5. Kapitel

 

Wassiliew wählte als Arbeitsraum das Wohnzimmer, wo die Vorhänge zugezogen waren und Licht brannte. Als erstes ließ er sich die neun Bestandteile bringen, die er zusammenbauen würde.

»Wir brauchen einen Müllbeutel«, sagte er. Petrofski holte ihm einen aus der Küche.

»Reichen Sie mir die Teile in der Reihenfolge, die ich Ihnen angebe«, sagte Wassiliew. »Zuerst die Zigarrenkiste.«

Er brach die Banderolen auf und öffnete den Deckel. In der Kiste waren zwei Lagen Zigarren, dreizehn oben und zwölf unten; jede Zigarre steckte in einer Aluminiumröhre.

»Es müßte die dritte von links in der unteren Reihe sein.«

Sie war es. Er zog die Zigarre aus ihrer Röhre und schlitzte sie mit einem Rasiermesser auf. Zum Vorschein kam eine dünne Glasphiole, aus deren einem gewulsteten Ende zwei miteinander verflochtene Drähte ragten. Ein elektrischer Zünder. Wassiliew legte ihn beiseite. Der Rest ging in den Müllbeutel.

»Gipsverband.«

Der Verband bestand aus zwei Schichten, die zu verschiedenen Zeiten verhärtet waren. Zwischen den beiden Schichten war eine graue, flachgewalzte, kittähnliche Substanz, die haftsicher in einer Polyäthylenumkleidung steckte und rund um den Arm lief. Wassiliew brach die beiden Gipsschichten auseinander, schälte die graue Knetmasse aus ihrer Höhlung, zog die Schutzhaut ab und rollte die Masse zu einer Kugel. Ein halbes Pfund Plastiksprengstoff.

Von Lichkas Schuhen schnitt er beide Absätze ab. Aus einem kam eine Stahlscheibe zum Vorschein, zwei Zoll im Durchmesser, einen Zoll dick. Der Rand war mit einem Gewindegang versehen, und eine Seite trug eine tiefe Kerbe zum Aufsetzen eines kräftigen Schraubenziehers. Aus dem anderen Absatz kam eine flachere, zwei Zoll breite Scheibe aus grauem Metall; sie war aus Lithium, einem inaktiven Metall, das in Verbindung mit dem Polonium den Initiator bilden und die Kettenreaktion zu ihrer vollen Entfaltung bringen würde.

Die dazugehörige Poloniumscheibe kam aus dem Elektrorasierer, der Karel Wosniak soviel Kummer gemacht hatte, und war der Ersatz für das in Glasgow verlorengegangene Exemplar. Es blieben noch fünf von den eingeschmuggelten Sendungen übrig.

Das Auspuffrohr des Hanomag-Lasters enthielt ein zwanzig Kilo schweres Stahlrohr mit einem Innendurchmesser von zwei Zoll, einem Außendurchmesser von vier Zoll und einer Dicke von einem Zoll. Ein Ende war geflanscht und innen mit einem Gewindegang versehen, das andere mit einer Stahlkappe verschlossen. Die Kappe hatte in der Mitte ein kleines Loch, durch das der elektrische Zünder eingeführt werden konnte.

Aus dem Transistorradio des Ersten Offiziers Romanow zog Wassiliew den Laufzeitmechanismus, einen verkapselten Stahlbehälter, der die Länge von zwei aneinandergelegten Zigarettenschachteln hatte. Er wies auf einer Seite zwei große runde Knöpfe auf, einen roten und einen gelben; aus der anderen Seite ragten zwei farbige Drähte, plus und minus. An jeder Ecke befand sich ein ohrenförmiger Ansatz mit Loch zum Verbolzen an der Außenseite des Stahl schranks, der die Bombe enthalten würde.

Nun nahm Wassiliew sich den Feuerlöscher aus Herrn Lundquists Saab vor. Er schraubte den Boden ab, den das Vorbereitungsteam abgesägt, wieder aufgeschweißt und überstrichen hatte, um die Schweißnaht zu verbergen. Aus seinem Inneren kam kein Löschschaum, sondern Füllmaterial und schließlich ein schwerer Stab aus bleiähnlichem Metall, fünf Zoll lang und zwei Zoll im Durchmesser.

Obwohl er so klein war, wog er viereinhalb Kilo. Wassiliew zog die Arbeitshandschuhe an, um mit ihm zu hantieren. Es war reines Uran 235.

»Ist das Zeug nicht radioaktiv?« fragte Petrofski, der fasziniert zugesehen hatte.

»Ja, aber nicht gefährlich. Die Leute glauben, daß alle radioaktiven Stoffe gleich gefährlich sind. Stimmt nicht. Armbanduhren mit Leuchtzifferblättern sind radioaktiv, und trotzdem tragen wir sie. Uran gibt Alphastrahlen von geringer Stärke ab. Plutonium ist dagegen wirklich tödlich. Dieses Zeug auch, wenn es kritisch wird. Und das passiert direkt vor der Detonation, aber nicht jetzt.«

Die Scheinwerfer aus dem Mini waren schwieriger zu zerlegen. Wassiliew nahm die Lampen heraus und entfernte aus ihnen die Glühfäden und die inneren Reflektorschalen. Was übrigblieb war ein Paar äußerst schwerer halbkugelförmiger Schalen aus einzölligem gehärtetem Stahl. Jede Schale besaß einen gewulsteten Rand, in den sechzehn Löcher gebohrt waren zur Aufnahme von Schrauben und Bolzen. Wenn man sie aneinanderfügte, würden sie eine vollkommene Kugel bilden.

