7. Kapitel

 

Die Mithilfe des Special Air Service zu erwirken, der britischen Elite-Eingreiftruppe aus Experten für grenzüberschreitende Einsätze, Observierung und (gelegentlich) Kommandounternehmen im Stadtbereich, ist nicht so leicht, wie man aus gewissen Abenteuerfilmen im Fernsehen schließen könnte.

Der SAS wird nie aus eigener Initiative tätig. Im Rahmen der Verfassung kann er, wie jeder Verband der Streitkräfte, nur innerhalb des Vereinigten Königreichs und zur Unterstützung der Zivilbehörde, also der Polizei, operieren. Auf diese Weise bleibt der Oberbefehl bei jedem Einsatz nach außen hin in den Händen der zuständigen Polizei. In Wahrheit wird die zuständige Polizei, sobald die SAS-Leute einmal in Marsch gesetzt sind, gut daran tun, den Rückwärtsgang einzulegen.

Nach dem Gesetz muß der Chief Constable einer Grafschaft, in der ein von der örtlichen Polizei nicht ohne Hilfe zu bewältigender Notstand aufgetreten ist, in einem förmlichen Gesuch an das Innenministerium um Hinzuziehung des SAS bitten. Es kommt vor, daß dem Chief Constable »geraten« wird, ein solches Gesuch zu machen, und er müßte geradezu tollkühn sein, wollte er diesen Rat, wenn er von entsprechend hoher Stelle kommt, nicht befolgen.

Sobald der Chief Constable sein förmliches Gesuch dem beamteten Unterstaatssekretär im Innenministerium vorgelegt hat, wird letzterer das Gesuch an seinen Amtskollegen im Verteidigungsministerium weitergeben, der seinerseits den Leiter der militärischen Einsatzstelle ins Bild setzt, welcher den SAS in seinem Standort in Hereford alarmiert.

Daß diese Prozedur innerhalb von Minuten erledigt sein kann, ist zum Teil dem Umstand zu verdanken, daß sie immer wieder geprobt und zu einer hohen Kunst entwickelt wurde; zum Teil auch der Tatsache, daß das britische Establishment über genügend Raum für die Entfaltung persönlicher Beziehungen zwischen seinen leitenden Männern verfügt und das Verfahren weitgehend mündlich abgewickelt werden kann, während man die unvermeidlichen Schreibereien später nachholt. Die britische Bürokratie mag den Briten langsam und schwerfällig vorkommen, aber im Vergleich mit der europäischen und amerikanischen ist sie ein geölter Blitz.

Ohnehin waren die meisten britischen Chief Constables schon einmal in Hereford, um die schlicht als »das Regiment« bezeichnete Einheit kennenzulernen und genau zu erfahren, welche Art von Beistand ihnen im Bedarfsfall zur Verfügung gestellt werden könnte.

Die meisten kamen aus dem Staunen so bald nicht wieder heraus.

An jenem Vormittag informierte London den Chief Constable von Suffolk über die Krise, die in Gestalt eines mutmaßlichen ausländischen Agenten über ihn hereingebrochen war, eines Mannes, der vermutlich bewaffnet war, vielleicht mit einer Bombe, und der sich in Cherryhayes Close in Ipswich verborgen hielt. Der Chief Constable setzte sich mit Sir Hubert Villiers in Whitehall in Verbindung, wo sein Anruf erwartet worden war. Sir Hubert informierte seinen Minister und seinen Kollegen, den Cabinet Secretary, der die Premierministerin benachrichtigte. Sobald die Zustimmung aus Downing Street vorlag, gab Sir Hubert das nunmehr politisch abgesegnete Ansuchen an Sir Peregrine Jones im Verteidigungsministerium weiter, der ohnehin bereits davon wußte, weil er mit Sir Martin Flannery einen Schwatz gehalten hatte. Sechzig Minuten nach dem ersten Anruf des Innenministeriums beim Chief Constable von Suffolk sprach der Leiter von Military Operations über ein Telefon mit Sprachverwürfler mit dem Kommandeur des SAS in Hereford.

Die Kampftruppe des SAS ist nach dem Viererprinzip gegliedert. Vier Mann bilden eine Patrouille, vier Patrouillen eine Rotte und vier Rotten einen Trupp. Die vier Sturmtrupps sind A, B, D und G. Sie nehmen den Dienst im SAS nach dem Rotationsprinzip wahr: Nordirland, Nahost, Dschungeltraining und Sondereinsätze, dazu die ständigen NATO-Aufgaben; ein Reservetrupp ist in ständiger Bereitschaft in Hereford.

Die Zeitdauer der einzelnen Verpflichtungen beträgt im allgemeinen zwischen sechs und neun Monaten, und in diesem Monat war der Trupp B in Hereford stationiert. Wie üblich war eine Rotte in einer halben Stunde einsatzbereit, eine zweite in zwei Stunden. Jeder Trupp besteht aus vier Rotten: einer LuftRotte (Fallschirmspringer), einer Boots-Rotte (Marineinfanteristen, ausgebildet für Über- und Unterwassereinsatz), einer Gebirgs-Rotte (Kletterer) und einer mobilen Rotte (bewaffnete Landrovers).

Als Brigadegeneral Jeremy Cripps sein Telefongespräch aus London beendet hatte, erhielten die Fallschirmspringer von Rotte B den Befehl, nach Ipswich aufzubrechen.

»Was tun Sie normalerweise um diese Zeit?« fragte Preston den Hausherrn, Mr. Adrian. Der Jungmanager hatte soeben den Assistant Commissioner in dessen Büro im Polizeipräsidium von Ipswich an der Ecke Civic Drive und Elm Street angerufen. Falls Mr. Adrian einige Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Gastes gehegt hatte, der ihm vor einer halben Stunde ins Haus geschneit war, so waren sie nunmehr zerstreut. Preston hatte vorgeschlagen, daß Adrian selber anrufen solle, denn er war zu Recht überzeugt gewesen, daß die Polizei den Mann von MI 5 in Mr. Adrians Wohnzimmer nicht im Stich lassen werde.

Außerdem war Mr. Adrian mitgeteilt worden, daß der Mann im Haus gegenüber bewaffnet und gefährlich sein könne und daß man später am Tage eine Verhaftung werde vornehmen müssen.

»Ich fahre gegen Viertel vor neun zur Arbeit, also in zehn Minuten. Um zehn Uhr bringt Lucinda, meine Frau, Samantha in den Kindergarten. Dann macht sie ihre Einkäufe, holt Samantha gegen Mittag wieder ab, und sie gehen zusammen nach Hause. Ich komme ungefähr um halb sieben heim, mit dem Wagen, versteht sich.«

»Bitte, nehmen Sie sich heute frei«, sagte Preston. »Rufen Sie jetzt gleich in Ihrem Büro an und sagen Sie, daß Sie sich nicht wohl fühlen. Verlassen Sie aber das Haus zur gleichen Zeit wie sonst auch. Am Ende der Straße, wo die Abzweigung nach The Hayes in die Belstead Road mündet, erwartet Sie ein Polizeiwagen.«

»Und was wird aus meiner Frau und der Kleinen?«

»Ich möchte, daß Mrs. Adrian wie immer bis zehn Uhr im Haus bleibt, dann mit Samantha und Einkaufskorb weggeht und Sie am Polizeiwagen trifft. Können Sie sich irgendwo den Tag über aufhalten?«

»Bei meiner Mutter in Felixstowe«, sagte Mrs. Andrian nervös.

