2. Kapitel

 

Sir Nigel hatte recht behalten. Auch am Donnerstag, dem letzten Apriltag, ergab sich aus den Unmengen von Computerausdrucken über Ostblockbürger, die in den letzten vierzig Tagen von irgendeinem Ausgangspunkt zu wiederholten Malen nach England einreisten, noch immer kein Muster.

Auch kein Muster aus den Informationen über Personen anderer Nationalitäten, die während dieser Zeitspanne aus Ostblockländern eingereist waren.

Lediglich ein paar Reisepässe waren aus verschiedenen Gründen beanstandet worden, aber auch das änderte die Lage nicht. Jeder dieser Pässe war überprüft, der jeweilige Inhaber bis auf die Haut durchsucht worden, und das Resultat blieb gleich Null. Drei Pässe waren aufgetaucht, die auf der Fahndungsliste standen; zwei der Paßinhaber waren Ausgewiesene, die wieder ins Land wollten, der dritte war eine amerikanische Unterweltfigur aus der Glücksspiel- und Drogenszene. Auch diese drei wurden gründlich durchsucht, ehe man sie ins nächste Flugzeug Richtung Heimat setzte, aber es fand sich nicht die Spur eines Hinweises, daß sie Kuriere im Dienste Moskaus gewesen sein könnten.

Wenn sie Leute aus westlichen Staaten benutzen oder bereits hier ansässige Illegale mit einwandfreien Papieren von Bürgern westlicher Staaten, dann werde ich nie fündig, dachte Preston.

Sir Nigel hatte wiederum auf seine langjährige Freundschaft mit Sir Bernard Hemmings gesetzt, um sich der Mitarbeit von »Fünf« zu versichern.

»Ich habe Gründe zu der Annahme, daß die Moskauer Zentrale versuchen wird, in den nächsten paar Wochen einen wichtigen Illegalen bei uns einzuschleusen«, hatte er gesagt. »Nur, Bernard, weiß ich weder, wer er ist, noch wie er aussieht und wo er einreisen wird. Jeden Hinweis, den Ihre Kontakte an den Einreiseorten uns geben könnten, wüßten wir sehr zu schätzen.«

Sir Bernard hatte das Ansuchen als einen Auftrag für »Fünf« akzeptiert, und die übrigen Behörden - Zoll, Einwanderung, Special Branch und Hafenpolizei - erklärten sich bereit, beide Augen offenzuhalten, für den Fall, daß ein Ausländer versuchen sollte, die Kontrollen zu umgehen oder daß in einem Gepäckstück irgendein mysteriöser Gegenstand auftauchte.

Die Erklärung war durchaus plausibel, und nicht einmal Brian Harcourt-Smith brachte sie mit John Prestons Bericht über die Poloniumscheibe in Verbindung, der noch immer in seinem »Unerledigt«-Korb lag, während er überlegte, was er damit anfangen solle.

Am 1. Mai kam der Wohnwagen in Dover an. Er hatte Nummernschilder der Bundesrepublik Deutschland und war mit der Fähre aus Calais gelandet. Besitzer und Fahrer, dessen Papiere tadellos in Ordnung waren, war Helmut Dorn, und mit ihm reisten seine Frau Lisa und zwei Kinder, der fünfjährige flachsblonde Uwe und die siebenjährige Brigitte.

Nach der Paßkontrolle fuhr der Wohnwagen auf die grüne Spur für Reisende, die nichts zu verzollen hatten, aber einer der wartenden Beamten hielt ihn an. Nach nochmaliger Prüfung aller Papiere wollte der Beamte einen Blick ins Wageninnere werfen. Herr Dorn machte keine Schwierigkeiten.

Die beiden Kinder spielten im Wohnteil und hörten auf, als der uniformierte Zollbeamte eintrat. Er nickte und lächelte ihnen zu; sie kicherten. Er sah sich in dem sauberen und ordentlichen Raum um, dann fing er an, die Schränke zu öffnen. Falls Herr Dorn nervös war, verbarg er es gut.

