer auf die Gabel zurück, als Jess das Zimmer betrat. Er sah zerzaust aus. Das war nicht ungewöhnlich, doch er war noch zerzauster als an einem normalen Tag. Jess wusste, dass er hart an diesem Fall arbeitete. Morton war ein sehr zuverlässiger Kollege, trotz seines ununterbrochenen Gebrummes bei allem, was er tat. Diesmal jedoch ging sein Eifer über den gewöhnlichen Ehrgeiz hinaus. Sie vermutete, dass er ein persönliches Interesse an dem Fall hatte. Was auch immer der Grund hinter seinem Engagement war, sie würde Carter wissen lassen, wie viel Zeit und Mühen Morton investierte. Trotzdem war seit der Entdeckung der Leiche eine Woche vergangen, und die Zeit lief ihnen immer schneller davon. Die Erinnerung der Zeugen verblasste zusehends, und andere Ereignisse würden den Mord aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verdrängen. Sie brauchten eine Spur, dringend.

»Ich nehme an, das bedeutet gute Neuigkeiten, Phil? Haben wir Fortschritte gemacht?«

»Oh, wir machen Fortschritte, keine Frage. Natürlich kommt es auf den Standpunkt an, ob die Fortschritte ausreichend sind oder nicht. Gerade hatte ich einen Anwalt namens Fairbrother am Telefon.« Er nickte in Richtung des schweigenden Apparats.

»Sollte ich den Namen kennen? Ist es ein einheimischer Anwalt?«

»Sie bekommen Gelegenheit, ihn kennen zu lernen, falls wir den Wunsch verspüren, David Jones noch einmal zu befragen. Wie es scheint, ist die Familie des jungen Mannes sehr besorgt darüber, dass unsere Fragen ihren Sohn aufregen und einen weiteren Nervenzusammenbruch zur Folge haben. Wie gesagt, falls wir ihn erneut befragen möchten, wäre Mr. Fairbrother gerne zugegen.«

Jess zog einen Sessel aus dem gegenwärtig leer stehenden Nachbarbüro herein, dessen Besitzer, Detective Sergeant Nugent, seinen Golftrolley über die Fairways des südlichen Portugal zog.

»Damit ich das richtig verstehe, Phil – Fairbrother hat uns auf wessen Bitte hin angerufen? Die von David Jones oder die seines Vaters?«

»Ich denke, sein Vater steckt dahinter, aber ich bin nicht sicher. Fairbrother hat ein wenig ausweichend auf diese Frage reagiert.« Morton blickte sie unsicher an.

»Jede Wette, dass er ausgewichen ist«, sagte Jess grimmig. »David Jones ist vor dem Gesetz erwachsen. Er hat selbstverständlich ein Recht auf die Anwesenheit seines Anwalts, wenn wir ihn einvernehmen, obwohl es mich neugierig macht, warum er glaubt, dass er einen braucht. Nichtsdestotrotz, es wäre seine Entscheidung, nicht die seines Vaters. Wäre David minderjährig, wäre das etwas anderes. Aber er ist Mitte zwanzig, mindestens, auch wenn er zugegebenermaßen jünger aussieht.«

»Mr. Fairbrother hat nicht direkt gesagt, dass er von Davids Vater beauftragt wurde, uns anzurufen«, informierte er Jess. »Er hat allerdings auch nicht gesagt, dass es Davids Idee war. Was er allerdings gesagt hat, ist, dass er im Besitz eines Attests des Hausarztes von David ist, aus dem hervorgeht, dass der Gemütszustand des jungen Mannes fragil ist.«

»Gütiger Himmel!«, entfuhr es Jess. »Was soll das denn werden? Wollen sie ihm dieses Attest auf die Brust heften? Sie wollen verhindern, dass wir ihren Sohn verhören, ohne dass der Wachhund der Familie dabei ist. Kapieren sie denn nicht, dass sie dadurch quasi mit dem Finger auf ihn zeigen? Ich bin überrascht, dass der berühmte Strafverteidiger Barney Jones die Dinge so schlecht im Griff hat, wenn es um die Interessen seines eigenen Sohnes geht.«

»Vielleicht steckt er gar nicht dahinter«, sagte Morton zweifelnd.