»Und könnten Sie vielleicht sogar dort übernachten?«

»Was ist mit unserem Haus?«

»Ich verspreche Ihnen, Mr. Adrian, daß dem Haus nichts geschehen wird«, sagte Preston optimistisch. Er hätte hinzufügen können, es bleibe entweder unversehrt oder fliege in die Luft, wenn die Sache schiefgehe. »Ich muß Sie bitten, daß meine Kollegen und ich es zur Beobachtung des Mannes von gegenüber benutzen dürfen. Wir kommen und gehen durch die Hintertür. Wir werden bestimmt keinen Schaden anrichten.«

»Was meinst du, Darling?« fragte Mr. Adrian seine Frau. Sie nickte.

»Wenn ich nur Samantha von hier wegbringen kann, ist mir alles recht«, sagte sie.

»In einer Stunde, das verspreche ich«, sagte Preston. »Mr. Ross von gegenüber war die ganze Nacht auf, wir wissen es, weil wir ihn beschattet haben. Vermutlich schläft er jetzt, und ohnehin wird vor dem Nachmittag keine Polizeiaktion gegen das Haus unternommen, vielleicht erst am frühen Abend.«

»All right«, sagte Adrian, »wir machen mit.«

Er rief im Büro an und ließ sich für einen Tag entschuldigen, dann fuhr er, wie immer, um Viertel vor neun Uhr ab. Von seinem Schlafzimmerfenster im Obergeschoß aus sah Valeri Petrofski ihn wegfahren. Der Russe hatte vor, sich ein paar Stunden Schlaf zu gönnen. Auf der Straße ging nichts Ungewöhnliches vor. Adrian fuhr täglich um diese Zeit zur Arbeit.

Preston stellte fest, daß sich hinter Nummer 9 ein unbebautes Gelände befand. Er zitierte Harry Burkinshaw und Barney herbei, die durch die Hintertür hereinkamen, einer verlegenen Mrs. Adrian zunickten und zu dem nach vorn liegenden Schlafzimmer hinaufstiegen, um ihre Tätigkeit aufzunehmen - das Beobachten. Ginger hatte in ein paar hundert Metern Entfernung eine etwas höher gelegene Stelle gefunden, von der aus er sowohl die Orwellmündung mit ihren Hafenanlagen wie auch die kleine Wohnsiedlung im Blick hatte. Mit einem Feldstecher konnte er die Rückseite von Cherryhayes Close Nummer 12 ganz genau sehen.

»Es grenzt mit der Rückseite an den Garten eines Hauses in Brackenhayes«, berichtete er Preston über Funk. »Keinerlei Bewegung im Haus oder im Garten. Alle Fenster geschlossen; komisch bei diesem Wetter.«

»Beobachten Sie weiter«, sagte Preston. »Ich bleibe hier. Falls ich weg muß, übernimmt Harry.«

Eine Stunde später spazierten Mrs. Adrian und ihre Kleine in aller Ruhe aus dem Haus und verschwanden.

In der Stadt lief zur gleichen Zeit eine zweite Unternehmung an. Der Chief Constable, dessen Karriere bei der uniformierten Polizei begonnen hatte, überließ die Einzelheiten der anhängigen Operation dem Chief Superintendent Peter Low.

Low hatte zwei Kriminalbeamte ins Rathaus geschickt, die beim Stadtsteueramt erfuhren, daß das Zielhaus einem gewissen Mr. Johnson gehörte, die Steuerbescheide jedoch an die Maklerfirma Oxborrow geschickt wurden. Ein Anruf bei der Maklerfirma ergab, daß Mr. Johnson sich in Saudi-Arabien aufhalte und das Haus an einen Mr. James Duncan Ross vermietet sei. Ein zweites Foto von Ross, alias Timothy Donnelly, aufgenommen in Damaskus, wurde per Telex nach Ipswich übermittelt und dem Makler gezeigt, der den Mieter identifizierte.

Die Baubehörde im Rathaus lieferte die Namen der Architekten, die für die Siedlung The Hayes die Pläne angefertigt hatten, und auf diesem Weg konnten detaillierte Geschoßpläne des Anwesens Nummer 12 beschafft werden. Eine große Hilfe. Weitere, bis ins kleinste identische Häuser waren auch anderswo in Ipswich gebaut worden, und es fand sich eines, das noch immer leer stand. Es würde für den Sturmtrupp des SAS nützlich sein; die Männer würden sich im Zielhaus genau auskennen, wenn sie hineinkämen.

Es gehörte zu Peter Lows Pflichten, für die angeforderten SAS-Leute einen »Warteplatz« zu finden. Ein solcher Warteplatz muß abgeschlossen sein, getarnt und schnell erreichbar, eine Zufahrt und Telefonanschluß haben. Es fand sich ein leeres Lagerhaus, drunten am Eagle Wharf, und der Besitzer erklärte sich einverstanden, es der Polizei für »Übungszwecke« zur Verfügung zu stellen.

Es hatte große Schiebetore, die breit genug waren, um dem Fahrzeugkonvoi Einlaß zu gewähren, und abschließbar, so daß kein Unbefugter hineinspähen konnte. Es war so weitläufig, daß sich darin aus Latten und Sackleinwand eine Nachbildung des Hauses in The Hayes aufstellen ließ, und ein kleines verglastes Kontor konnte als Einsatzleitstelle dienen.

Kurz vor Mittag landete ein Army-Hubschrauber Marke Scout am Rand des städtischen Flugplatzes von Ipswich. Drei Männer stiegen aus. Einer war der Kommandeur des S AS-Regiments, Brigadegeneral Cripps, der zweite der Einsatzoffizier, ein Stabsmajor des Regiments, und der dritte war der Teamführer, Captain Julian Lyndhurst. Alle waren in Zivil und trugen Handtaschen, in denen ihre Uniformen steckten. Sie wurden von einem neutralen Polizeiauto abgeholt, das sie direkt zum Warteplatz brachte, wo die Polizei ihre Kommandozentrale einrichtete.

Chief Superintendent Low unterrichtete die drei Offiziere, soweit er selber unterrichtet war, also soweit London ihn ins Bild gesetzt hatte. Mit John Preston hatte er am Telefon gesprochen, ihn aber noch nicht persönlich kennengelernt.