Die meisten Schränke enthielten die übliche Ausrüstung einer Familie auf Campingurlaub: Kleider, Kochgeschirr und so weiter. Der Zollbeamte klappte die Banksitze hoch, unter denen sich Truhen als zusätzlicher Aufbewahrungsraum befanden. Eine davon war offensichtlich die Spieltruhe der Kinder. Sie enthielt zwei Puppen, einen Teddybären und eine Sammlung leuchtend bunter weicher Gummibälle mit großen grellen Bildern.

Das kleine Mädchen hatte alle Schüchternheit abgelegt und holte eine der Puppen heraus. Das Kind plapperte aufgeregt auf deutsch auf den Zollbeamten ein. Er verstand sie nicht, aber er nickte und lächelte.

»Very nice, love«, sagte er. Dann trat er aus der Hintertür und wandte sich an Herrn Dorn.

»In Ordnung, Sir. Schönen Urlaub.«

Der Wohnwagen rollte aus dem Schuppen zur Straße in Richtung Dover und der Autobahnen nach Kent und London.

»Gott sei Dank«, flüsterte Dorn seiner Frau zu. »Wir sind durch.«

Sie beugte sich über die Landkarte, die nicht schwierig zu lesen war. Die M20 nach London war so deutlich eingezeichnet, daß man sie unmöglich verfehlen konnte. Dorn sah mehrmals auf die Uhr. Er hatte ein bißchen Verspätung, aber die Anweisung hatte gelautet, er dürfe unter keinen Umständen die Geschwindigkeitsbegrenzung überschreiten.

Sie fanden ohne Schwierigkeit das Dorf Charing links der Hauptstraße und ein Stück weiter nördlich das Rasthaus Happy Eater. Dorn bog auf den Parkplatz ein und hielt an. Lisa Dorn holte die Kinder aus dem Wagen und führte sie zu einem Imbiß ins Café. Dorn öffnete weisungsgemäß die Motorhaube und steckte den Kopf darunter. Ein paar Sekunden später fühlte er, daß jemand neben ihm stand, und blickte auf. Er sah einen jungen Engländer im schwarzledernen Motorraddreß.

»Stimmt etwas nicht?« fragte der junge Mann.

»Muß wohl der Vergaser sein«, sagte Dorn.

»Nein«, sagte der Motorradfahrer ernst, »ich glaube, es ist der Verteiler. Außerdem kommen Sie zu spät.«

»Tut mir leid, die Fähre ist schuld. Und der Zoll. Ich habe das Ding drinnen.«

Im Wohnwagen zog der Motorradfahrer einen Segeltuchsack aus der Jacke, während Dorn ächzend und mit Mühe einen der Kinderbälle aus der Spielzeugtruhe hievte.

Der Ball hatte nur etwa zwölf Zentimeter Durchmesser, aber er wog über zwanzig Kilo. Reines Uran 235 ist schließlich doppelt so schwer wie Blei.

Als Valeri Petrofski den Beutel über den Parkplatz zu seinem Motorrad trug, mußte er seine ganze nicht unbeträchtliche Kraft aufbieten, um den Beutel lässig in einer Hand zu halten, als sei nichts Besonderes darin. Aber ihn beobachtete sowieso niemand. Dorn stellte den Motor ab und ging zu seiner Familie in das Café.

Das Motorrad mit seiner Fracht hinter dem Sattel donnerte in Richtung London, den Dartford Tunnel und Suffolk davon. Kurier Nummer sechs hatte geliefert.

Am 4. Mai begriff Preston, daß er auf dem Holzweg war. Die Suche dauerte nun schon fast drei Wochen und hatte noch immer nichts zutage gefördert als eine einzelne Poloniumscheibe, die ihm durch einen puren Glückstreffer in die Hände gefallen war. Wie er sehr wohl wußte, konnte er unmöglich darum nachsuchen, daß jeder Besucher bei der Einreise nach England bis auf die Haut gefilzt werde. Er konnte allenfalls eine verstärkte Überprüfung aller einreisenden Ostblockbürger fordern und sofortige Meldung an ihn persönlich, sobald ein verdächtiger Paß vorgelegt würde. Und es gab noch eine weitere und letzte Chance.

Nach dem Gutachten der Kernphysiker von Aldermaston mußten drei der Zubehörteile, die selbst für eine sehr primitive Atombombe unerläßlich sind, sehr schwer sein. Erstens ein Block puren Urans 235; zweitens ein zylindrischer oder kugelförmiger, einen Zoll dicker Schutzmantel aus gehärtetem dehnungsfestem Stahl, drittens eine gleichfalls einzöllige und ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter lange Röhre aus dem gleichen Material, dreizehn Kilo schwer.