Jess schnippte triumphierend mit den Fingern. »Na klar, richtig, Phil! Nicht Barney war bei Fairbrother und beim Arzt, sondern seine Frau, Davids Mutter! Selina Foscott hat mich vorgewarnt, dass sie mit Julia Jones reden würde. Das hat sie getan, und dies ist das Resultat. Jede Wette, wenn ihr Ehemann herausfindet, was sie getan hat, geht er an die Decke!«

»Bis zum jetzigen Zeitpunkt haben wir noch keine Veranlassung, den jungen David Jones zur Vernehmung einzubestellen. Ich habe in der Werkstatt angerufen, wo das Forensikteam den Lieferwagen des Pubs zerlegt. Bis jetzt haben sie keinerlei Spuren von Blut oder anderen Körperflüssigkeiten entdeckt und auch keine sonstigen belastenden Indizien. Der Innenraum macht nicht den Eindruck, als wäre er in jüngster Zeit gereinigt worden. Sie haben ein paar Haare auf der Beifahrerkopfstütze gefunden, die mit großer Wahrscheinlichkeit der Toten gehören.«

Jess fauchte ungeduldig. »Das hilft uns nicht weiter, selbst wenn wir sie eindeutig zuordnen können. Warum sollten ihre Haare nicht auf dem Beifahrersitz eines Lieferwagens sein, der zu dem Laden gehört, in dem sie arbeitet? Jones muss nichts weiter tun, als behaupten, dass er sie mehrmals nach Cheltenham oder sonst wohin mitgenommen hat. Wahrscheinlich wäre es sogar die Wahrheit. Westcott hat ausgesagt, dass die beiden Mädchen ständig per Anhalter unterwegs gewesen wären. Wir brauchen Beweise, dass Evas Leiche im Wagen transportiert wurde.«

»Abgesehen davon ist Jones nicht der einzige Fahrer des Wagens«, bemerkte Morton. »Westcott fährt ihn ebenfalls. Er muss Eva unzählige Male in die Stadt mitgenommen haben. Genauso wie Mrs. Westcott. Sie hat die Mädchen wohl immer wieder gefragt, ob sie sie mitnehmen soll, nach Miladas Worten.«

»Milada?« Jess hob fragend die Augenbrauen.

»Ja, Milada.« Morton errötete. »Ich kann ihren Nachnamen nicht aussprechen. Es ist einfacher, sie beim Vornamen zu nennen.«

»Die Frage ist, was sagt sie zu Ihnen?«

Morton errötete noch stärker. »Sie nennt mich ›Sergeant‹. Aber wenn Sie hören würden, wie sie es sagt, würden Sie glauben, sie wäre hier der Superintendent und nicht Carter.«

»Gut«, sagte Jess streng. »Falls Sie vorhaben, Annäherungsversuche zu starten: Warten Sie, bis das hier vorbei ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist Milada eine wichtige Zeugin.«

»Erzählen Sie mir nicht, wie ich meine Arbeit zu machen habe!«, protestierte Morton. »Inspector, Ma’am.«

»Und kommen Sie runter von Ihrem hohen Ross, Phil. Ich erzähle Ihnen nicht, wie Sie Ihre Arbeit machen sollen, die Sie im Übrigen sehr gut machen, wie wir beide wissen. Ich mische mich auch nicht ungebührlich in Ihr Privatleben ein. Aber wir haben einen neuen Superintendent, und was wir im Moment am wenigsten gebrauchen können, ist, dass er Sie dabei überrascht, wie Sie mit einer Zeugin anbandeln.«

Mortons Empörung wich seiner üblichen Leichenbittermiene. »Eine Gelegenheit wäre schon eine feine Sache. Aber keine Angst, ich bin nicht dämlich. Zurück zum Thema, der Lieferwagen, falls es Sie interessiert. Der Handlanger, der im Moment krank ist, fährt ihn ebenfalls. Sein Name ist Robert Lawson, genannt Bert.«