»Der Einsatzleiter von MI 5 ist, soviel ich weiß, ein gewisser John Preston«, sagte Brigadegeneral Cripps. »Ist er auch hier?«

»Ich glaube, er ist noch drüben im Beobachtungsposten«, sagte Low. »In dem Haus gegenüber der Zielwohnung. Ich kann ihn anrufen und bitten, er solle durch den Hinterausgang zu uns herüberkommen.«

»Vielleicht, Sir«, sagte Captain Lyndhurst zu seinem Kommandeur, »sollte ich direkt rübergehen. Könnte dann einen ersten Blick auf die >Festung< werfen und zusammen mit diesem Preston hierher zurückkommen.«

»All right, es muß ohnehin ein Wagen hinüber«, sagte der Kommandeur.

Eine Viertelstunde später zeigte ein Polizist dem Captain vom Hügel über der Flußmündung aus die Hintertür des Hauses Nummer 9. Der neunundzwanzigjährige Captain, der noch immer Zivilkleidung trug, überquerte das unbebaute Gelände, sprang über den Gartenzaun und ging durch die Hintertür ins Haus. In der Küche stieß er auf Barney, der auf Mrs. Adrians Herd Teewasser kochte.

»Lyndhurst«, stellte der Offizier sich vor, »vom Regiment. Ist Mr. Preston hier?«

»John!« rief Barney nach oben in heiserem Flüsterton, denn das Haus war ja angeblich leer, »ein Brauner ist da und möchte Sie sprechen.«

Lyndhurst stieg die Treppe hinauf zum vorderen Schlafzimmer, wo er Preston fand und sich vorstellte. Harry Burkinshaw brummte etwas von einer Tasse Tee und ging hinaus. Der Captain blickte über die Straße auf das Haus Nummer 12.

»Unsere Information scheint noch immer Lücken zu enthalten«, sagte er in schleppendem Tonfall. »Wer genau, glauben Sie, ist dort drinnen?«

»Ich glaube, ein Sowjetagent«, sagte Preston. »Ein Illegaler, der hier unter dem Namen James Duncan Ross lebt. Mitte dreißig, mittelgroß, mittlere Statur, vermutlich sehr durchtrainiert, ein Spitzenprofi.«

Er reichte Lyndhurst das Foto, das auf der Straße in Damaskus aufgenommen war. Der Captain betrachtete es interessiert.

»Noch jemand außer ihm drüben?«

»Möglich. Wir wissen es nicht. Ross mit Sicherheit. Er könnte einen Helfer haben. Mit den Nachbarn können wir nicht sprechen. In einer solchen Siedlung verbreitet sich jedes Wort wie ein Lauffeuer. Die Leute, denen dieses Haus gehört, sagten, sie seien überzeugt, daß er allein drüben wohne. Aber beweisen können wir es nicht.«

»Und nach unseren Instruktionen glauben Sie, er sei bewaffnet, vielleicht gefährlich. Zu gefährlich für die hiesigen Polizisten, auch wenn sie Handfeuerwaffen haben, wie?«

»Ja, wir glauben, daß er eine Bombe dort drinnen hat. Er müßte unschädlich gemacht werden, ehe er an sie ran kann.«

»Bombe, aha«, sagte Lyndhurst sichtlich uninteressiert. Er hatte bereits zwei Dienstzeiten in Nordirland hinter sich. »Groß genug, um das Haus wegzublasen oder die ganze Straße?«

»Noch ein bißchen größer«, sagte Preston. »Wenn unsere Annahme stimmt, ist es eine kleine Atombombe.«

Der hochgewachsene Offizier wandte den Blick vom Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab, und seine blaßblauen Augen starrten direkt in die Prestons.

»Donnerwetter«, sagte er, »ich bin beeindruckt.«

»Immerhin etwas«, sagte Preston. »Übrigens, ich will ihn haben, und zwar lebend.«

»Fahren wir zurück zu den Docks«, sagte Lyndhurst. »Dann können Sie mit dem Kommandeur sprechen.«

Während dieses Gesprächs in Cherryhayes Close waren zwei weitere Hubschrauber aus Hereford auf dem Flugplatz gelandet, ein Puma und ein Chinook. Im ersten waren die Männer des Sturmtrupps, im zweiten die zahlreichen und geheimnisvollen Bestandteile ihrer Ausrüstung.

Dieses Team stand unter dem Befehl des Deputy Team Commander, eines altgedienten Stabsunteroffiziers namens Steve Bilbow. Er war klein, dunkel und drahtig, hatte glänzend schwarze Knopfaugen und lächelte gern. Wie alle ranghöheren Unteroffiziere im Regiment war er schon lang dabei, genau gesagt seit fünfzehn Jahren.

Auch in dieser Hinsicht ist der SAS eine Ausnahme. Die Offiziere sind fast sämtlich von ihren Stammregimentern auf Zeit abgestellt, sie bleiben im allgemeinen zwei bis drei Jahre und kehren dann wieder zu ihren Stammeinheiten zurück. Nur die Mannschaftsgrade können beim SAS bleiben, und auch nicht alle, nur die besten. Selbst der Kommandeur, der meist schon früher eine Dienstzeit beim Regiment abgeleistet hat, ist nurKommandeur auf Zeit. Die sehr wenigen langgedienten Offiziere gehören alle der Abteilung Logistik - Versorgung - Technik im Hauptquartier an.

Steve Bilbow war als einfacher Soldat von den Fallschirmjägern zum Regiment gekommen, hatte seine Dienstzeit abgeleistet, wurde wegen besonderer Verdienste für eine Verlängerung ausgesucht und hatte es bis zum Stabsunteroffizier gebracht. Er hatte die Kämpfe in Dhofar mitgemacht, in der Hitze des Dschungels von Belize geschwitzt, in zahllosen Nächten in Süd-Armagh gefroren, während sie dort im Hinterhalt lagen, und sich im Hochland von Malaya wieder erholt. Er hatte bei der Ausbildung der GSG 9 der Bundesrepublik Deutschland mitgeholfen und in Charlie Beckwiths Delta Group in Amerika gedient.

Er hatte den endlosen nervtötenden Drill während der Ausbildungszeit kennengelernt, der den Männern des SAS den höchsten Grad von Fitneß und Kampfbereitschaft gibt, und die Einsätze mit hoher Adrenalin-Ausschüttung: in den Hügeln Omans unter Rebellenbeschuß in den Schutz eines Unterstands spurten, einen getarnten Anti-Terror-Trupp gegen republikanische Scharfschützen in East Belfast führen und fünfhundert Fallschirmabsprünge absolvieren, zumeist HALOs - High Altitude, Low Opening, wobei aus großer Höhe abgesprungen und der Fallschirm erst kurz vor dem Boden geöffnet wird.

Zu seinem Kummer hatte er nur zum Reserveteam gehört, als seine Kameraden 1981 in London die iranische Botschaft stürmten, und war nicht zum Einsatz gelangt.