Preston vermutete, daß zumindest diese drei Dinge in Fahrzeugen ins Land gebracht werden müßten, und bat daher um verstärkte Überprüfung ausländischer Fahrzeuge, wobei besonders auf Gegenstände zu achten sei, die einem Ball, einer Kugel und einer Röhre glichen und extrem schwer seien.

Er wußte, wie ausgedehnt das Suchgebiet war. Ein Strom von Motorrädern, Pkws, Kombis, Lastwagen und Sattelschleppern floß Tag für Tag das ganze Jahr hindurch in beiden Richtungen über die Grenzen. Allein der Warenverkehr würde, wenn man jeden Lastwagen anhalten und durchsuchen wollte, das ganze Land nahezu lahmlegen. Er suchte die sprichwörtliche Nadel im Heuschober, und er hatte nicht einmal einen Magnet.

Bei George Berenson machte sich der Streß allmählich bemerkbar. Seine Frau war wieder auf den stolzen Landsitz ihres Bruders in Yorkshire zurückgekehrt, Berenson hatte zwölf Sitzungen mit den Leuten vom Ministerium hinter sich und für sie jedes einzelne Dokument identifizieren müssen, das er jemals an Jan Marais weitergegeben hatte. Er wußte, daß er unter Beobachtung stand, und seine Nerven wurden davon nicht besser.

Auch nicht von dem täglichen Gang ins Ministerium und von dem Gedanken, daß sein beamteter Unterstaatssekretär, Sir Peregrine Jones, von seinem Verrat wußte. Den Rest aber gab ihm die Tatsache, daß er nach wie vor gelegentlich Sendungen mit angeblich aus dem Ministerium entwendeten Dokumenten an Jan Marais zur Weiterleitung nach Moskau schicken mußte. Seit er wußte, daß der Südafrikaner Sowjetagent war, hatte er eine persönliche Begegnung vermieden. Aber er mußte alles lesen, was er via Marais nach Moskau gehen ließ, für den Fall, daß Marais ihn zwecks Klärung irgendeiner Einzelheit in bereits abgeschicktem Material anrufen sollte.

Immer wenn er die Papiere las, die er weitergeben mußte, beeindruckte ihn die Geschicklichkeit der Fälscher. Jedes Schriftstück basierte auf einem echten Dokument, das wirklich über seinen Schreibtisch gegangen war, enthielt aber eine Reihe von Veränderungen, die so raffiniert eingearbeitet waren, daß sie im einzelnen nicht auffielen, im ganzen jedoch einen völlig falschen Eindruck von der Stärke und Einsatzbereitschaft Englands und der NATO vermittelten.

Am Mittwoch, dem 6. Mai, erhielt und las er ein Bündel von sieben Schriftstücken über die neuesten Beschlüsse, Vorschläge, Konferenzen und Anfragen, die ihm angeblich im Lauf der letzten vierzehn Tage zugegangen waren. Alle trugen die Vermerke Top Secret oder Cosmic. Bei der Lektüre eines dieser Papiere stutzte er. Er brachte sie noch am selben Abend in Benottis Eisdiele, und vierundzwanzig Stunden später erhielt er den Anruf, der ihr Eintreffen bestätigte.

Am folgenden Sonntag, dem 10. Mai, kauerte Valeri Petrofski in der Abgeschlossenheit seines Schlafzimmers in Cherryhayes Close an seinem starken Transistorgerät und lauschte auf den Strom von Morsesignalen auf der Welle Moskau, die er weisungsgemäß eingestellt hatte.

Von sich aus konnte er nicht senden; Moskau würde niemals zulassen, daß ein wertvoller Illegaler sich durch eigene Funkbotschaften in Gefahr brächte, denn die Qualität der britischen und amerikanischen Funküberwachung war bekannt. Petrofski hatte ein sehr großes handelsübliches Braun-Radio, das fast jeden Kanal der Welt hereinholen konnte.