Eine der Schalen wies in der Mitte ein zwei Zoll breites Loch auf mit Schraubgewinde für den stählernen Stecker aus Lichkas linkem Schuh. Beim anderen ragte aus der Mitte ein kurzer Rohrstumpf, der einen Innendurchmesser von zwei Zoll besaß und außen geflanscht und mit einem Gewindegang versehen war zum Einschrauben in das stählerne Geschützrohr aus dem Auspuff des Hanomags.

Zuletzt kam der Spielball, der in dem Wohnwagen ins Land gebracht worden war. Wassiliew schnitt die bunte Gummihülle auf. Eine Metallkugel glänzte im Licht.

»Das ist der Bleimantel«, sagte er, »die Urankugel, der spaltbare Kern der Atombombe steckt dahinter. Ich hol' sie später heraus. Sie ist auch radioaktiv, wie das andere Stück da.«

Nachdem er sich nochmals vergewissert hatte, daß alle neun Teile vorhanden waren, machte er sich an den Stahlschrank. Er legte ihn auf den Rücken, schlug die Tür zurück und fertigte aus den Leisten und Stäben einen niedrigen wiegenförmigen Rahmen, den er auf den Boden des Schranks stellte. Dann hüllte er das Ganze in eine dicke Lage stoßdämpfenden Schaumgummis.

»Ich packe an den Seiten und oben noch mehr rein, wenn die Bombe drinnen ist«, erklärte er.

Er nahm die Batterien, verdrahtete sie Klemme mit Klemme und wickelte sie mit Kreppband zu einem Block zusammen. Schließlich bohrte er vier kleine Löcher in die Schranktür und befestigte den Block auf der Innenseite. Es war Mittag.

»Schön«, sagte er, »jetzt setzen wir das Ding zusammen. Übrigens, haben Sie schon einmal eine Atombombe gesehen?«

»Nein«, sagte Petrofski heiser. Er war Spezialist für unbewaffnete Auseinandersetzungen. Vor Fäusten, Messern oder Schießeisen hatte er keine Angst, aber die kaltblütige Jovialität, mit der Wassiliew mit einer Zerstörungskraft umging, die ohne weiteres eine Stadt auslöschen konnte, beunruhigte ihn.

Wie die meisten Leute betrachtete er die Kernphysik als eine Art Geheimwissenschaft.

»Früher waren sie sehr kompliziert«, sagte Wassiliew. »Sehr groß, auch die mit geringer Sprengkraft, und nur unter äußerst komplexen Laborbedingungen herstellbar. Das gilt heute noch für die wirklichen Superdinger, die Multimegatonnen-Wasserstoffbomben. Aber die elementare Atombombe ist so vereinfacht worden, daß man sie auf jeder Werkbank zusammenbasteln kann. Vorausgesetzt, man verfügt über die richtigen Teile sowie über ein bißchen Vorsicht und technisches Wissen.«

»Toll«, sagte Petrofski. Wassiliew schnitt den dünnen Bleimantel von der Urankugel. Das Blei war kalt herumgewickelt worden, wie Packpapier, und die Nähte hatte man zusammengelötet. Es ließ sich leicht abnehmen. Die Kugel, die zum Vorschein kam, hatte einen Durchmesser von fünf Zoll und ein zweizölliges, durchgebohrtes Loch in der Mitte.

»Möchten Sie wissen, wie's funktioniert?« fragte Wassiliew.

»Klar.«

»Diese Kugel ist reines Uran. Gewicht fünfzehneinhalb Kilo. Nicht genug Masse, um kritisch zu sein. Uran wird kritisch, sobald seine Masse den kritischen Punkt überschreitet.«

»Was heißt >kritisch<?«

»Es fängt an zu sprudeln. Nicht im wörtlichen Sinn natürlich, nicht wie Limonade. Ich meine sprudeln im kernphysikalischen Sinn. Es gelangt an die Detonationsschwelle. Diese Kugel ist noch nicht in diesem Stadium. Sehen Sie den kurzen Stab da?«

»Ja.«

Es war der Uranstab aus dem Feuerlöscher.

»Dieser Stab paßt genau in das zweizöllige Loch in der Kugelmitte. Wenn er darin ist, wird die ganze Masse kritisch. Das Stahlrohr wirkt wie ein Kanonenrohr mit dem Uranstab als Kugel. Bei der Detonation schießt der Plastiksprengstoff den Stab durch das Rohr in die Kugel hinein.«

»Und dann knallt's.«

»Nicht ganz. Dazu braucht man den Initiator. Das Uran allein würde einfach versprudeln und dabei zwar eine Unmenge Radioaktivität entwickeln, aber keine Explosion herbeiführen. Damit es zum Knall kommt, muß man das kritische Uran mit einem Neutronenhagel bombardieren. Diese beiden Scheiben, das Lithium und das Polonium, bilden den Initiator. Getrennt sind sie harmlos; das Polonium ist ein milder Alphastrahlenemitter, das Lithium ist inaktiv. Wenn sie aber aufeinanderprallen, passiert Merkwürdiges. Sie bewerkstelligen eine Reaktion; sie emittieren den Neutronenhagel, den wir brauchen. Unter diesem Hagel zerspringt das Uran und setzt gigantische Energien frei; die Zerstörung der Materie. In einer hundertmillionstel Sekunde. Der Stahlmantel hält das alles während dieser winzigen Zeitdauer zusammen.«

»Wer steckt den Initiator rein?« fragte Petrofski in einem Anfall von Galgenhumor. Wassiliew grinste.