Der Rest des Teams bestand aus einem Fotografen, drei Aufklärern, acht Scharfschützen und neun Sturmsoldaten. Steve hoffte und betete, daß er das Sturmteam führen dürfe. Am Flugplatz waren sie von mehreren neutralen Polizeikombis abgeholt und zum Warteplatz gebracht worden. Als Lyndhurst mit Preston wieder zum Lagerhaus kam, war das Team eingetroffen und breitete vor den staunenden Blicken mehrerer Ipswicher Polizisten sein Waffenarsenal auf dem Fußboden aus.

»Hallo, Steve«, sagte Captain Lyndhurst, »alles O. K.?«

»Hallo, Boß. Ja, bestens. Machen gerade Ordnung.«

»Ich habe mir die Festung angesehen. Ein kleines Privathaus. Ein Insasse bekannt, vielleicht sind's auch zwei. Und eine Bombe. Es wird ein kleiner Sturmangriff sein, für mehr ist kein Platz. Ich möchte, daß Sie als erster reingehen.«

»Versuchen Sie mal, mich aufzuhalten, Boß«, grinste Bilbow.

Beim SAS wird mehr Wert auf Selbstdisziplin gelegt als auf Disziplin von außen. Wer diese für die Aufgaben des SAS unerläßliche Selbstdisziplin nicht aufbringt, wird bei der Truppe nicht alt. Wer sie aufbringt, hat die steife Förmlichkeit im persönlichen Umgang nicht nötig, wie sie in »Linienregimentern« Usus ist.

Offiziere sprechen daher ihre Untergebenen meist mit Vornamen an. Die Mannschaftsgrade nennen ihre zum SAS abgestellten Offiziere »Boß«, nur der Kommandeur bekommt ein »Sir«. Unter sich bezeichnen die SAS-Soldaten ihre Offiziere als »Ruperts«.

Stabsunteroffizier Bilbow erblickte Preston, und sein Gesicht leuchtete in begeistertem Grinsen auf.

»Major Preston... Himmel, lange nicht gesehen.«

Preston streckte die Hand aus und erwiderte das Lächeln.

Er hatte Steve Bilbow zuletzt gesehen, als er nach der Schießerei in Bogside in einem sicheren Haus Zuflucht gesucht hatte, wo sich auch vier SAS-Leute unter Führung Bilbows vor einem Blitzeinsatz aufgehalten hatten. Außerdem waren sie beide ehemalige Fallschirmjäger, ein Band, das nie zerreißt.

»Ich bin jetzt bei Fünf«, sagte Preston. »Einsatzleiter für diese Operation, jedenfalls soweit sie Fünf betrifft.«

»Was haben Sie Schönes für uns?« fragte Steve.

»Einen Russen. KGB-Agent, Spitzenprofi. Hat vermutlich den Spetsnaz-Kurs absolviert, also ist er gut, schnell und wahrscheinlich bewaffnet.«

»Reizend. Spetsnaz, aha! Mal sehen, wie gut sie wirklich sind.«

Alle drei Anwesenden kannten Spetsnaz, die russische Elitetruppe von Saboteuren. Das sowjetische Gegenstück zim SAS.

»Muß leider die Wiedersehensfeier stören«, sagte Lyndhurst, »aber es wird Zeit, daß wir mit der Instruktion anfangen.«

Er und Preston stiegen hinauf zum Oberstock, wo sie Brigadegeneral Cripps, Chief Superintendent Low und die Aufklärer des SAS vorfanden. Eine Stunde lang informierte Preston die Männer über alles, was er wußte, und die Gesichter wurden immer ernster.

»Haben Sie irgendeinen Beweis dafür, daß dort drüben ein nuklearer Sprengkörper steckt?« fragte Low schließlich.

»Nein, Sir. Wir konnten in Glasgow ein Zubehörteil abfangen, das für jemanden bestimmt war, der getarnt hier arbeitet. Die Jungs vom Fach sagen, es gibt überhaupt keinen anderen Verwendungszweck. Wir wissen, daß der Mann in dem Haus ein sowjetischer Illegaler ist - die Mossad hat ihn auf der Straße in Damaskus geknipst. Es paßt mit dem Geheimsender in Chesterfield zusammen. Ich bin auf Schlußfolgerungen angewiesen. Wenn das Zubehörteil aus Glasgow nicht für den Bau einer kleinen Bombe innerhalb Englands gedacht war, wozu, zum Teufel, soll es dann dienen? Ich komme zu keiner anderen sinnvollen Erklärung.

Und wenn nicht zur Zeit zwei bedeutende Geheimoperationen des KGB in England laufen, dann war dieses Zubehörteil für Ross bestimmt. Q.e.d.«

»Ja«, sagte Brigadegeneral Cripps, »ich glaube, davon müssen wir ausgehen. Wir müssen annehmen, daß das Ding dort drinnen ist. Wenn nicht, dann müssen wir ein ernstes Wort mit Ross sprechen.«

Chief Superintendent Low erlebte am hellen Tag einen Alptraum. Er sah ein, daß das Haus gestürmt werden müsse; und er versuchte sich vorzustellen, was mit Ipswich passierte, wenn die Bombe hochgehen würde.

»Könnten wir nicht evakuieren?« fragte er ohne viel Hoffnung.

»Würde ihm auffallen«, sagte Preston kurz. »Wenn er merkt, daß er am Ende ist, nimmt er uns alle mit.«

Die Soldaten nickten. Sie wußten, wenn sie in der gleichen Situation im tiefsten Rußland stecken würden, müßten sie das auch tun.

Mittag war vorüber, und niemand hatte an Lunch gedacht. Essen war überflüssig. Der Nachmittag verging mit Erkundungen und Vorbereitungen.

Steve Bilbow fuhr mit dem Fotografen und einem Polizisten zurück zum Flugplatz. Die drei flogen mit dem Hubschrauber den Orwellsund entlang, ein gutes Stück von The Hayes entfernt, aber eine Strecke, von der aus sie die Siedlung im Blick behalten konnten. Der Polizist wies auf das Haus; der Fotograf machte fünfzig Einzelaufnahmen, während Steve die Totale auf Video aufnahm, zwecks späterer Vorführung im Warteplatz.

Das gesamte Sturmteam besichtigte, noch immer in Zivil, zusammen mit der Polizei das leerstehende Haus, das genau dem Zielhaus entsprach. Als sie wieder im Warteplatz eintrafen, konnten sie die Festung auf dem Videogerät sehen und dazu die Nahaufnahmen des Fotografen.

Den restlichen Nachmittag verbrachten die Männer mit Übungen an der Nachbildung der Festung, die von den Polizisten unter Aufsicht des SAS im Lagerhaus erstellt worden war. Sie bestand nur aus Latten und Sackleinwand, aber die Maße stimmten mit dem Original genau überein und machten eine wichtige Tatsache deutlich: Der Platz innerhalb des Hauses war sehr beschränkt. Eine schmale Vordertür, eine schmale Diele, eine enge Treppe und kleine Zimmer.

Captain Lyndhurst beschloß, nur sechs Männer für die Erstürmung einzusetzen, ferner drei Scharfschützen, zwei im Schlafzimmer der Adrians und einen auf dem Hügel über dem Garten.