»Äh, richtig.« Jess’ Miene hellte sich auf. »Ein möglicher Verdächtiger?«

Morton empfand geradezu niederträchtiges Vergnügen daran, sie zu enttäuschen. »Nein. Der Bursche hat einen Bandscheibenvorfall. Er war in den letzten zehn Tagen nicht imstande, sich zu bewegen. Ich habe ihn gesehen, und es sah echt aus. Er läuft zu Hause am Krückstock herum und steht seiner Frau im Weg, und sie hat die Nase ziemlich voll davon. Er hat Westcott ein Attest von seinem Arzt vorgelegt.«

»Was ist mit Westcott?«, fragte Jess nachdenklich. »Haben Sie mit ihm und mit seiner Frau gesprochen, als Sie dort gewesen sind?«

»Mit beiden, ja. Seine Frau heißt Bronwen, und sie ist Waliserin – keine Überraschung bei dem Namen, schätze ich. Sie ist die Köchin. Die Kellnerinnen helfen in der Küche aus, bevor die Essenszeit beginnt und die Restaurantgäste kommen. Sie putzen und schneiden Gemüse und behalten den Ofen im Auge und dergleichen. Bronwen Westcott scheint beide Mädchen gemocht zu haben. Sie ist sehr erschüttert wegen Evas Tod.«

»Wegen Evas Tod oder weil sie ermordet wurde?«

»Beides!«, sagte Morton prompt. »Sie sagt, sie will unter allen Umständen verhindern, dass Milada etwas Ähnliches zustößt.«

»Wäre es möglich, dass sie Schuldgefühle hat? Weil Eva etwas zugestoßen ist?«

Mortons Antwort verriet unerwartete psychologische Kenntnisse. »Die Menschen fühlen sich immer schuldig, wenn jemand gestorben ist. Wenn es jemand ist, der einem nahestand, glaubt man, dass man es irgendwie hätte verhindern können. Bronwen Westcott wünscht, sie hätte sich mehr Mühe gemacht herauszufinden, was Eva in ihrer freien Zeit anstellte. Aber die beiden Mädchen waren erwachsen, und, wie sie richtig gesagt hat, sie ist ihre Arbeitgeberin, nicht ihr Schutzengel.«

»Hm. Wie steht es mit den Stammgästen? Haben Sie mit einem von ihnen geredet?«

Morton grinste. »Westcott war gar nicht begeistert von der Vorstellung. Ich war taktvoll, oder wenigstens habe ich mich bemüht, es zu sein. Ich bin nach draußen in den Schankraum, habe mir einen Tomatensaft gekauft und mich unter die Gäste gemischt. Ich wollte ganz beiläufig über die verschwundene Kellnerin plaudern, aber mein Plan wurde durchkreuzt.«

»Oh. Wie denn das?«, fragte Jess mit erhobenen Augenbrauen.

»Harper tauchte auf und fing sofort an, zu schwadronieren, dass die Polizei ihre Zeit und das Geld der Steuerzahler verschwendet. ›Wer weiß schon, was das verdammte Mädchen in seiner Freizeit angestellt hat?‹, lauteten seine Worte. Ein charmanter Bursche.«

»Ja«, sagte Jess. »Mark Harper.«

»Er fühlt sich von uns schikaniert. Wenn wir wieder bei ihm auftauchen, will er sich bei offizieller Stelle über uns beschweren. Wie dem auch sei, er hat deutlich zu erkennen gegeben, was er von unserer Unterhaltung hielt. Als er fertig war, wollte niemand mehr mit mir reden.«

»Verdammter Mistkerl!«, schimpfte Jess. »Ich lasse diesen Kerl nicht aus den Augen. Vielleicht hat er seine ›Bekanntschaft‹ in London überredet, ihm dieses Alibi zu verschaffen.«

»Seine Trinkkumpane haben jedenfalls alle ins gleiche Horn gestoßen. Ja, sie wären Stammgäste, und nein, sie hätten den Mädchen keine sonderliche Beachtung geschenkt, die im Foot to the Ground arbeiteten. Es wären ausländische Mädchen gewesen, und eine hätte ausgesehen wie die andere. Sie könnten sie nicht auseinanderhalten. Nein, ihnen wäre nicht aufgefallen, dass eins der Mädchen verschwunden war. Schön und gut, der alte Jake hätte etwas in der Richtung erwähnt, aber sie könnten sich nicht genau erinnern, was. Sie alle gaben sich schockiert, als sie erfuhren, dass Eva ermordet wurde. Nicht einmal mehr auf dem Land wäre man sicher dieser Tage … Die Polizei würde viel zu langsam reagieren … Die Behörden würden sich nicht für die Menschen auf dem Land interessieren … Sie können sich den Rest wahrscheinlich selbst ausmalen.«

