8. Kapitel

 

Die Einladung zum Lunch lautete auf ein Uhr am Freitag, dem 19. Juni, im Brook's Club in St. James. Preston stellte sich pünktlich ein, doch noch ehe er sich beim Club-Portier anmelden konnte, kam Sir Nigel ihm durch die Marmorhalle entgegen.

»Mein lieber John, wie nett, daß Sie gekommen sind.«

Sie begaben sich zum Aperitif an die Bar, wo man unverbindlich plauderte. Preston konnte dem Chef berichten, daß er soeben aus Hereford zurückgekommen sei, wo er Steve Bilbow im Krankenhaus besucht hatte. Der Stabsunteroffizier hatte Glück gehabt. Erst als die abgeflachten Russenpatronen aus seiner kugelsicheren Montur entfernt wurden, hatte einer der Ärzte einen Schmierfleck bemerkt und ihn analysieren lassen. Die Zyankalimischung war nicht in den Blutstrom gelangt; die Schockhemmer hatten dem S AS-Mann das Leben gerettet. Er hatte zwar schwere Quetschungen und ein paar Beulen abbekommen, war aber in guter Verfassung.

»Ausgezeichnet«, sagte Sir Nigel mit echter Freude, »man verliert so ungern einen guten Mann.«

Die übrigen Barbesucher sprachen über den Wahlausgang, und viele waren die halbe Nacht aufgeblieben und hatten gewartet, bis die Endergebnisse des Kopf-an-Kopf-Rennens aus den Provinzen gemeldet wurden.

Um halb zwei gingen sie hinüber zum Lunch. Sir Nigel hatte einen Ecktisch, wo sie ungestört sprechen konnten. Auf dem Weg in den Speisesaal begegneten sie Sir Martin Flannery, der gerade herauskam. Die drei Männer kannten einander, aber Sir Martin sah auf den ersten Blick, daß sein Kollege eine »Besprechung« hatte. Für zwei ehemalige Oxford-Studenten genügte es, daß man sich gegenseitig durch ein fast unmerkliches Nicken zur Kenntnis nahm. Schulterklopfen überläßt man den Ausländern.

»Ich habe Sie hierhergebeten, John«, sagte »C« und breitete die Leinenserviette über seine Knie, »um Ihnen meinen Dank und meine Glückwünsche zu entbieten. Eine bemerkenswerte Operation und ein ausgezeichnetes Ergebnis. Ich schlage die Lammkeule vor, köstlich um diese Jahreszeit.«

»Was die Glückwünsche betrifft, Sir, so besteht dazu leider kein Grund«, sagte Preston ruhig.

Sir Nigel studierte über seine Halbbrille hinweg die Speisekarte.

»Wirklich? Sind Sie so musterhaft bescheiden oder, weniger musterhaft, unhöflich? Ah, Bohnen, Karotten und vielleicht eine gebackene Kartoffel, mein Lieber.«

»Ich halte mich nur für realistisch«, sagte Preston, nachdem die Bedienung weg war. »Könnten wir über den Mann sprechen, den wir als Franz Winkler kennen?«

»Den Sie so brillant bis nach Chesterfield beschatteten?«

»Gestatten Sie mir, aufrichtig zu sein, Sir Nigel, Winkler hätte keine Schnecke abhängen können. Er war unfähig und töricht.«

»Ich glaube, er hätte Sie alle beinah auf dem Bahnhof Chesterfield verloren.«

»Reiner Dusel«, sagte Preston. »Wir hatten zu wenig Observanten, sonst wären an jeder Haltestelle auf der ganzen Strecke Leute postiert gewesen. Aber worum es geht, sind seine plumpen Manöver; sie zeigten uns, daß er ein Profi war, aber so schlecht, daß er uns nicht abschütteln konnte.«

»Aha. Und was war weiter mit ihm? Ah, das Lamm, und vorzüglich gebraten.«

Sie warteten, bis die Kellnerin sie bedient hatte und wieder gegangen war. Preston stocherte verwirrt in seinem Teller. Sir Nigel aß mit Genuß.