Zwei von Lyndhursts sechs Sturmsoldaten würden an der Hinterfront von Cherryhayes Close Nummer 12 postiert. Sie würden in voller Montur sein, aber normale Regenmäntel über ihren Kampfanzügen tragen. Ein neutraler Polizeiwagen sollte sie bis Brackenhayes Close bringen. Dort würden sie aussteigen und ohne die Erlaubnis des Besitzers zu erbitten durch den Vorgarten des Hauses gehen, dessen Rückfront an die Festung grenzte, den Seitenpfad zwischen Haus und Garage entlang und in den dahinter gelegenen Garten.

Sie würden die Regenmäntel ausziehen, über den Zaun springen und im Garten der Festung Posten beziehen.

»Im Garten könnte ein Stolperdraht aus Angelschnur ausgespannt seine, warnte Lyndhurst. »Aber vermutlich dicht an der Hinterfront des Hauses. Also Abstand halten. Sobald ihr das Signal hört, eine Blendgranate durch das Fenster des rückwärtigen Schlafzimmers und eine durchs Küchenfenster. Dann die HKs in Anschlag und weitere Befehle abwarten. Nicht in das Haus schießen; Steve und die Jungens kommen durch die Vordertür hinein.«

Die »Hintermänner« nickten. Captain Lyndhurst wußte, daß er nicht am Sturmangriff teilnehmen würde. Er war Leutnant bei den King's Dragoon Guards gewesen und mit seiner ersten Dienstzeit beim SAS zum Captain befördert worden, weil der SAS keine Offiziere unterhalb dieses Dienstranges hat. Wenn er in einem Jahr zu seiner Stammeinheit zurückkehren müßte, würde er wieder nur Leutnant sein. Aber er hoffte, später als Kommandeur zum SAS zu kommen.

Er kannte sich mit der Tradition des SAS aus, die von den Regeln der übrigen Army abweicht: Offiziere nehmen an Wüsten- oder Dschungelkämpfen teil, aber niemals an Einsätzen im Stadtbereich. Die Sturmtrupps bestehen nur aus Unteroffizieren und Schützen.

Der Hauptangriff sollte, wie Lyndhurst mit seinem Kommandeur und dem Einsatzoffizier abgesprochen hatte, an der Vorderfront erfolgen. Ein Kombi würde lautlos halten, und vier Sturmsoldaten würden aussteigen. Zwei sollten die Vordertür aufbrechen; einer mit einem Wingmaster, der andere mit einem siebenpfündigen Vorschlaghammer und wenn nötig mit einer Stahlzange.

Sobald die Tür aufgebrochen war, würde die erste Welle, bestehend aus Steve Bilbow und einem Corporal, hineinstürmen. Die »Türöffner« würden Wingmaster und Schmiedehammer fallen lassen, die HKs in Anschlag bringen und hinter dem ersten Paar in die Diele laufen.

Steve würde in der Diele an der Treppe vorbei direkt zur Tür des Wohnzimmers linker Hand laufen. Der Corporal würde die Treppe hinaufjagen und das vordere Schlafzimmer »erstürmen«. Einer der beiden Ex-Türöffner würde dem Corporal nach oben folgen, für den Fall, daß Chummy im Badezimmer wäre, der zweite sollte hinter Steve ins Wohnzimmer eindringen.

Das Signal für die beiden Männer im Hintergarten, auf das hin sie ihre Blendgranaten in die beiden rückwärtigen Räume werfen sollten, würde der Knall des Wingmaster an der Vordertür sein. Wer immer zum Zeitpunkt der Erstürmung sich in der Küche oder im rückwärtigen Schlafzimmer aufhielte, würde nicht mehr unterscheiden können, von welcher Seite der Angriff kam.

Preston, der sich bereit erklärt hatte, auf den Beobachtungsposten zurückzukehren, durfte die detaillierte Besprechung des Sturmangriffs mithören.

Er wußte bereits, daß der SAS als einzige Einheit der britischen Army seine Waffen aus einem internationalen Angebot selbst wählen durfte. Zum Nahkampf hatten sie die deutsche Heckler und Koch gewählt, eine kurzläufige NeunMillimeter-Maschinenpistole, leicht, einfach zu handhaben und sehr zuverlässig, mit einklappbarer Schulterstütze.

Im allgemeinen trugen sie die HK, geladen und gespannt, quer über der Brust, wo sie von zwei Karabinerhaken festgehalten wurde. Dadurch hatten sie die Arme frei, um Türen aufzubrechen, durch Fenster zu klettern oder Blendgranaten zu werfen. Danach genügte ein einziger Ruck, und in weniger als einer halben Sekunde war die HK in Anschlag gebracht.

Die Praxis hatte gezeigt, daß man Türen schneller öffnen konnte, indem man beide Angeln wegschoß, als durch Aufbrechen des Schlosses. Zu diesem Zweck benutzten sie vorwiegend das Repetiergewehr Remington Wingmaster, allerdings nicht mit Schrot, sondern mit Vollpatronen geladen.

Außer diesem Spielzeug braucht einer der »Türöffner« einen Schmiedehammer und eine Stahlzange, für den Fall, daß die Tür zwar aus den Angeln geschossen ist, aber auf der anderen Seite von Riegeln und einer Kette gehalten wird. Dazu kommen Blendgranaten, die bei der Explosion vorübergehend blenden und durch den Krach taub machen, aber nicht töten. Schließlich hat jeder Mann immer seine dreizehnschüssige Neun- Millimeter-Browning-Automatic an der Hüfte.

Lyndhurst betonte besonders, wie wichtig bei einem Sturmangriff das Timing sei. Er hatte als Zeitpunkt einundzwanzig Uhr fünfundvierzig angesetzt, da dann die Dämmerung bereits weit fortgeschritten, die tiefe Nacht jedoch noch nicht hereingebrochen wäre.

Er selber würde im Haus der Adrians auf der anderen Straßenseite das Zielhaus beobachten und mit dem herannahenden Kombi, der das Team transportierte, über Funk Verbindung halten. Sollte um einundzwanzig Uhr vierundvierzig ein Fußgänger die Straße entlangkommen, so könnte Lyndhurst den Fahrer des Kombi anweisen, zu »verhalten«, bis die Tür der Festung wieder sturmfrei wäre. Auf diese Weise könnte er das Eintreffen des Teams steuern. Das Polizeiauto, das die beiden »Hintermänner« zu ihren Posten im Garten bringen sollte, würde die gleiche Wellenlänge haben und die beiden Männer neunzig Sekunden vor dem Aufbrechen der Vordertür absetzen.

Und noch eine letzte Raffinesse war ihm eingefallen. Während der Kombi sich der Festung näherte, würde er Ross vom Telefon der Adrians aus anrufen. Er wußte bereits, daß in allen diesen Häusern die Telefone auf kleinen Tischchen in der Diele standen. Der Zweck war, den Sowjetagenten von seiner Bombe wegzulocken, wo immer sie sein mochte, und den Erstürmern Gelegenheit zu einem Schnellschuß zu geben.