»Sie verweigern ihre Mitarbeit«, sagte Jess böse. »Absichtlich. Sie wollen nichts davon wissen und nichts damit zu tun haben.«

Morton rieb sich mit verschränkten Händen das Kinn. »Was die Frage angeht, ob Westcott selbst mit seinen Kellnerinnen herumgemacht hat – ich denke, es wäre ihm schwergefallen, ohne dass seine Frau etwas bemerkt hätte. Sie arbeiten alle unter einem Dach. Die beiden Mädchen haben auf dem Dachboden gewohnt. Milada wohnt immer noch dort. Sie ist traurig, weil Evas Bett leer ist, aber sie hat keine Angst vor Gespenstern oder dergleichen. Sie gehört zu der praktischen Sorte. Die Westcotts wohnen in einem Anbau auf der anderen Seite des Gebäudes. Man könnte einwerfen, dass Westcott dadurch Gelegenheit bekam, mit einem der Mädchen etwas anzufangen. Andererseits gibt es im Haus wahrscheinlich sehr wenig Privatsphäre. Wir wissen, dass Evas Freund mit dem silbernen Wagen sich große Mühe gemacht hat, nicht im Pub gesehen zu werden.«

Morton schnaubte leise. »Ich habe mit den Westcotts in ihrem Anbau geredet. Es sind nur zwei winzige Räume, mehr nicht. Kaum genug Platz zum Atmen. Allerdings sind die Westcotts kaum jemals dort, wie Mrs. Westcott mir gegenüber eingeräumt hat, sodass es nichts ausmacht, wenn die Räume klein sind. Die beiden arbeiten die meiste Zeit.«

»Und Sie hatten nicht das Gefühl, als würde die gute Mrs. Westcott versuchen, Ihnen einzureden, dass ihr Mann sich nicht danebenbenimmt, weil er weder die Zeit noch die Gelegenheit dazu hat?«

Morton öffnete den Mund, um zu antworten, doch in diesem Augenblick schrillte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Er riss den Hörer von der Gabel und hielt ihn ans Ohr.

»Was?« Er drehte sich in seinem Sessel zu Jess um und hielt triumphierend den Daumen in die Höhe. »Ja, richtig, danke. Sagen Sie das noch mal …« Er nahm einen Stift und kritzelte etwas auf seinen Notizblock. »Wunderbar.«

Er warf den Hörer auf die Gabel und ließ sich zu einem Grinsen hinreißen. »Wir haben ihn!«

»Wen? David Jones? Mark Harper?«

»Nein, besser als das. Wir haben Mr. Silberner Mercedes! Die Verkehrsüberwachung hat endlich alle Filme in den verschiedenen Radarfallen durchgesehen. Und was soll ich sagen – zwanzig Minuten nach vier am vergangenen Freitag ist ein silberner Mercedes auf der Cheltenham Road viel zu schnell gefahren. Er scheint so viel im Kopf gehabt zu haben, dass er den Blitz der Kamera gar nicht bemerkt hat! Sie haben die Zulassung überprüft. Der Mercedes gehört einem gewissen Lucas Burton, und hier ist die Adresse.« Er schob Jess den Notizblock hin.

»Endlich!«, sagte sie aufgeregt. »Dann lassen Sie uns beide doch Mr. Lucas Burton einen Besuch abstatten und herausfinden, was er zu sagen hat.«

Es nieselte unangenehm, als Jess und Phil Morton auf der Schwelle von Burtons Haus in Cheltenham standen und warteten, dass jemand öffnete. Das Laub der Bäume entlang der Straße nahm gelbrote Töne an, je näher der Herbst rückte. Es war eine gepflegte Wohngegend. Das eine oder andere Haus war zu Wohnungen umgebaut worden, doch die Eigentümergemeinschaften hielten die Gebäude in gutem Zustand. Nirgendwo bröckelte Putz. Die Zäune und Geländer waren in frischem Schwarz gestrichen. Am Straßenrand parkten vereinzelte Fahrzeuge, einschließlich ihrem, doch die zulässige Parkdauer war beschränkt, und wenn die Anwohner eigene Wagen besaßen, dann standen sie wahrscheinlich irgendwo in einer Garage. Burtons silberner Mercedes eingeschlossen.