»Niemand. Die beiden Scheiben sind schon drinnen, aber voneinander getrennt. Das Polonium ist an einem Ende des Lochs in der Urankugel und das Lithium auf der Spitze des Urangeschosses. Der Stab wird durch das Rohr in die Kugel geschossen und das Lithium an seiner Spitze in das Polonium geschmettert, das am anderen Ende des Tunnels wartet. Das ist alles.«

Wassiliew ließ einen Tropfen Superklebstoff auf die Poloniumscheibe fallen und preßte sie dann auf den flachen Stecker aus Lichkas Schuhabsatz. Dann schraubte er den Stecker in das Gewindeloch einer der beiden Schutzschalen. Er nahm die Urankugel und senkte sie in die Schale, in deren Inneren vier Höcker waren, die genau in die auf der Kugel angebrachten Kerben paßten. Wenn die Höcker in die Kerben einrasteten, war die Kugel fest an ihrem Platz verankert. Wassiliew nahm eine Stablampe und spähte hinunter durch das Loch in der Urankugel.

»Da«, sagte er, »wartet am andern Ende des Lochs.«

Dann legte er die zweite Schale darauf, so daß eine vollkommene Kugel entstand, und verbrachte die nächste Stunde mit der Befestigung der sechzehn Schraubbolzen im Wulst rund um die Schalen. Die beiden Hälften waren fest miteinander verbunden.

»Jetzt zum Kanonenrohr«, bemerkte er. Er stopfte den Plastiksprengstoff in das achtzehn Zoll lange Stahlrohr, half stetig, aber behutsam mit einem Besenstiel aus der Küche nach, bis der Sprengstoff eine kompakte Masse bildete. Petrofski konnte den Sprengstoff sehen, der durch das Loch in der Stahlkappe quoll. Mit dem Superklebstoff befestigte Wassiliew die Lithiumscheibe am flachen Ende des Uranstabes, umwickelte das Ganze mit dünnem Stoff, so daß es nicht mehr aufgrund irgendwelcher Erschütterungen im Stahlrohr zurückrutschen konnte, und rammte den Stab in das Rohr bis zum Sprengstoff am unteren Ende. Dann schraubte er das Rohr in die Kugel. Sie sah aus wie eine graue Melone mit Handgriff; eine Art übergroße Handgranate.

»So gut wie fertig«, sagte Wassiliew. »Der Rest ist konventionelle Bombenmacherei.«

Er nahm den Zünder, trennte die beiden Drähte und umwickelte sie mit Isolierband. Sollten sie einander berühren, würde es dennoch nicht zu einer vorzeitigen Detonation kommen. Er verdrallte jeden der beiden Drähte mit einer FünfAmpere-Schnur und preßte dann den Zünder durch das Loch im Rohrende, bis er fest in den Sprengstoff eingebettet war.

Er legte die Bombe wie ein Baby in ihre Schaumstoffwiege, packte rechts und links von ihr noch weiteren Schaumstoff hinein und eine noch größere Menge obenauf. Nur die beiden Drähte ragten heraus. Einer davon wurde an den Pluspol des Batterieblocks angeschlossen. Ein dritter Draht ging vom Minuspol aus, so daß Wassiliew noch zwei Drähte übrigblieben. Er isolierte die beiden Enden.

»Nur für den Fall, daß sie einander berühren«, grinste er. »Das wollen wir doch lieber vermeiden.«

Der einzige noch nicht eingesetzte Bestandteil war der Behälter mit dem Laufzeitmechanismus. Wassiliew bohrte fünf Löcher oben in einer Seite des Stahlschranks. Das mittlere Loch diente zur Durchführung der Drähte, die aus der Rückseite des Behälters ragten. Die vier anderen waren für dünne Bolzen bestimmt, mit denen er den Laufzeitmechanismus am Stahlschrank befestigte. Dann verband er die Batterie- und Zünderdrähte entsprechend ihrem Farbencode mit den Drähten des Laufzeitmechanismus. Petrofski hielt den Atem an.

»Keine Bange«, sagte Wassiliew, der ihn beobachtet hatte. »Dieser Laufzeitmechanismus ist x-mal getestet worden. Die eingebaute Sicherung funktioniert tadellos.«

Er versorgte den letzten der Drähte, isolierte sorgfältig die Verbindungsstellen, machte den Schrank zu, verschloß ihn und schob den Schlüssel zu Petrofski hinüber.

»So, Genosse Ross, das war's. Sie können den Schrank auf Ihrer Karre zum Wagen bringen, ohne daß etwas passiert. Sie können ihn hinfahren, wo Sie wollen - die Erschütterung stört ihn nicht. Noch etwas. Ein fester Druck auf diesen gelben Knopf hier setzt den Laufzeitmechanismus in Bewegung, schließt aber nicht den Stromkreis. Das besorgt die Uhr zwei Stunden später. Sie drücken auf den gelben Knopf und haben dann noch zwei Stunden, um möglichst weit wegzukommen. Der rote umgeht die Zeitzündung. Wenn Sie auf den drücken, geht die Bombe sofort hoch.«

Er wußte nicht, daß er die Unwahrheit sagte. Er glaubte wirklich an das, was man ihm erklärt hatte. Nur vier Leute in Moskau wußten, daß beide Knöpfe auf sofortige Detonation eingestellt waren. Es war Abend geworden.

»Nun, Freund Ross, möchte ich essen, etwas trinken, gut schlafen und morgen früh nach Hause fliegen.«

»Klar«, sagte Petrofski. »Stellen wir den Schrank hier in die Ecke, zwischen das Buffett und den Getränkewagen. Schenken Sie sich einen Whisky ein. Ich kümmere mich ums Abendessen.«

Sie starteten um zehn Uhr in Petrofkis kleinem Wagen nach Heathrow. An einer Parkbucht südwestlich von Colchester, wo die dichten Wälder fast bis zur Straße reichen, stieg Petrofski zum Pinkeln aus. Sekunden später hörte Wassiliew ihn laut schreien, und er lief hin, um nachzusehen, was los war. Er starb an einem fachmännisch verabreichten Genickschlag hinter einer dichten Baumzeile. Der Leichnam landete, nachdem alle Identifizierungsmöglichkeiten entfernt worden waren, in einem flachen Graben und wurde mit frischen Zweigen bedeckt. Er würde wahrscheinlich in einem Tag oder etwas später entdeckt werden. Die Polizei würde ein Foto in einer lokalen Zeitung veröffentlichen lassen, das der Nachbar Armitage vielleicht sehen und erkennen würde, oder auch nicht. Es spielte ohnehin keine Rolle mehr. Petrofski fuhr nach Ipswich zurück.