Er saß in gespannter Erwartung da. Es war einen Monat her, daß er über Poplar den Verlust eines Kuriers und dessen Lieferung gemeldet und um Ersatz gebeten hatte. An jedem zweiten Abend und den darauffolgenden Vormittagen hatte er, wenn er nicht mit dem Motorrad unterwegs war, um etwas abzuholen, auf die Antwort gewartet. Bisher war sie nicht gekommen.

An diesem Abend um zweiundzwanzig Uhr zehn kam endlich sein Signal über den Äther. Block und Stift lagen bereit. Nach einer Pause begann die Botschaft. Er warf die Morsezeichen gleich in Englisch aufs Papier, ein Gewirr unentzifferbarer Buchstaben. Zumindest die Deutschen, Briten und Amerikaner würden auf ihren jeweiligen Lauschposten die gleichen Buchstaben aufzeichnen.

Als die Botschaft beendet war, schaltete er das Gerät ab, setzte sich an seinen Toilettentisch, suchte den passenden Einmalcode heraus und fing an zu dechiffrieren. In einer Viertelstunde hatte er den Text: Feuervogel zehn ersetzt Zwei TZ. Es wurde dreimal wiederholt.

Er kannte Treff zehn. Er war einer der Reservetreffs, nur für den Notfall, der jetzt eingetreten war. Und der Ort war ein Flughafenhotel. Ihm waren Rasthäuser oder Bahnhöfe lieber, aber er wußte, daß manche Kuriere aus beruflichen Gründen nur in London verfügbar waren und nur wenig Zeit hatten.

Und er hatte noch ein Problem. Der Treff mit Kurier zehn lag zwischen zwei anderen Verabredungen und gefährlich nah an der Begegnung mit Kurier sieben.

Zehn mußte er zur Frühstückszeit im Hotel Post House von Heathrow treffen; Sieben würde am selben Vormittag um elf Uhr auf einem Hotelparkplatz außerhalb Colchester warten. Das bedeutete eine Parforce-Fahrt, aber es war zu schaffen.

Am Donnerstag, dem 12. Mai, brannten noch spätabends in Downing Street Nummer 10, Amts- und Wohnsitz der britischen Premierminister, alle Lichter. Mrs. Margaret Thatcher hatte für eine Strategiesitzung ihre engsten Ratgeber und das innere Kabinett einberufen. Einziger Punkt der Tagesordnung waren die kommenden Wahlen; eine förmliche Beschlußfassung und Festlegung des Wahltermins.

Wie üblich machte sie ihren eigenen Standpunkt von Anfang an klar. Sie hielt es für richtig, eine dritte Amtsperiode anzustreben, obwohl sie nach der Verfassung noch bis Juni 1988 Regierungschefin bleiben könnte. Einige der Anwesenden bezweifelten sogleich, daß es klug wäre, schon so früh Neuwahlen auszuschreiben, aber aus langjähriger Erfahrung bezweifelten sie auch, daß sie mit ihren Bedenken sehr weit kommen würden. Wenn die britische Premierministerin etwas »im Gefühl« hatte, dann bedurfte es schon sehr starker Argumente, um sie davon abzubringen. In der vorliegenden Frage schien die Statistik ihr recht zu geben.

Der Vorsitzende der Konservativen Partei lieferte prompt alle Resultate der demoskopischen Umfragen. Die Allianz von Liberalen und Sozialisten, so erklärte er, schien noch immer bei zwanzig Prozent der Wählerschaft in Gunst zu stehen.

Da England weder den Zweiten Wahlgang kennt, wie ihn die Franzosen haben, noch das Proportionalsystem der Iren, sondern jeder Wahlkreis an den Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl fällt, würde die Allianz voraussichtlich zwischen fünfzehn und zwanzig Sitze erhalten. Von den siebzehn nordirischen würden vermutlich zwölf an verschiedene unionistische Gruppierungen fallen, die im Parlament die Konservativen unterstützen, und fünf an die Nationalisten, die London boykottieren oder mit der Harten Linken stimmen. Blieben 613 Wahlkreise, in denen sich der traditionelle Kampf zwischen Konservativen und Labour abspielen würde. Für eine klare Mehrheit müßte Mrs. Thatcher 325 dieser Wahlkreise bekommen.