Wie üblich sollte jeder zweimal nacheinander je zwei Schüsse abfeuern. Zwar kann die HK ihr Magazin mit dreißig Schuß in ein paar Sekunden leeren, doch die Leute des SAS sind auch unter den verwirrenden Umständen einer Geiselnahme durch Terroristen so zielsicher, daß sie sich auf zwei Feuerstöße zu je zwei Schuß beschränken können. Wer diesen vier Schüssen in die Quere kommt, hat nicht mehr viel zu melden. Und diese Sparsamkeit sorgt auch dafür, daß die Geiseln am Leben bleiben.

Unmittelbar nach der Operation sollte die Polizei mit großem Aufgebot anrücken und die aufgeregte Menge beruhigen, die unweigerlich aus der ganzen Nachbarschaft herbeiströmen würde. Ein Polizeikordon würde rings um die Hausfront gezogen, während der Sturmtrupp durch die Hintertür hinausgehen, die beiden Gärten durchqueren und wieder in den Kombi steigen würde, der in Brackenhayes Close wartete. Auch im Inneren der Festung würde die Zivilbehörde das Kommando übernehmen. Sechs Leute aus Aldermaston sollten am Abend um die Teezeit in Ipswich eintreffen.

Um sechs Uhr verließ Preston die Lagerhalle und betrat ungesehen durch die Hintertür das Haus der Adrians, den Beobachtungsposten.

»Licht ist gerade angegangen«, sagte Harry Burkinshaw, als Preston zu ihm ins vordere Schlafzimmer kam. Preston sah, daß die Vorhänge des Wohnzimmers im Haus gegenüber zugezogen waren, aber man konnte dahinter einen hellen Schimmer erkennen und reflektierte Helligkeit durch das Glas der Vordertür.

»Ich glaube, hinter den Netzgardinen im oberen Schlafzimmer hat sich etwas bewegt, kurz nachdem Sie weggingen«, sagte Barney. »Aber er hat kein Licht gemacht; natürlich nicht. Es war erst kurz nach dem Lunch. Herausgekommen ist er nicht.«

Preston rief Ginger auf seinem Hügel, aber dessen Bericht lautete genauso. Auch keine Bewegung an der Rückseite des Hauses.

»In ein paar Stunden setzt die Dämmerung ein«, sagte Ginger über Funk. »Dann wird es schwierig mit der Sicht.«

Valeri Petrofski hatte mit Unterbrechungen und nicht sehr gut geschlafen. Kurz vor ein Uhr erwachte er vollends, richtete sich im Bett auf und blickte quer durch sein Schlafzimmer und die Netzgardine auf das Haus jenseits der Straße. Nach zehn Minuten raffte er sich auf, ging ins Badezimmer und duschte.

Um zwei Uhr bereitete er sich einen frugalen Imbiß und verzehrte ihn am Küchentisch. Von Zeit zu Zeit warf er dabei einen Blick in den Hintergarten, wo eine dünne und unsichtbare Angelschnur von einer Seite zur anderen gespannt war, die über eine kleine Rolle am Gartenzaun lief und nachts durch die Hintertür ins Haus führte. Dort schlang sie sich um einen Stapel leerer Konservendosen. Wenn er außer Haus ging, lockerte er die Schnur und spannte sie wieder, sobald er heimkam. Noch hatte niemand die Blechsäule zum scheppernden Einsturz gebracht.

Der Nachmittag schritt fort. Er war nervös - nur natürlich, wenn man bedachte, was gefechtsbereit in seinem Wohnzimmer wartete -, alle seine Sinne waren angespannt. Er versuchte zu lesen, konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Moskau mußte seit nunmehr zwölf Stunden seine Botschaft haben. Er hörte eine Weile Musik aus dem Radio, dann ließ er sich um sechs Uhr im Wohnzimmer nieder. Er konnte den hellen Schein des Sommerabends auf den Fassaden der gegenüberliegenden Häuser sehen, sein Haus jedoch lag nach Osten und somit im Schatten. Von nun an würde es im Wohnzimmer immer dunkler werden. Wie immer zog er die Vorhänge zu, ehe er die Leselampen anschaltete, dann setzte er sich mangels besseren Zeitvertreibs vor den Fernsehschirm. Wie üblich wurde das Programm vom Wahlkampf beherrscht.

Im Lagerhaus, dem Warteplatz, stieg die Spannung. An dem Kombi, der den Sturmtrupp fahren sollte, einem grauen VW mit Schiebetüren, wurden letzte Vorbereitungen getroffen. Zwei Mann in Zivilkleidung würden vorne sitzen, der eine als Fahrer, der andere zur Bedienung der Funkverbindung mit Captain Lyndhurst. Die beiden überprüften die Funkgeräte zu wiederholten Malen, desgleichen jeden weiteren Ausrüstungsgegenstand.

Der Kombi würde von einem neutralen Polizeiauto zur Einfahrt nach The Hayes geleitet werden; der Fahrer des Kombi hatte sich die Anlage von The Hayes genau eingeprägt und wußte, wo es nach Cherryhayes Close ging. An der Zufahrt zu The Hayes würden sie in Reichweite des Funkgeräts kommen, das der Captain neben sich auf seinem Fensterplatz hatte. Die Rückwand des Kombi war mit Schaumstoff gepolstert worden, damit man das Klirren von Metall gegen Metall nicht hören könnte.

Das Sturmteam war dabei, sich »auszurüsten«. Jeder der Männer zog den einteiligen schwarzen Rennfahreranzug aus feuerfestem Material über. Im letzten Moment würde noch ein Kopf- und Gesichtsschutz aus beschichtetem schwarzen Stoff hinzukommen. Danach legten sie ihre Rüstung an, ein superleichtes Gewirk aus Kevlar, hergestellt von British Armour, das die Auftreffwucht von Geschossen abfängt und seitwärts von der Einschlagstelle verteilt. Unter das Kevlar stopften die Männer die »Trauma-Kissen« aus Keramik, die den Anprall noch wirksamer dämpfen sollten.

Über das ganze kamen die Riemen, an denen die HK, die Blendgranaten und die Faustfeuerwaffe befestigt wurden. An den Füßen trugen die Männer die traditionellen Wüstenstiefel, knöchelhoch und mit dicken Gummisohlen, bekannt als »Wüstlinge«, und von einer Farbe, die man nur als »dreckig« bezeichnen kann.

Captain Lyndhurst sprach noch einmal mit jedem einzelnen Mann, am längsten mit seiner Nummer zwei, Steve Bilbow. Selbstverständlich wünschte er ihnen nicht etwa »viel Glück«; alles andere, nur das nicht. Dann begab sich der Kommandeur zum Beobachtungsposten.