Er hatte keine Gewissensbisse. Seine Instruktionen waren, was den »Monteur« anbelangte, klar gewesen. Es war ihm ein Rätsel, wie Wassiliew sich hatte einbilden können, wieder nach Hause zu kommen. Er selber hatte auf alle Fälle jetzt andere Probleme. Alles war bereit, doch die Zeit wurde knapp. Er war in den Rendelsham Forest gefahren und hatte sich seine Stelle ausgesucht; in guter Deckung, aber kaum hundert Yards von der Stacheldrahtumzäunung der USAF-Basis von Bentwaters entfernt. Niemand würde um vier Uhr früh in der Nähe sein, wenn er auf den gelben Knopf drückte, um die Detonation für sechs Uhr auszulösen. Frische Zweige würden den Schrank bedecken, während der Zeitzünder tickte und er wie der Teufel in Richtung London fuhr.

Das einzige, was er noch nicht wußte, war das Datum. Das Einsatzsignal sollte am Vorabend während der Zweiundzwanzig-Uhr-Nachrichten des englischsprachigen Dienstes von Radio Moskau kommen: Ein absichtlicher Versprecher in der ersten Meldung. Da aber Wassiliew nichts mehr berichten konnte, mußte Moskau informiert werden, daß alles bereit war. Das bedeutete eine letzte Funkbotschaft. Danach würden die Griechen nicht mehr benötigt werden. Petrofski verließ Cherryhayes in der Abenddämmerung eines warmen Junitags und fuhr gemächlich nach Thetford zu seinem Motorrad. Um neun Uhr setzte er seine Fahrt fort nach Nordwesten in die Midlands.

Die Langeweile eines gewöhnlichen Abends im Schlafzimmer der Roystons wurde kurz nach zehn unterbrochen, als Len Stewart sich vom Polizeirevier aus über Funk meldete.

»John, einer meiner Leute hat gerade in der Taverne gegessen. Das Telefon hat zweimal geklingelt, dann hat der Anrufer aufgelegt. Dann wieder zweimal, und wieder eingehängt. Und noch ein drittes Mal. Die Lauscher bestätigen es.«

»Haben die Griechen versucht, abzuheben?«

»Sie sind beim ersten Mal nicht rechtzeitig ans Telefon gekommen. Danach haben sie's gar nicht mehr probiert. Einfach weiter serviert... Moment, John... John, sind Sie noch da?« »Ja, natürlich.«

»Meine Leute draußen melden, daß einer der Griechen das Lokal verläßt. Durch die Hintertür. Er geht zum Wagen.«

»Zwei Wagen und vier Leute hinter ihm her«, sagte Preston. »Bleiben noch zwei für die Taverne. Vielleicht verläßt er die Stadt.«

Er verließ sie nicht. Andreas Stephanides fuhr zurück zur Compton Street, parkte den Wagen und betrat das Haus. Hinter den Vorhängen ging das Licht an. Weiter tat sich nichts. Um dreiundzwanzig Uhr zwanzig, also früher als sonst, schloß Spiridon die Taverne und ging nach Hause, wo er um dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig eintraf.

Prestons Tiger kam kurz vor Mitternacht. Die Straße war sehr ruhig. Fast alle Lichter waren aus. Obwohl Prestons vier Wagen und deren Insassen weit gestreut verteilt waren, hatte niemand ihn kommen sehen. Die erste Meldung kam von einem von Stewarts Leuten über das Funkgerät.

»Da ist ein Mann am unteren Ende der Compton Street, bei der Cross Street.«

»Was macht er?« fragte Preston.

»Nichts. Steht bewegungslos im Schatten.«

»Warten.«

Es war pechschwarz im Schlafzimmer der Roystons. Die Vorhänge waren aufgezogen, die Männer hatten sich vom Fenster entfernt. Mungo kauerte hinter der Kamera, die ihre Infrarotlinse trug. Preston hielt sein kleines Funkgerät dicht ans Ohr. Stewarts Sechserteam und seine beiden eigenen Fahrer waren mit ihren Wagen irgendwo draußen, alle durch Funk miteinander verbunden. Eine Tür ging auf, als jemand eine Katze hinausließ. Dann ging sie wieder zu.

»Er bewegt sich«, flüsterte das Funkgerät. »Auf euch zu. Langsam.«

»Hab' ihn«, zischte Ginger, der an einem Seitenfenster des Erkers stand. »Mittelgroß, dunkler langer Regenmantel.«

»Mungo, kannst du ihn unter der Straßenbeleuchtung erwischen, kurz vor dem Haus der Griechen?« fragte Burkinshaw. Mungo drehte die Linse um einen Bruchteil.

»Ich hab' den Lichtkegel anvisiert«, sagte er.

»Er ist zehn Yards davor«, sagte Ginger.

Lautlos glitt die Gestalt im Regenmantel in den Schein der Straßenlaterne. Mungos Kamera machte fünf Aufnahmen schnell hintereinander. Der Mann trat aus dem Licht und kam an der Gartenpforte des Griechenhauses an. Er ging den kurzen Weg bis zum Haus und klopfte, statt zu läuten, leise an die Tür. Sie ging sofort auf. In der Diele brannte kein Licht. Der dunkle Regenmantel verschwand im Hausinneren. Die Tür ging zu.