»Nette Behausung«, sagte Morton mit einem Blick auf die Fassade. »Erst Harper in Lower Lanbury House und dann das hier – ich verkehre nur noch in den höchsten Kreisen. Dieser Burton scheint eine Menge Kohle zu haben. Ich frage mich, womit er seinen Lebensunterhalt verdient. Er ist nicht bei der Polizei, so viel steht fest.«

»Jemand kommt«, warnte Jess ihn.

Und tatsächlich, als Antwort auf die Türglocke waren auf der anderen Seite der polierten Holztür sich nähernde Schritte zu hören. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, gehalten von einer Sicherheitskette, und ein Gesicht spähte nach draußen. Es gehörte zu einer Frau.

Jess hielt ihren Dienstausweis hoch, sodass die misstrauischen Augen, die sie durch den Spalt hindurch musterten, ihn lesen konnten. »Inspector Campbell und Detective Sergeant Morton«, sagte sie. »Wir müssen mit Mr. Burton reden.«

»Nicht zu Hause«, antwortete die Frau prompt.

»Können Sie uns sagen, wann er wieder da sein wird?«

»Er hat keine Notiz hinterlassen«, wurden sie informiert.

Jess runzelte die Stirn. »Ob er Fersengeld gegeben hat?«, murmelte Morton neben ihr.

»Sind Sie Mrs. Burton?«, fragte Jess, obwohl sie dies für unwahrscheinlich hielt.

Ein sarkastisches Schnauben war die Antwort. »Nein, bin ich nicht. Es gibt keine Mrs. Burton. Er wohnt ganz allein in diesem Haus.«

Die Unterhaltung durch den Türspalt hindurch war nicht ganz einfach. »Vielleicht könnten Sie uns hereinlassen und uns ein paar Fragen beantworten?«, schlug Jess vor.

»Wenn Sie meinen«, sagte die Frau. »Nicht, dass ich Ihnen irgendwas über ihn erzählen könnte. Ich räume nur hinter ihm auf und mache sauber.«

Die Tür wurde zugedrückt, eine Kette rasselte, und dann wurde sie ganz geöffnet, um den Blick freizugeben auf ein stämmiges weibliches Individuum in einem blauen Arbeitskittel über einer weiten Jeans. Ihre Füße steckten in pinkfarbenen Plastikclogs. Sie war Mitte fünfzig und trug das kastanienrote Haar in einer nicht zum Alter passenden Igelfrisur. An ihren Ohrläppchen baumelten große goldene Ringe.

»Kommen Sie jetzt rein oder nicht?«, fragte die Frau.

Jess verbarg ihre Erleichterung. Ja, sie wollten rein und sich ein wenig umsehen, doch sie hatten keinen Durchsuchungsbeschluss, und in Abwesenheit von Burton hätten sie sich ohne Einladung von befugter Seite keinen Zutritt verschaffen können.

Die nächsten Worte der Frau erklärten ihre offensichtliche Gastfreundlichkeit. »Wenn Sie noch länger auf der Schwelle stehen bleiben, regnet es rein, und das gute Parkett wird nass.«

»Oh, richtig«, sagte Jess. Hastig traten sie und Morton ein, und die Tür wurde prompt geschlossen.

»Ich muss es polieren«, sagte die Frau vorwurfsvoll.

»Ich verstehe. Ihr Name ist …?«, fragte Jess.

»Pardy. Mrs. Sandra Pardy. Ich arbeite seit fünf Jahren für Mr. Burton.«

»Ein hübsches Haus, in dem Sie da arbeiten«, beobachtete Morton mit einer ausholenden Geste.