Ferner hätten die Umfragen gezeigt, dozierte der Parteivorsitzende weiter, daß Labour nur vier Prozentpunkte hinter den Konservativen liege. Seit dem Juni 1983, als sie zu ihrem neuen Image von Einigkeit, Mäßigung und Toleranz fand, habe die Labour Party um volle zehn Prozentpunkte aufgeholt.

Die Harte Linke sei fast verstummt, die verrückte Linke verpönt, die programmatische Linie moderat, und die Fernsehauftritte von Mitgliedern des Schattenkabinetts seien seit einem Jahr fast ausschließlich von Vertretern der Mitte bestritten worden. Die Engländer hätten beinahe wieder volles Vertrauen zur Labour Party als der Alternative zur Regierungspartei.

Der Vorsitzende wies seine feierlich lauschenden Kollegen darauf hin, daß der Vorsprung der Konservativen um zwei Prozentpunkte niedriger sei als vor einem halben Jahr und einen Punkt niedriger als vor drei Monaten. Der Trend sei klar. Es sei der gleiche Trend, wie ihn die Parteiorganisation aus den Wahlkreisen melde.

Die Wirtschaftsindikatoren zeigten, daß zwar zur Zeit eine wirtschaftliche Schönwetterlage herrsche und die Arbeitslosenzahl saisonbedingt zurückgehe, daß indes für den Herbst auf dem öffentlichen Sektor mit Streiks zur Durchsetzung von Lohnforderungen gerechnet werden müsse. In der Folge könnte die Popularitätskurve der Konservativen jäh abfallen und den ganzen Winter über nicht wieder ansteigen.

Um Mitternacht war man sich einig, daß es der Sommer 1987 sein mußte oder erst wieder der Juni 1988. Keine Wahlen im Herbst oder Vorfrühling. In den frühen Morgenstunden hatte dann die Premierministerin ihr Kabinett überzeugt. Nur über einen Punkt wurde noch hitzig debattiert - die Dauer des Wahlkampfes.

In England finden die Parlamentswahlen traditionsgemäß nach vierwöchentlichem Wahlkampf an einem Donnerstag statt. Es kommt selten vor, widerspricht jedoch nicht der Verfassung, daß ein Wahlkampf auf drei Wochen abgekürzt wird. Die Premierministerin war instinktiv für einen dreiwöchentlichen Wahlkampf, für eine Überraschungswahl, so daß die Opposition überrumpelt und unvorbereitet sein würde.

Endlich kam man überein: Mrs. Thatcher würde für Donnerstag, den 28. Mai, um eine Audienz bei der Königin nachsuchen und die Auflösung des Parlaments fordern. Der Tradition folgend, würde sie anschließend in die Downing Street zurückkehren, um von dort eine öffentliche Verlautbarung ergehen zu lassen. Mit diesem Moment würde der Wahlkampf beginnen. Wahltag: Donnerstag, der 18. Juni.

Am Spätnachmittag, während die Minister noch schliefen, brauste die große BMW aus Nordosten auf London zu. Petrofski fuhr zum Hotel Post House in Heathrow, stellte seine Maschine auf den Parkplatz, schloß sie ab und verwahrte den Sturzhelm im Koffer hinter dem Sitz.

Er schlüpfte aus der schwarzen Lederjacke und der Hose mit den seitlichen Reißverschlüssen. Darunter trug er eine gewöhnliche graue Flanellhose, zerknittert, aber unauffällig. Die Stiefel warf er in eine der Satteltaschen, der er ein Paar Straßenschuhe entnommen hatte. Den Lederanzug stopfte er in die andere Satteltasche, aus der ein neutrales Tweedjakkett und ein beiger Regenmantel zum Vorschein gekommen waren. Als er die Empfangshalle des Hotels betrat, war er ein ganz gewöhnlicher Mann in einem ganz gewöhnlichen Regenmantel.