Jenseits der Straße ließ die Spannung nach.

»Mungo, bringen Sie den Film ins Polizeilabor. Sie sollen ihn sofort entwickeln und an Scotland Yard weiterleiten. Kopien an Charles und Sentinel. Ich ruf an, damit sie sich bereithalten, eine Identifizierung zu versuchen.«

Irgend etwas störte Preston. Irgend etwas am Habitus des Mannes. Die Nacht war warm, warum also ein Regenmantel? Um nicht naß zu werden? Die Sonne hatte den ganzen Tag geschienen. Um irgend etwas zu verdecken? Einen hellen, auffälligen Anzug?

»Mungo, was hat er getragen? Sie haben ihn in Großaufnahme gesehen.«

Mungo war schon halb aus der Tür.

»Einen Regenmantel«, sagte er. »Dunkel. Lang.«

»Darunter.«

Ginger pfiff leise durch die Zähne.

»Stiefel. Klar. Zehn Inch hohe Schaftstiefel.«

»Scheiße, er fährt ein Motorrad«, sagte Preston. Er sprach in sein Funkgerät. »Alle raus auf die Straßen. Nur zu Fuß. Keine Wagengeräusche. Alles absuchen, mit Ausnahme der Compton Street. Ausschau halten nach einem Motorrad, dessen Motorblock noch warm ist.«

Die Sache ist nur, dachte er, daß ich nicht weiß, wie lange er da drinnen bleibt. Fünf Minuten, zehn, sechzig? Er rief Len Stewart.

»Len, hier John. Wenn wir das Motorrad finden, dann möchte ich, daß irgendwo darauf ein Ortungssignalgeber angebracht wird. Inzwischen rufen Sie Superintendent King an. Er muß die Operation aufziehen. Wenn Chummy das Haus verläßt, folgen wir ihm. Harrys Team und ich. Sie bleiben mit Ihren Jungs bei den Griechen. Eine Stunde nach unserem Abzug kann die Polizei das Haus und die Griechen kassieren.«

Stewart bestätigte und rief Superintendent King zu Hause an.

Erst zwanzig Minuten später fand einer aus dem ausgeschwärmten Team das Motorrad. Er berichtete Preston, der noch immer im Haus der Roystons war.

»Da ist eine große BMW, am oberen Ende der Queen Street. Tragkiste hinter dem Soziussitz, verschlossen. Zwei Satteltaschen, unverschlossen. Motor und Auspuff noch warm.«

»Polizeiliches Kennzeichen?«

Die Nummer wurde ihm durchgegeben. Er gab sie an Len Stewart auf dem Polizeirevier weiter. Stewart bat um sofortige Identifizierung. Es handelte sich um eine Nummer von Suffolk, eingetragen auf einen gewissen Mr. Duncan James Ross, wohnhaft in Dorchester.

»Es ist entweder ein gestohlenes Fahrzeug, ein falsches Nummernschild oder eine blinde Adresse«, murmelte Preston.

Einige Stunden später stellte die Polizei von Dorchester fest, daß die letzte Annahme zutraf.

Der Mann, der das Motorrad gefunden hatte, wurde beauftragt, in einer der Satteltaschen einen Ortungssignalgeber unterzubringen, ihn anzuschalten und sich vom Fahrzeug zu entfernen. Der Mann, Joe, war einer der beiden Fahrer Burkinshaws. Er ging zu seinem Wagen zurück, nahm hinter dem Steuer Deckung und bestätigte, daß das Ortungsgerät angebracht sei und funktioniere.

»O.K.«, sagte Preston. »Wir machen einen Wechsel. Alle Fahrer zurück zu ihren Wagen. Die drei Leute von Len Stewart sollen in die West Street zum Hintereingang unseres Beobachtungspostens kommen und uns ablösen. Einzeln, unauffällig und sofort.«

Zu den Männern im Zimmer sagte er:

»Harry, packen Sie zusammen. Sie gehen als erster. Nehmen Sie den Führungswagen, ich fahre mit Ihnen. Barney, Ginger, ihr nehmt den zweiten. Wenn Mungo mitkommen kann, soll er mit mir fahren.«

Die Leute von Stewarts Team kamen einzeln durch den Hintereingang, um Burkinshaw und seine Mannen abzulösen. Preston betete, daß der Agent von gegenüber nicht während des Mannschaftsaustausches das Haus verlassen möge. Preston ging als letzter weg. Im Vorbeigehen steckte er den Kopf in das Schlafzimmer der Roystons, dankte für ihre Hilfe und versicherte ihnen, daß bis zum Morgengrauen alles vorbei sein werde. Das Flüstern, das zurückkam, verriet mehr als nur ein bißchen Beunruhigung.

Preston glitt durch die Gärten zur West Street und war fünf Minuten später bei Burkinshaw und Joe, dem Fahrer, im Führungswagen, der in der Foljambe Road geparkt war. Ginger und Barney meldeten sich aus dem zweiten Wagen, der am oberen Ende der Marsden Street stand, einer Seitenstraße von Saltergate.

»Natürlich«, sagte Burkinshaw düster, »wenn's nicht das Motorrad ist, dann sind wir beschissen bis Ultimo.«

Preston saß auf dem Rücksitz. Neben dem Fahrer beobachtete Burkinshaw das Sichtgerät am Armaturenbrett. Es sah aus wie ein kleiner Radarschirm und zeigte in rhythmischen Intervallen einen blinkenden Lichtimpuls in einem Quadranten, der die Richtung des Impulses zur Längsachse des Wagens angab, in dem sie saßen, sowie die ungefähre Entfernung - eine halbe Meile. Der zweite Wagen war mit dem gleichen Apparat ausgerüstet, so daß die beiden Bediener, wenn sie wollten, Kreuzpeilungen vornehmen konnten.