»Es hat zu viele Treppen für meinen Geschmack«, erwiderte Mrs. Pardy. »Und die Decken sind zu hoch. Ich steige nicht gerne auf eine Leiter, aber man muss auf eine Leiter, wenn man die Spinnweben aus den Ecken fegen will. Ich hab Mr. Burton gesagt, dass ich nicht gern auf Leitern steige. Mir wird schnell schwindlig.«

»Ja …«, murmelte Morton und sah Mrs. Pardy an wie eine sachverständige Kollegin in der Kunst des Jammerns. »Das glaube ich Ihnen gerne.«

»Meine Knie sind nicht mehr so gut wie früher«, fuhr sie fort. »Und feuchtes Wetter wie heute tut ihnen überhaupt nicht gut. Was wollten Sie von mir wissen?«

»Sie sagten, Ihr Arbeitgeber, Mr. Burton, hätte Ihnen keine Notiz hinterlassen? Heißt das, Sie glauben, dass er verreist ist? Hinterlässt er normalerweise eine Notiz, wenn er länger fort ist?«

»Er hinterlässt überall Notizen, im ganzen Haus!«, sagte Mrs. Pardy. »Möchten Sie mit in die Küche? Ich wollte mir gerade einen Becher Tee aufbrühen.«

Sie folgten Mrs. Pardy durch den Flur und bewunderten das blaue und gelbe Dekor und die sauberen weißen Gesimse, bis sie sich in einer großen, sehr gut ausgestatteten Küche wiederfanden. Jede Oberfläche glänzte. Der Raum sah aus wie eine von jenen falschen Küchen im Ausstellungsraum eines Möbelgeschäfts. Lag es daran, fragte sich Jess, dass Mrs. Pardy eine so tüchtige Putzfrau war? Oder eher daran, dass in diesem Haus kaum jemals gekocht wurde?

»Kochen Sie für Mr. Burton?«, fragte Jess, während sie und Morton an einem Kiefernholztisch Platz nahmen, der wie neu aussah und leer war, bis auf eine gefaltete Ausgabe einer Boulevardzeitung.

»Nein, hier kocht niemand. Er auch nicht.« Sie schaltete den elektrischen Wasserkocher ein. »Ich würd Ihnen ja ein paar Schokokekse anbieten, aber ich schätze, er hat sie alle aufgegessen. Normalerweise rührt er meine Kekse nicht an. Aber ich weiß, dass ich eine frische Packung da oben drin hatte.« Sie zeigte auf einen Schrank über ihren Köpfen. »Ungeöffnet. Ich hatte sie mir aufgehoben. Jetzt ist sie leer, aber ich habe die Verpackung in seinem Arbeitszimmer im Papierkorb gefunden. Am Montagmorgen war das. Ich hab ihn nicht gesehen. Er hat das Haus verlassen, bevor ich gekommen bin. Hat keine Notiz für mich dagelassen, wie er es sonst immer macht.«

»Wo isst er denn?«, fragte Morton.

»Er geht in ein Restaurant, oder er lässt sich etwas nach Hause liefern. Ich finde die silbernen Schachteln im Mülleimer. Manchmal stinkt es in der Küche nach Curry, wenn ich komme. Er mag indisches und chinesisches Essen. Manchmal lässt er sich auch eine Pizza bringen. Aber meistens geht er aus zum Essen. Er kann es sich leisten. Er hat jede Menge Geld.«

Jess überlegte melancholisch, dass Burton sich mehr oder weniger genauso ernährte wie sie selbst. Sie kochte ebenfalls nicht zu Hause, jedenfalls nichts, was der Rede wert gewesen wäre. Ihr Mülleimer war im Allgemeinen vollgestopft mit Aluminiumschachteln und Pizzakartons, die Schränke mit Fertigsoßen im Glas. Im Gegensatz zu Burton jedoch konnte sie es sich nicht leisten, oft in ein Restaurant essen zu gehen.

»Sie kommen jeden Tag zum Reinigen her?«, fragte Morton stirnrunzelnd. »Was machen Sie denn …«

Jess trat ihm unter dem Tisch gegen den Knöchel. Es war wenig geschickt, Mrs. Pardy zu verärgern, indem man den Verdacht äußerte, ihre Arbeit wäre ein Ruheposten.

»Ich komme montags, mittwochs und freitags«, antwortete die Putzfrau, während sie den Tee in Becher schenkte. »Nehmen Sie Zucker? An den Wochenenden arbeite ich nicht.«

»Ich werd verrückt!«, murmelte Morton mit einem Anflug von Neid.