Karel Wosniak hatte nicht gut geschlafen. Erstens hatte ihm der vergangene Abend den Schock seines Lebens beschert. Normalerweise wurden die Crews der polnischen Fluglinie LOT, bei der er als Obersteward arbeitete, unbehelligt durch den Zoll und die Paßkontrolle geschleust. Diesmal waren sie durchsucht worden, wirklich durchsucht. Als der britische Zollbeamte, der ihn abfertigte, in seinem Waschbeutel zu graben anfing, wurde ihm beinah schlecht vor Angst. Als der Mann den Elektrorasierer hervorzog, den die SB-Leute ihm vor dem Abflug in Warschau gegeben hatten, wäre er fast in Ohnmacht gefallen. Glücklicherweise war es kein batteriebetriebener oder aufladbarer Apparat. Eine Steckdose war nicht vorhanden, so daß man ihn nicht in Betrieb setzen konnte. Der Beamte hatte ihn wieder in den Beutel gelegt und die Suche ohne Ergebnis beendet. Wosniak vermutete, daß der Apparat nicht reagiert hätte, wenn jemand ihn wirklich angeschaltet hätte. Schließlich mußte außer dem üblichen Motor noch irgend etwas darin stecken. Warum hätte er ihn sonst nach London bringen müssen?

Punkt acht Uhr betrat er den Waschraum im Souterrain der Empfangshalle. Ein unauffälliger Mann im beigen Regenmantel wusch sich gerade die Hände. Mist, dachte Wosniak, wenn der Kontaktmann auftaucht, müssen wir warten, bis dieser Engländer verschwindet. Dann sprach der Mann ihn auf englisch an.

»Guten Morgen. Ist das die Uniform der jugoslawischen Luftfahrtgesellschaft?«

Wosniak seufzte vor Erleichterung.

»Nein, ich bin von der staatlichen polnischen Luftfahrtgesellschaft.«

»Polen ist ein schönes Land«, sagte der Fremde und trocknete sich die Hände ab. Er wirkte völlig unbefangen. Wosniak war das alles neu; einmal und nie wieder, das hatte er sich geschworen. Er stand auf dem Fliesenboden und hielt seinen Rasierapparat in der Hand. »Ich habe manche glückliche Zeit in Ihrem Land verbracht.«

»Das ist es«, dachte Wosniak. »Manche glückliche Zeit... das Losungswort.«

Er streckte die Hand mit dem Rasierapparat aus. Der Engländer runzelte die Stirn und blickte zu einer der Kabinentüren. Entsetzt merkte Wosniak, daß die Tür geschlossen war; es mußte jemand drinnen sein. Der Fremde wies mit einer Kopfbewegung auf die Ablage über dem Waschbecken. Wosniak legte den Apparat darauf. Dann nickte der Engländer in Richtung der Stehbecken. Hastig zog Wosniak den Reißverschluß seiner Hose auf und stellte sich vor ein Becken.

»Vielen Dank«, murmelte er, »ich finde es auch schön.«

Der Mann im beigen Mantel steckte den Rasierapparat ein, hielt fünf Finger hoch, um anzudeuten, daß Wosniak noch fünf Minuten hier bleiben solle, und ging.

Eine Stunde später verließen Petrofski und sein Motorrad die Vororte, dort, wo Nordost-London an die Grafschaft Essex grenzt. Vor ihm lag die Schnellstraße M12. Es war neun Uhr.

Zur gleichen Stunde schob sich das Fährschiff Tor Britannia der DFDS-Linie aus Göteborg den Parkstone Quai in Harwich entlang, achtzig Meilen entfernt, an der Küste von Essex. Die Passagiere, die an Land strömten, bildeten die übliche Mischung aus Touristen, Studenten und Geschäftsleuten. Zur letzteren Gruppe gehörte Herr Stig Lundqvist in seiner großen Saab- Limousine.

Seine Papiere wiesen ihn als schwedischen Geschäftsmann aus, und das stimmte. Er war in der Tat von jeher schwedischer Staatsbürger. In den Papieren stand allerdings nicht, daß er auch seit vielen Jahren kommunistischer Agent war und wie Helmut Dorn für den gefürchteten General Marcus Wolf arbeitete, den jüdischen Chef der Abteilung »Ausland« im HVA, dem Geheimdienst der Deutschen Demokratischen Republik.

Stig Lundqvist wurde diesmal gebeten, auszusteigen und sein Gepäck zum Zolltresen zu bringen. Was er höflich lächelnd auch tat.