»Es muß einfach das Motorrad sein«, sagte Preston verzweifelt. »Wir könnten ihn auf diesen Straßen sowieso nicht beschatten. Sie sind zu leer, und er ist zu clever.«

»Er geht weg.«

Das plötzliche Bellen aus dem Funkgerät brachte sie zum Verstummen. Stewarts Leute berichteten, daß der Mann im Regenmantel soeben das Haus gegenüber verlassen habe. Sie bestätigten, daß er die Compton Street hinunterging zur Cross Street und weiter in Richtung auf die BMW. Dann kam er außer Sicht. Zwei Minuten später berichtete einer von Stewarts Fahrern aus seinem Wagen in St. Margaret's Drive, daß der Agent die Straße überquert habe und immer noch in Richtung Queen Street weitergehe. Dann nichts mehr. Fünf Minuten vergingen. Preston betete.

»Er fährt los.«

Burkinshaw hopste vor Erregung auf dem Vordersitz auf und nieder, sein sonst sprichwörtliches Phlegma hatte ihn völlig verlassen. Das Blinksignal wanderte langsam über den Bildschirm, als das Motorrad seine Winkelstellung zum Wagen veränderte.

»Ziel in Bewegung«, bestätigte der zweite Wagen.

»Eine Meile Vorsprung lassen, dann hinterher«, sagte Preston, »Motor jetzt anlassen.«

Das Signal bewegte sich nach Südosten durch das Zentrum von Chesterfield. Als es am Kreisel von Lordsmill war, nahmen die Wagen die Verfolgung auf. Sie fuhren zum Kreisel, und nun war kein Zweifel mehr möglich. Das von dem Motorrad kommende Signal war stetig und stark und bewegte sich auf der A617 nach Mansfield und Newark. Entfernung: knapp über eine Meile. Der Motorradfahrer vor ihnen konnte nicht einmal ihre Scheinwerfer sehen. Joe grinste.

»Jetzt versuch mal, uns abzuschütteln, du Scheißkerl«, sagte er.

Preston wäre glücklicher gewesen, wenn der Mann vor ihnen einen Wagen benützt hätte. Motorräder sind schwer zu verfolgen. Sie sind schnell und beweglich, können sich durch den dichten Straßenverkehr schlängeln, in dem Autos steckenbleiben, schmale Straßen hinunterflitzen und zwischen den Betonklötzen von Absperrungen durchfahren. Selbst auf dem flachen Land können sie von der Straße abweichen und über Wiesen fahren, wo ihnen Wagen kaum folgen können. Der Mann vor ihnen durfte also nicht merken, daß er verfolgt wurde.

Der Agent war ein vorzüglicher Fahrer. Er ging selten unter die erlaubte Höchstgeschwindigkeit, nahm die Kurven, ohne runterzuschalten. Er blieb auf der A617 unter der Auffahrt zur Autobahn M1, fuhr in den frühen Morgenstunden durch das schlafende Mansfield weiter in Richtung Newark. Derbyshire ging in das schwere, reiche Ackerland von Nottinghamshire über, und er fuhr stetig die gleiche Geschwindigkeit.

Kurz vor Newark stoppte er.

»Abstand verringert sich schnell«, sagte Joe plötzlich.

»Scheinwerfer abblenden, rechts ranfahren«, schnappte Preston.

Petrofski war in einen Seitenweg eingebogen, hatte Motor und Scheinwerfer abgestellt, saß an der Einmündung und starrte auf die Straße, in die Richtung, aus der er gekommen war. Ein Laster donnerte vorbei und verschwand in Richtung Newark. Sonst nichts. Eine Meile weiter unten hielten die Wagen der Observanten am Straßenrand. Petrofski blieb noch fünf Minuten, startete die Maschine und fuhr weiter nach Südosten. Als das Blinksignal auf dem Bildschirm sich wieder in Bewegung setzte, folgten die Observanten, wobei sie immer mindestens eine Meile Abstand hielten.

Die Jagd ging weiter über den Trent, vorbei an den Lichtern einer Zuckerraffinerie zu ihrer Rechten, dann direkt in die Stadt Newark hinein. Es war kurz vor drei Uhr. In der Stadt schwirrte das Signal wild auf dem Bildschirm herum, als der Wagen der Verfolger durch die Straßen kurvte. Der Blinker schien sich auf der A46 nach Lincoln festzusetzen, und die Wagen waren schon eine halbe Meile diese Straße entlanggefahren, als Joe plötzlich auf die Bremse trat.

»Ziel ist nach rechts abgebogen«, sagte er. »Entfernung nimmt zu.«

»Umkehren«, sagte Preston. Sie fanden die Abzweigung in Newark; das Ziel war die A17 in südöstlicher Richtung nach Sleaford gefahren.

In Chesterfield startete um zwei Uhr fünfundfünfzig die Polizeiaktion gegen das Haus der Brüder Stephanides. Zehn Uniformierte unter der Leitung von zwei Special-Branch-Leuten in Zivil. Zehn Minuten früher, und sie hätten die beiden ahnungslosen Sowjetagenten ohne Schwierigkeiten geschnappt. Es war einfach Pech. Genau in dem Augenblick, als die beiden Leute von Special Branch sich dem Haus näherten, ging die Tür auf.