Er betrat das Haus der Adrians kurz nach zwanzig Uhr. Preston konnte die Spannung fühlen, die von dem Mann ausging. Um zwanzig Uhr dreißig klingelte das Telefon. Barney war gerade in der Halle und ging hin. Im Lauf des Tages waren bereits mehrere Anrufe gekommen. Preston hatte entschieden, daß es keinen Sinn habe, sich nicht zu melden; jemand hätte dann persönlich vorbeikommen können. Die Anrufer erhielten den Bescheid, die Adrians seien für einen Tag zu Mrs. Adrians Mutter gezogen, und am Apparat sei einer der Maler, die das Wohnzimmer renovierten. Alle Anrufer hatten sich damit zufriedengegeben. Als Barney abhob, kam Captain Lyndhurst gerade mit einer Tasse Tee aus der Küche.

»Für Sie«, sagte Barney und ging wieder nach oben.

Von einundzwanzig Uhr an wuchs die Spannung ständig. Lyndhurst verbrachte die meiste Zeit am Funkgerät, das ihn mit der Lagerhalle verband; von dort fuhr um einundzwanzig Uhr fünfzehn der graue Kombi hinter seinem Polizeilotsen nach The Hay es ab. Um einundzwanzig Uhr dreißig hatten beide Fahrzeuge die Zufahrt zur Belstead Road erreicht, zweihundert Yards vom Ziel entfernt. Dort mußten sie anhalten und warten. Um einundzwanzig Uhr einundvierzig trat Mr. Armitage vor seine Tür, um vier leere Milchflaschen hinauszustellen.

Lästigerweise schritt er über den Rasen, um die in der Mitte aufgestellte Blumenschale in der immer tiefer werdenden Dunkelheit eingehend zu inspizieren. Dann grüßte er einen Nachbarn über der Straße.

»Geh schon wieder rein, alter Narr«, flüsterte Lyndhurst, der im Wohnzimmer stand und über die Straße auf das Licht hinter den Vorhängen der Festung spähte. Um einundzwanzig Uhr zweiundvierzig stand das Polizeiauto mit den beiden »Hintermännern« wartend an der bezeichneten Stelle in Brackenhayes. Zehn Sekunden später rief Mr. Armitage seinem Nachbarn »Gute Nacht« zu und verschwand in seinem Haus.

Um einundzwanzig Uhr dreiundvierzig fuhr der graue Kombi in Gorsehayes Close ein, der Zufahrt zu der ganzen Siedlung. Preston, der in der Diele neben dem Telefon stand, konnte die Gespräche zwischen dem Kombifahrer und Lyndhurst hören.

Der Kombi rollte langsam und leise auf die Einmündung von Cherryhayes zu.

Noch immer war kein Fußgänger auf dem Weg. Lyndhurst befahl den beiden »Hintermännern«, aus ihrem Polizeiwagen auszusteigen und sich in Bewegung zu setzen.

»Ankunft Cherryhayes fünfzehn Sekunden«, murmelte der Beifahrer im Kombi.

»Langsamer, noch dreißig Sekunden Zeit«, erwiderte Lyndhurst. Zwanzig Sekunden später sagte er: »Jetzt einfahren.«

Sehr langsam glitt der Kombi um die Ecke, nur die Begrenzungslichter brannten. »Acht Sekunden«, sagte Lyndhurst leise ins Funkgerät, dann flüsterte er Preston hastig zu: »Jetzt wählen.«

Der Kombi fuhr Cherryhayes Close entlang, vorbei an der Tür von Nummer 12 und hielt vor Mr. Armitages Blumenschale. Es war wohlüberlegt. Die Angreifer wollten sich der Festung von der Seite her nähern. Die geölte Gartentür öffnete sich, und im Dunkeln bewegten sich völlig lautlos vier Männer. Kein Gerenne, kein Stiefeltrampeln, keine heiseren Rufe. In langgeübter Ordnung marschierten sie ruhig über Mr. Armitages Rasen, um Mr. Ross' geparkten Wagen herum und zur Vordertür von Nummer 12. Der Mann mit dem Wingmaster wußte, auf welcher Seite die Türangeln waren. Noch ehe er stehenblieb, hatte er das Gewehr im Anschlag. Er machte die genaue Lage der Angeln aus und zielte sorgfältig. Neben ihm wartete eine zweite Gestalt, die bereits mit dem Schmiedehammer ausholte. Hinter den beiden standen Steve und der Corporal, die HKs schußbereit.

Major Valeri Petrofski saß unruhig in seinem Wohnzimmer. Er konnte sich nicht auf das Fernsehen konzentrieren; seine Sinne fingen zu vieles auf - das Klirren von Milchflaschen, die vor eine Tür gestellt wurden, das Miauen einer Katze, das weit entfernte Knattern eines Motorrads, das Tuten eines Frachters, der jenseits des Tals in den Orwellsund einfuhr.

Um einundzwanzig Uhr dreißig war wiederum eine aktuelle Sendung auf dem Programm gewesen, weitere Interviews mit Ministern und solchen, die es zu werden hofften. Ärgerlich schaltete er auf BBC 2 um, nur um von dort alles über Vögel zu erfahren. Er seufzte. Immer noch besser als Politik.

Die Sendung war kaum zehn Minuten gelaufen, als er hörte, wie Armitage nebenan seine leeren Milchflaschen hinausstellte. Immer die gleiche Anzahl und immer um die gleiche Zeit, dachte er. Dann rief der alte Narr jemandem über der Straße etwas zu. In diesem Moment erweckte etwas auf dem Bildschirm Petrofskis Aufmerksamkeit, und er blickte gebannt auf die Szene. Die Reporterin sprach mit einem schlanken Mann, der eine flache Mütze trug, über seine große Leidenschaft, offensichtlich Tauben. Er hielt eine Taube vor der Kamera hoch, ein schönes Tier mit glänzendem Gefieder und eigenartig gefärbtem Kopf und Schnabel.

Mit einem Ruck richtete Petrofski sich kerzengerade auf und konzentrierte sich fast nur noch auf den Vogel, während er mit halbem Ohr dem Interview lauschte. Er war überzeugt, daß er einen solchen Vogel früher schon einmal irgendwo gesehen hatte.

»Soll dieser hübsche Vogel auf einer Ausstellung gezeigt werden?« fragte die Reporterin. Sie war neu, ein bißchen zu clever, und versuchte, mehr aus dem Interview herauszuholen, als es hergab.

»Du lieber Gott, nein«, sagte der Mann mit der Mütze, »das ist keine Liebhaberzüchtung. Das ist eine Westcott.«

Ein Blitz der Erinnerung durchzuckte Petrofski. Vor sich sah er das Zimmer in der Gästesuite der Datscha des Generalsekretärs in Usowo. »Hab' sie letzten Winter auf der Straße gefunden..« hatte der vertrocknete alte Engländer gesagt, und der Vogel hatte mit glänzenden klugen Augen aus seinem Käfig gelinst.

»Also nicht die Art, wie man sie in der Stadt zu sehen kriegt...« meinte die Frau auf dem Fernsehschirm. Sie war hoffnungslos ins Schwimmen gekommen. In diesem Augenblick klingelte das Telefon in Petrofskis Diele...