»Wann haben Sie Mr. Burton zum letzten Mal gesehen?«

Mrs. Pardy kam zu ihnen an den Tisch und schob jedem einen Becher Tee hin. Dann ließ sie sich schwer auf einen Stuhl sinken und schob die Zeitung beiseite. »Das ist sicher schon eine Woche her. Ja, letzten Freitag war es. Ich kam früh, wie immer, so gegen neun. Er hatte gerade zu Ende gefrühstückt, Cornflakes und Kaffee. Ich fragte ihn, ob ich ihm Toast machen sollte. Das tue ich manchmal, obwohl Kochen eigentlich nicht zu meinen Aufgaben gehört.«

Phil Mortons Gesicht war zum Schießen.

»Er sagte Nein, er wolle zum Mittagessen ausgehen. Gegen zehn Uhr verließ er das Haus. Das ist das Letzte, was ich von ihm gesehen habe. Immer wieder klingeln Leute an der Tür und wollen ihn sprechen, aber ich kann ihnen nicht mehr sagen als das, was ich Ihnen auch gesagt habe. Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist. Ich habe in seiner anderen Wohnung angerufen, für den Fall, dass er dort ist, um ihn zu fragen, was ich seinen Besuchern und den Anrufern sagen soll. Aber es ging niemand ran, nur der Anrufbeantworter. Ich bin kein Freund von diesen Maschinen, deswegen legte ich auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Schließlich war es nicht meine Aufgabe, mich mit ihm in Verbindung zu setzen, oder? Es ist seine Sache, mir Anweisungen zu geben und so weiter, jedenfalls wie ich das sehe.«

»Andere Wohnung?«, fragte Morton rasch und zückte sein Notizbuch.

Mrs. Pardy warf einen misstrauischen Blick auf das Notizbuch. »Sie wollen die Adresse? Es ist eine Wohnung irgendwo in London. Er benutzt sie, wenn er geschäftlich dort ist.« Sie griff nach einer geräumigen Handtasche auf dem Fenstersims neben ihrem Stuhl und kramte in ihren Tiefen. »Hier«, sagte sie, als sie Morton ein Blatt Papier reichte. »Die Telefonnummer steht ebenfalls drauf. Er hat mir diesen Zettel vor einer Ewigkeit gegeben, als er einmal volle vierzehn Tage weg war, damit ich ihm seine Briefe nachschicken und ihn anrufen konnte, falls jemand hier anrief und ihn sprechen wollte. Ich kann mich nicht erinnern, ob jemand angerufen hat. Ich hab ihm vielleicht ein oder zwei Briefe nachgeschickt. Das war vor ungefähr einem Jahr.«

Morton nahm den Zettel und las ihn mit erhobenen Augenbrauen, bevor er ihn in die Tasche steckte.

»Sind Sie sicher, dass Mr. Burton im Lauf der vergangenen Woche nicht im Haus gewesen ist? Vielleicht, während Sie nicht da waren?«, erkundigte sich Jess.

Mrs. Pardy schüttelte ihre kastanienfarbenen Stacheln, und die Ohrringe schaukelten. »Das Bett war unbenutzt. Das Bad nicht nass. Die Handtücher nicht angerührt. Keine Essensverpackungen im Müll. Die Post nicht vom Boden hinter dem Briefkastenschlitz aufgehoben. Was brauchen Sie sonst noch für Beweise?«

Die Putzfrau beugte sich mit grimmiger Miene vor. »Wenn er sich nicht bald meldet oder auftaucht, lege ich die Arbeit hin. Ich mühe mich nicht ab und kümmere mich um sein Haus, ohne dass er mich am Ende der Woche bezahlt. Das war der einzige Grund, aus dem ich heute hier war. Ich dachte, dass er vielleicht auftaucht, weil er mich am Freitag immer bezahlt.«

»Hat er Sie letzten Freitag bezahlt?«

»Oh ja, da war er ja noch hier, wie ich bereits sagte. Er bezahlt mich immer morgens, weil er in der Regel danach aus dem Haus geht, und ich mache um drei Uhr nachmittags Feierabend. Er hat mich bezahlt, wie immer, und dann ist er gegangen. Aber diesen Freitag sieht es danach aus, als hätte ich drei Tage umsonst gearbeitet.«

Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

Jess und Morton wechselten Blicke. Lucas Burton war vor einer ganzen Woche zum letzten Mal gesehen worden, am Morgen des Tages, an dem die Leiche von Eva Zelená auf der Cricket Farm entdeckt worden war. Er hatte seiner Putzfrau wie üblich den Wochenlohn gezahlt und das Haus verlassen. Alles schien völlig normal gewesen zu sein. Was war später passiert, aufgrund dessen sich das alles geändert hatte? Alles deutete darauf, dass er – aus einem bisher unbekannten Grund – auf der Cricket Farm gewesen war und in Panik die Flucht ergriffen hatte. Penny Gower hatte ihn gesehen, als er sich auf halbem Weg den Hügel hinunter zum Reitstall hinter dem Steuer seines Mercedes versteckt hatte. Selina Foscott hatte einen Zusammenstoß mit dem Mercedes nur knapp vermeiden können, und der Wagen war von einer Radarfalle geknipst worden, alles am Freitagnachmittag. Dies waren außerdem die letzten belegten Kontakte mit Burton. Seitdem blieb er verschwunden, und lediglich eine leere Schachtel Schokokekse deutete darauf hin, dass er anschließend noch einmal in seinem Haus gewesen war. Normalerweise schrieb er seiner Putzhilfe ganze Serien von Notizen, seit vergangenem Freitag keine einzige mehr.

Phil Morton leerte seinen Becher und stellte die logische nächste Frage.

»Wo ist die Garage, in der er seinen Wagen parkt?«

»Und was ist mit dieser Wohnung in London?«, fragte Morton, während sie den kurzen Fußweg zu Burtons gemieteter Garage zurücklegten. »Falls er nicht geflüchtet ist, finden wir ihn vielleicht dort.«

»Geben Sie mir diese Telefonnummer.«

Morton reichte ihr den Zettel, den er von Mrs. Pardy erhalten hatte, und Jess nahm ihr Mobiltelefon hervor und rief in London an.

»Pech«, sagte sie nach einer Weile und ließ das Handy zurück in den Rucksack gleiten. »Wir setzen uns mit der Metropolitan Police in Verbindung und bitten sie, einen Mann vorbeizuschicken, der die Wohnung überprüft. Bis dahin konzentrieren wir uns auf diese Garage und hoffen, dass sie uns mehr verrät. Falls der Wagen verschwunden ist, wissen wir, dass er ihn genommen hat. Falls er in der Garage steht, stellt sich die Frage, wo ist Burton?«

Die Garage befand sich inmitten einer Reihe weiterer fensterloser flacher Abstellräume und war mit einer Rolltür gesichert. Morton rüttelte am Griff.

»Zugesperrt. Wäre es ein Haus, würden wir sicher einen Weg nach drinnen finden. Zur Not könnten wir ein Fenster einschlagen. Aber das hier? Wir brauchen ein Brecheisen oder einen Dietrich.«

»Lucas Burton wurde von seiner Putzfrau als vermisst gemeldet«, entgegnete Jess entschieden. »Wir glauben, dass er wenige Stunden vor der Entdeckung der Leiche von Eva Zelená auf der Cricket Farm gewesen ist. Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass er verzweifelt ist. Schaffen Sie einen Schlüsseldienst herbei.«

»So, bitte sehr«, sagte der Schlosser eine kleine Weile später. »Jetzt müsste das Tor aufgehen.«

Morton trat vor und zog am Griff. Das Rolltor schwang nach oben. Das Innere der Garage wurde enthüllt, und sie genossen den Augenblick des Triumphs, als ein großer silberner Mercedes zum Vorschein kam. Doch fast im gleichen Moment hüllte sie ein widerlich süßlicher Gestank ein.

Der Schlosser stieß ein Würgen aus und wich zurück. Er erlitt einen Hustenanfall.

Sie hatten Lucas Burton gefunden. Doch er würde ihnen keine Fragen beantworten. Weder ihnen noch sonst irgendjemandem, nie wieder.