Die Griechen wollten offensichtlich mit ihrem Funkgerät wegfahren, um die verschlüsselte und auf Band aufgenommene Nachricht auszusenden. Andreas war vorausgegangen, um den Wagen anzulassen. Spiridon war mit dem Sender noch im Haus. Andreas stieß einen lauten Warnschrei aus, stürzte zurück und schlug die Tür zu. Die Polizisten warfen sich mit den Schultern dagegen.

Als die Tür aus den Angeln brach, begrub sie Andreas unter sich. Er strampelte sich wieder hoch und schlug in der kleinen Diele wild um sich, bis schließlich zwei Polizisten seiner Herr wurden.

Die Leute von Special Branch sprangen über das Knäuel Kämpfer, warfen einen schnellen Blick in die Zimmer des Erdgeschosses, erkundigten sich bei den Männern im Hintergarten, ob sie niemand gesehen hatten, und liefen die Treppe hinauf. Die Schlafzimmer waren leer. Sie fanden Spiridon in dem kleinen Speicher unterm Gebälk. Der Sender stand auf dem Boden; ein Anschlußkabel war in einen Wandstecker eingeführt, und auf der Skala glühte ein roter Lichtpunkt.

Spiridon ergab sich widerstandlos.

In Menwith Hill fing der Lauschposten des GCHQ einen »Spritzer« aus dem Geheimsender auf und registrierte ihn am Donnerstag, dem 11. Juni, um zwei Uhr achtundfünfzig morgens. Die sofort durchgeführte Triangulation wies auf eine Stelle am westlichen Ende der Stadt Chesterfield. Das Polizeirevier wurde sofort alarmiert und die Meldung an den Wagen weitergegeben, in dem Superintendent Robin King saß. Er nahm den Anruf entgegen und informierte Menwith Hill:

»Ich weiß, wir haben sie geschnappt.«

In Moskau nahm der Funkoffizier den Kopfhörer ab und nickte dem Fernschreiber zu.

»Schwach, aber klar«, sagte er.

Der Fernschreiber fing zu hämmern an und spie eine Papierbahn aus, die mit unzusammenhängenden Buchstaben bedeckt war. Als er schwieg, stand der Funker auf, riß die Bahn ab und fütterte sie in den Decodierer ein, der bereits auf den abgemachten Einmalcode eingestellt war. Der Decodierer sog das Papier ein, sein Computer ließ die Permutationen durchlaufen, und die Botschaft kam im Klartext wieder zum Vorschein. Der Funker las den Text und lächelte. Er rief eine Nummer an, gab das Codewort durch, prüfte das Codewort des Mannes am anderen Ende der Leitung und sagte:

»Aurora startbereit.«

Hinter Newark wurde das Land flacher und der Wind stärker. Die Verfolgungsjagd ging durch das sanft gewellte Heideland von Lincolnshire und über die schnurgeraden Straßen, die in die Gegend der Flachmoore führen. Das Blinksignal war stetig und stark und führte Prestons beide Wagen auf der A17 an Sleaford vorbei in Richtung Wash und Grafschaft Norfolk.

Südöstlich von Sleaford stoppte Petrofski erneut und suchte den dunklen Horizont hinter sich nach Scheinwerfern ab. Nichts zu sehen. Die Verfolger waren eine Meile entfernt in der Dunkelheit. Als der Blinker sich auf dem Bildschirm wieder in Bewegung setzte, fuhren sie an.

Im Dorf Sutterton ergab sich ein weiterer Augenblick der Verwirrung. Zwei Straßen führten am anderen Ende aus dem schlafenden Ort; die A16 in südlicher Richtung nach Spalding und die A17 in südöstlicher Richtung nach Long Sutton und King's Lynn über die Grafschaftsgrenze. Es dauerte zwei Minuten, bis sie unterscheiden konnten, daß der Blinker sich wirklich auf der A17 nach Norfolk bewegte. Der Abstand hatte sich auf drei Meilen erhöht.

»Aufschließen«, befahl Preston, und Joe hielt die Tachometernadel auf neunzig, bis sie auf eineinhalb Meilen heran waren.

Südlich von King's Lynn überquerten sie die Flußarme der Ouse, und Sekunden später schwenkte das Blinksignal nach Süden in die Straße nach Downham Market und Thetford ein.

»Wo zum Teufel fährt der hin?« brummte Joe.

»Er muß irgendwo da unten eine Basis haben«, sagte Preston von hinten. »Nur immer auf der Spur bleiben.«

Zu ihrer Linken färbte ein rosa Streifen den Horizont, und die Umrisse der vorbeifliegenden Bäume gewannen an Schärfe. Joe schaltete von Fernlicht auf Standlicht.

Fern im Süden wurden ebenfalls die Scheinwerfer der Busse abgeblendet, die in Kolonnen durch die verstopften Straßen des Marktfleckens Bury St. Edmunds in Suffolk fuhren. Es waren zweihundert an der Zahl, die vollgepackt mit Friedensmarschierern aus allen Richtungen hier zusammenströmten. Weitere Demonstranten kamen per Auto, Motorrad, Fahrrad und per pedes. Die Kavalkade bewegte sich mit ihren Wimpeln und Plakaten langsam durch die Stadt, hinaus auf die A143 und weiter nach Ixworth Junction. Dort kamen sie in den schmalen Gäßchen nicht mehr weiter, hielten am Rande der Hauptstraße und entluden ihre gähnende Fracht in die Morgendämmerung, die über der lieblichen Landschaft von Suffolk aufzog. Der Ordnungsdienst versuchte, die Menge durch Drängen und gutes Zureden zu Ansätzen einer Marschkolonne zu formieren, während die Polizisten von Suffolk auf ihren Motorrädern saßen und zusahen.