Ein zweiter Zollbeamter öffnete die Motorhaube und blickte hinein. Er suchte nach einem kugelförmigen Gegenstand von der Größe eines kleinen Fußballs oder einer stangenförmigen Röhre, die im Motorraum verborgen sein könnte. Er fand nichts dergleichen. Er sah unter der Karosserie nach und schließlich im leeren Kofferraum. Er stöhnte. Diese Anweisungen aus London waren wirklich das letzte. Der leere Kofferraum enthielt nur das übliche Werkzeug, an der Seitenwand war ein Wagenheber befestigt, an der anderen ein Feuerlöscher. Der Schwede stand neben dem Beamten, seine Koffer in der Hand.

»Bitte«, sagte der Schwede, »iss in Ordnung?«

»Ja, vielen Dank, Sir. Einen schönen Aufenthalt.«

Eine Stunde später, kurz vor elf Uhr, fuhr der Saab auf den Parkplatz des Hotels Kings Ford Park im Dorf Layer de la Haye, südlich von Colchester. Lundqvist stieg aus und reckte sich. Es war die Zeit der vormittäglichen Kaffeepause, und auf dem Parkplatz standen mehrere Wagen, alle unbewacht. Er blickte auf die Uhr; fünf Minuten bis zur festgesetzten Zeit. Gerade noch geschafft. Er wußte, daß er im Fall einer Verspätung noch die Stunde bis zwölf hätte abwarten müssen, und dann einen Ausweichtreff irgendwo anders wahrnehmen. Er fragte sich, ob und wann der Kontaktmann auftauchen werde. Weit und breit war niemand zu sehen, nur ein junger Mann, der am Motor einer BMW-Maschine herumbastelte. Er hatte keine Ahnung, wie sein Kontaktmann aussah. Er zündete sich eine Zigarette an, stieg wieder in seinen Wagen und wartete.

Um elf Uhr klopfte jemand ans Fenster. Der Motorradfahrer. Lundqvist drückte auf den Knopf, und die Scheibe senkte sich zischend.

»Ja?«

»Bedeutet das S auf Ihrem Kennzeichen Schweden oder Schweiz?« fragte der Engländer. Lundqvist lächelte erleichtert. Er hatte unterwegs haltgemacht, den Feuerlöscher aus dem Kofferraum entfernt und in einen Rupfenbeutel gesteckt, der jetzt auf dem Beifahrersitz lag.

»Es bedeutet Schweden«, sagte er. »Ich bin soeben aus Göteborg angekommen.«

»War nie dort«, sagte der Mann. Dann fuhr er, ohne die Stimme zu heben, fort: »Haben Sie was für mich?«

»Ja«, sagte der Schwede. »In dem Beutel neben mir.«

»Mehrere Fenster gehen auf den Parkplatz hinaus«, sagte der Motorradfahrer. »Fahren Sie rund um den Parkplatz ohne anzuhalten an dem Motorrad vorbei und werfen Sie mir den Beutel durch Ihr Fenster zu. Ihr Wagen muß sich zwischen mir und den Fenstern befinden. In genau fünf Minuten.«

Er schlenderte wieder zu seinem Motorrad und bastelte weiter. Nach fünf Minuten rollte der Saab an ihm vorbei, der Beutel glitt zu Boden; noch ehe der Saab an den Hotelfenstern vorüber war, hatte Petrofski den Beutel aufgehoben und in seiner geöffneten Satteltasche verschwinden lassen. Den Saab sah er nie wieder, und wollte es auch gar nicht.

Eine Stunde später war er in einer verschlossenen Garage in Thetford, vertauschte das Motorrad gegen das Familienauto und verstaute beide Lieferungen im Kofferraum. Er hatte keine Ahnung, was sie enthielten. Das war nicht seine Sache.

Am frühen Nachmittag war er zu Hause in Ipswich; die beiden Sendungen lagen im Schrank seines Schlafzimmers. Die Kuriere Nummer zehn und sieben hatten geliefert.

John Preston hätte seinen Dienst in der Gordon Street am 13. Mai wieder aufnehmen müssen.