Normalerweise hätte er sich gemeldet, falls es ein Nachbar gewesen wäre. Im Haus brannte Licht, also würde es Verdacht erwecken, wenn niemand abnahm. Aber er blieb sitzen und starrte auf das Bild. Das Telefon klingelte hartnäckig weiter. Zusammen mit dem Fernsehen übertönte es das leise Tappen von Gummisohlen auf dem Pflaster.

»Das will ich meinen«, erwiderte der Mann mit der Mütze fröhlich. »Eine Westcott ist keine Streunerin. Sie gehört zu den besten Fliegern der Welt. Diese kleine Schönheit wird immer in den Schlag zurückflitzen, von dem sie aufgelassen wurde. Deshalb benützt man sie als Brieftaube.«

Petrofski sprang mit einem Wutschrei von seinem Sessel hoch. Zugleich mit ihm fuhr die große Sako-Präzisionspistole, die er seit seiner Ankunft in England immer bei sich hatte, aus ihrem Platz zwischen Sitzkissen und Seitenlehne. Er stieß ein einziges kurzes Wort auf russisch hervor. Niemand hörte es, aber es bedeutete »Verräter«.

In diesem Augenblick ertönte ein Krachen, dann ein zweites, so schnell nacheinander, daß es wie ein einziges klang. Zugleich hörte er das Splittern des Glases an seiner Vordertür, von der Rückseite des Hauses zwei gewaltige Donnerschläge und Getrampel in der Diele. Petrofski fuhr zur Tür des Wohnzimmers herum und schoß dreimal. Seine Sako Triace, auf die drei auswechselbare Läufe aufgesetzt werden konnten, war mit dem großkalibrigsten Lauf bestückt. Sie hatte fünf Patronen im Magazin. Er beließ es bei drei Schüssen; vielleicht würde er die beiden letzten für sich selber brauchen. Aber die drei, die er abfeuerte, schlugen durch die dünne Holzfüllung der geschlossenen Tür hinaus in die Diele.

Die Bewohner von Cherryhayes Close werden ihr ganzes Leben lang immer wieder erzählen, was in jener Nacht geschah, aber keiner wird es völlig richtig wiedergeben.

Das Donnern des Wingmaster, der beide Angeln aus der Tür brach, riß sie alle von den Stühlen. Sofort nach dem Feuern trat der Schütze beiseite und zurück, um seinen Kameraden Platz zu machen. Ein Hieb mit dem Schmiedehammer, und Schloß, Riegel und Kette auf der anderen Türseite flogen in alle Richtungen. Dann trat auch der zweite Mann zurück und zur Seite. Beide ließen ihr Gerät fallen und zückten die HKs.

Steve und der Corporal waren bereits durch die Öffnung ins Haus gelaufen. Der Corporal war mit drei Sprüngen die Treppe hinauf, hinter ihm der Mann, der den Hammer geschwungen hatte. Steve rannte an dem noch immer klingelnden Telefon vorbei bis zum Wohnzimmer, wandte sich zur Tür und wurde glatt umgeblasen. Die drei Kugeln, die die Tür durchschlagen hatten, trafen ihn mit einem hörbaren »Plopp« und schleuderten ihn gegen das Treppengeländer. Der Mann mit dem Wingmaster stellte sich neben die noch immer geschlossene Tür und gab zwei Feuerstöße ab. Dann stieß er die Tür mit dem Fuß auf, schlug eine Rolle und landete in Kauerstellung ein gutes Stück innerhalb des Zimmers.

Beim Knall der Gewehrschüsse öffnete Captain Lyndhurst die Vordertür auf der anderen Straßenseite und spähte hinaus. Preston stand hinter ihm. In der erleuchteten Diele gegenüber sah der Captain seinen stellvertretenden Teamführer zur Wohnzimmertür laufen und wie eine Stoffpuppe durch die Luft segeln. Lyndhurst setzte zum Spurt an. Preston folgte ihm.

Gerade als der Soldat, der die beiden Feuerstöße abgegeben hatte, aufsprang und sich über die reglose Gestalt auf dem Teppich beugte, erschien Captain Lyndhurst unter der Tür. Trotz der Schwaden von Korditrauch erfaßte er die Szene mit einem einzigen Blick.

»Gehen Sie raus und helfen Sie Steve«, befahl er in scharfem Ton. Der Soldat widersprach nicht. Der Mann auf dem Teppich begann sich zu regen. Lyndhurst zog seine Browning-Automatic unter dem Jackett hervor.

Der Soldat hatte git gezielt. Petrofski hatte einen Schuß ins linke Knie abgekriegt, einen in die untere Magenpartie und einen in die rechte Schulter. Seine Pistole war quer durchs Zimmer geflogen. Trotz der Ablenkung durch das Holz in der Tür hatte der Soldat mit dreien von vier Schüssen getroffen.

Petrofski litt grauenvoll, aber er lebte. Er fing an zu kriechen.

Ein paar Meter entfernt konnte er den grauen Stahlschrank sehen, daneben den flachen Kasten, die beiden Knöpfe, einer gelb, einer rot. Captain Lyndhurst zielte sorgfältig und gab einen Schuß ab.

John Preston rannte so schnell an dem Offizier vorbei, daß er an dessen Hüfte stieß. Er kniete neben dem Mann auf dem Teppich nieder. Petrofski lag auf der Seite, der halbe Hinterkopf war weggeschossen, der Mund bewegte sich wie bei einem Fisch auf dem Trockenen. Preston beugte sich tief über den Sterbenden. Lyndhurst hatte die Waffe noch immer auf das »Ziel« gerichtet, aber der Mann von MI5 war zwischen ihm und dem Russen. Lyndhurst trat ein Stück zur Seite, um sicherer zu treffen, dann ließ er die Waffe sinken.

Preston stand auf. Ein zweiter Schuß war nicht mehr nötig.

»Wir sollten die Burschen von Aldermaston holen, damit sie sich das da mal ansehen«, sagte Lyndhurst und wies auf den Stahlbehälter in der Ecke.

»Ich wollte ihn lebend haben«, sagte Preston.

»Tut mir leid, alter Junge. War nicht zu machen«, sagte der Captain.

In diesem Moment fuhren beide Männer beim Geräusch eines lauten Klickens hoch, und eine Stimme sprach von der Anrichte her zu ihnen. Sie sahen ein großes Radiogerät mit Zeiteinstellung, das sich automatisch eingeschaltet hatte. Die Stimme sagte:

»Guten Abend. Hier Radio Moskau. Wir bringen die Nachrichten in englischer Sprache. Die Zeit: zweiundzwanzig Uhr. In Terry... Verzeihung, ich beginne nochmals. In Teheran erklärte die Regierung heute... «

Captain Lyndhurst trat zur Anrichte und schaltete das Radio ab. Der Mann auf dem Teppich starrte mit blicklosen Augen auf das Muster. Die codierte Botschaft, die für ihn allein bestimmt war, erreichte ihn nicht mehr.