In London brannten immer noch die Straßenlampen. Sir Bernard Hemmings war, wie gewünscht, von zu Hause abgeholt worden, als das Observantenteam in Chesterfield die Verfolgung des Agenten aufnahm. Er saß jetzt im unterirdischen Funkraum der Cork Street, zusammen mit Brian Harcourt-Smith.

Auf der anderen Seite der City war Sir Nigel Irvine in seinem Büro in Sentinel House ebenfalls auf eigenen Wunsch geweckt und hergebracht worden. Unten im Souterrain hatte Blodwyn die halbe Nacht auf das Gesicht eines Mannes unter einer Straßenlaterne einer kleinen Stadt von Derbyshire gestarrt. Man hatte sie von ihrer Wohnung in Camden Town in aller Herrgottsfrühe hierhergefahren, und sie war nur mitgekommen, weil Sir Nigel sie persönlich darum gebeten hatte. Er hatte sie mit Blumen empfangen; für ihn würde sie durchs Feuer gehen, und für niemand sonst.

»Er ist nie zuvor hier gewesen«, hatte sie gesagt, als sie das Foto sah, »und doch -«

Nach einer Stunde war sie bei ihren Nachforschungen zum Nahen Osten vorgestoßen, und um vier Uhr hatte sie ihn. Es war ein Beitrag der israelischen Mossad, vier Jahre alt, ein bißchen verschwommen und nur ein einziges Bild. Selbst die Mossad war sich ihrer Sache nicht sicher gewesen; aus dem Begleittext ging hervor, daß es sich nur um einen Verdacht handelte.

Einer ihrer Männer hatte ihn auf den Straßen von Damaskus geknipst. Er hieß damals Timothy Donnelly und war Reisevertreter für Waterford Crystal. Die Mossad hatte ihn auf gut Glück aufnehmen lassen und eine Überprüfung durch ihre Leute in Dublin veranlaßt. Timothy Donnelly existierte wirklich, aber er war nicht in Damaskus. Als das bekannt wurde, war der Mann auf dem Bild verschwunden. Er war nie wieder aufgetaucht.

»Das ist er«, sagte sie. »Die Ohren beweisen es. Er hätte einen Hut tragen sollen.«

Sir Nigel rief das Souterrain in der Cork Street an.

»Ich glaube, wir sind fündig geworden, Bernard«, sagte er. »Wir können einen Abzug machen und ihn rüberschicken.«

Sechs Meilen südlich von King's Lynn hätten sie ihn beinahe verloren. Sie waren in südlicher Richtung nach Downham Market gefahren, als der Blinker zuerst unmerklich und dann immer deutlicher nach Osten abdriftete. Preston blickte auf die Straßenkarte.

»Er ist dort hinten auf die A134 geschwenkt«, sagte er. »Richtung Thetford. Fahren Sie hier links rein.«

In Stradsett nahmen sie seine Spur wieder auf, und dann ging es geradewegs durch die dichter werdenden Birken-, Eichen- und Tannenwälder nach Thetford. Sie erreichten die Kuppe von Gallows Hill und konnten bereits den alten Marktflecken im Dämmerlicht sehen, als Joe bremste.

»Er hat wieder gestoppt.«

Wollte er nochmals nach Verfolgern Ausschau halten? Das hatte er doch bereits auf dem flachen Land getan.

»Wo ist er?«

Joe sah auf den Entfernungsanzeiger und deutete nach vorne.

»Mitten in der Stadt, John.«

Preston zog die Landkarte zu Rate. Außer der Straße, auf der sie waren, gab es noch fünf andere, die aus Thetford herausführten. Es war eine Art Sternnetz. Das Tageslicht nahm zu. Es war fünf Uhr. Preston gähnte.

»Wir geben ihm zehn Minuten.«

Das Signal bewegte sich weder während dieser zehn Minuten noch während der folgenden fünf. Von vier Punkten aus machte der zweite Wagen eine Kreuzpeilung mit dem ersten; der Blinker war direkt im Zentrum von Thetford. Preston nahm das Handmikrofon auf.

»O.K., ich glaube, wir haben seine Basis. Wir rücken ihm auf die Pelle.«

Die beiden Wagen bewegten sich auf das Stadtzentrum zu. Sie trafen sich in der Magdalen Street und fanden um fünf Uhr fünfundzwanzig den Platz mit den verschließbaren Garagen. Joe manövrierte mit dem Wagen, bis seine Kühlerspitze klar und deutlich auf eine Garagentür zeigte. Die Spannung begann zu steigen.

»Er ist da drinnen«, sagte Joe. Preston stieg aus. Barney und Ginger kletterten aus dem anderen Wagen und gesellten sich zu ihm.

»Ginger, können Sie den Türgriff lockern?«

Ginger holte wortlos einen Zündkerzenschlüssel aus dem Werkzeugkasten einer der beiden Wagen, setzte ihn auf den Griff und ruckte hin und her. Im Inneren des Schlosses krachte etwas. Er sah zu Preston hinüber, der nickte. Ginger schwang die Garagentür nach oben auf und sprang hastig zur Seite.

Die Männer im Hof standen und starrten. Das Motorrad war in der Mitte der Garage aufgeständert. An einem Haken hingen eine schwarze Ledermontur und ein Sturzhelm. Ein Paar Motorradstiefel stand an der Wand. Der staubige und ölverschmierte Boden wies die Reifenspuren eines kleinen Wagens auf.

»Scheiße«, sagte Harry Burkinshaw, »eine Umsteige«.

Joe lehnte aus dem Fenster seines Wagens.

»Cork ist gerade übers Polizeinetz gekommen. Sie haben ein En-face-Bild. Wo soll es hingeschickt werden?«

»Polizeirevier Thetford«, sagte Preston. Er sah zum klaren blauen Himmel auf.

»Aber es ist zu spät«, murmelte er.