»Ich weiß, es ist frustrierend, aber ich möchte, daß Sie weitermachen«, sagte Sir Nigel Irvine bei einem seiner Besuche. »Sie müssen anrufen und sagen, Sie hätten eine böse Grippe. Wenn Sie ein Attest brauchen, lassen Sie es mich wissen.«

Am 16. war Preston endgültig klar, daß er so nicht weiterkommen würde. Zoll und Einreisebehörden hatten, obwohl kein landesweiter Großalarm gegeben wurde, das Menschenmögliche getan. Doch das gewaltige Verkehrsaufkommen an der Grenze machte eine intensive Durchsuchung jedes einzelnen Reisenden unmöglich. Es war nun fünf Wochen her, seit der russische Matrose in Glasgow überfallen worden war, und Preston war überzeugt, daß die übrigen Kuriere ihm durch die Lappen gegangen waren. Vielleicht waren sie alle schon vor Semjonow im Land gewesen, und der Matrose war der letzte. Vielleicht...

Mit wachsender Verzweiflung vergegenwärtigte er sich, daß er nicht einmal wußte, ob es überhaupt einen Stichtag gab, und wenn ja, wann würde er sein?

Am Donnerstag, dem 21. Mai, legte das Fährschiff aus Ostende in Folkestone an und entließ seine übliche Ladung von Touristen zu Fuß und mit Wagen sowie den donnernden Strom von TIR-Brummis, die das Frachtgut der Europäischen Gemeinschaft von einem Ende Europas zum anderen transportieren.

Sieben der riesigen Laster hatten deutsche Nummernschilder, denn Firmen aus dem norddeutschen Raum bevorzugen den Hafen Ostende für ihre Lieferungen nach England. Der große Hanomag-Sattelschlepper mit seiner Containerfracht unterschied sich in nichts von allen anderen. Das dicke Bündel Papiere, dessen Durchsicht eine Stunde dauerte, war tadellos in Ordnung, und nichts wies darauf hin, daß der Fahrer etwa für jemand anderen arbeitete als für die Speditionsfirma, deren Name an der Tür des Fahrerhauses aufgemalt war. Auch bestand kein Anlaß zu der Vermutung, der Laderaum könnte etwas anderes enthalten als die im Frachtbrief angegebenen deutschen Kaffeemaschinen für englische Frühstückstische.

Hinter dem Fahrerhaus ragten zwei dicke senkrechte Auspuffrohre zum Himmel, die die Abgase des Dieselmotors von den übrigen Straßenbenutzern fernhielten. Es war schon Abend, die ermüdete Tagschicht schleppte sich nur noch dahin, und der Laster wurde zur Straße nach Ashford und London durchgewinkt.

Niemand in Folkestone hatte wissen können, daß in einem dieser senkrechten Auspuffrohre, die beim Verlassen des Zollschuppens dunkle Rauchwolken ausspuckten, ein zweites Rohr steckte, durch das die Gase abzogen, und in dem Getöse der startenden Motore fiel es auch niemandem auf, daß die Auspufftöpfe entfernt worden waren, um für etwas anderes Platz zu schaffen.

Es war längst dunkel, als auf dem Parkplatz eines Fernfahrerlokals bei Lenham in Kent der Fahrer auf das Dach des Fahrerhauses kletterte, ein Auspuffrohr entfernte und daraus eine fünfundzwanzig Zentimeter lange Rolle in einer hitzebeständigen Umhüllung zog. Er öffnete die Rolle nicht; er gab sie einfach einem in schwarzes Leder gekleideten Motorradfahrer, der mit Vollgas in die Dunkelheit davonbrauste. Kurier Nummer acht hatte geliefert.

»Es hat keinen Sinn, Sir Nigel«, sagte John Preston am Freitagabend zum Chef des SIS. »Ich weiß nicht, was zum Teufel vorgeht. Ich fürchte das Schlimmste, aber ich kann es nicht beweisen. Ich habe versucht, noch einen, wenigstens einen der Kuriere aufzustöbern, die meiner Überzeugung nach ins Land gekommen sind, aber ohne Erfolg. Ich glaube, ich sollte am Montag wieder zurück in die Gordon Street.«

»Ich weiß, wie Ihnen zumute ist, John«, sagte Sir Nigel. »Mir geht es genauso. Bitte opfern Sie mir nur noch eine Woche.«

»Welchen Sinn sollte das haben?« fragte Preston. »Was könnten wir denn noch tun?«

»Wahrscheinlich nur beten«, sagte »C« leise.

»Einen Durchbruch«, sagte Preston erbittert. »Ich brauche weiter nichts als einen einzigen kleinen Durchbruch.«