»Franz Winkler traf in Heathrow mit einem echten österreichischen Paß und einem gültigen Visum ein.«

»Sicher tat er das.«

»Und wir wissen beide, genau wie der Beamte an der Paßkontrolle, daß österreichische Staatsbürger zur Einreise nach England kein Visum brauchen. Auch in unserem Konsulat in Wien hätte man Winkler das gesagt. Eben dieses Visum veranlaßte den Beamten in Heathrow, die Paßnummer in den Computer einzugeben. Und es stellte sich heraus, daß sie falsch war.«

»Wir alle machen Fehler«, murmelte Sir Nigel.

»Der KGB macht diese Art Fehler nicht, Sir. Seine Urkunden stimmen bis auf den letzten I-Punkt.«

»Man sollte ihn auch nicht überschätzen, John. Jede große Organisation baut zuweilen Mist. Noch Karotten? Nein? Dann werde ich vielleicht -«

»Dieser Paß, Sir, enthielt zwei Schwachstellen. Die roten Lämpchen sind deshalb aufgeflackert, weil vor drei Jahren ebenfalls ein angeblicher Österreicher mit der gleichen Paßnummer in Kalifornien vom FBI festgenommen wurde und jetzt seine Strafe in Soledad absitzt.«

»Tatsächlich? Du lieber Himmel, das war aber nicht sehr schlau von den Sowjets.«

»Ich habe den FBI-Mann hier in London angerufen und gefragt, wie die Anklage damals lautete. Wie es scheint, versuchte dieser andere Agent einen Angestellten der Intel Corporation im Silicon Valley durch Erpressung dazu zu bringen, daß er ihm technologische Geheimnisse verkaufte.«

»Sehr ungehörig.«

»Es handelte sich um Nukleartechnologie... «

»Woraus Sie schlossen...?«

»Daß Franz Winkler auffallen sollte wie ein Neonschild. Und dieses Schild war eine Botschaft; eine Botschaft auf zwei Beinen.«

Sir Nigels Gesicht trug immer noch seine Lachfältchen, aber aus den Augen war die gute Laune verschwunden.

»Und was hat diese wunderbare Botschaft besagt, John?«

»Ich glaube, sie besagte: Den ausführenden Illegalen kann ich dir nicht geben, weil ich nicht weiß, wo er ist. Aber folge diesem Mann; er wird dich zu dem Sender führen. Und das tat er auch. Also habe ich den Sender aufgestöbert, und der Agent stellte sich schließlich dort ein.«

»Was genau wollen Sie eigentlich sagen?«

Sir Nigel legte Messer und Gabel auf den leeren Teller und betupfte sich den Mund mit der Serviette.

»Ich glaube, Sir, daß die Operation abgeblasen wurde. Mir scheint die Schlußfolgerung unvermeidlich, daß jemand auf der anderen Seite sie absichtlich platzen ließ.«

»Eine ganz außerordentliche Idee. Ich würde die Erdbeertorte vorschlagen. Hab' sie vorige Woche gegessen. Natürlich eine andere. Ja? Zwei Stück bitte, meine Liebe. Ja, ein bißchen Sahne.«

»Darf ich Sie etwas fragen?« sagte Preston, als der Tisch abgeräumt war.

»Das werden Sie doch so oder so tun«, lächelte Sir Nigel.

»Warum mußte der Russe sterben?«

»Soviel ich weiß, kroch er auf eine Atombombe zu, in der offenbaren Absicht, sie zur Detonation zu bringen.«

»Ich war dabei«, sagte Preston, als die Erdbeertorte serviert wurde. Sie warteten, bis die Sahne ausgeteilt war.

»Der Mann war in Oberschenkel, Magen und Schulter getroffen worden. Captain Lyndhurst hätte ihn mit einem Fußtritt von seinem Vorhaben abhalten können. Es war nicht nötig, ihm den Schädel wegzublasen.«

»Bestimmt wollte der gute Captain hundertprozentig sichergehen«, meinte der Meister.

»Wäre der Russe am Leben geblieben, so hätten wir die Sowjetunion überführt, in flagranti erwischt. Ohne ihn haben wir nichts, was sie nicht überzeugend leugnen könnten. Mit anderen Worten, die ganze Geschichte ist jetzt tot und begraben.«

»Wie wahr«, nickte der Meister, während er nachdenklich an einem Stück Mürbeteig mit Erdbeeren kaute.

»Captain Lyndhurst ist übrigens der Sohn von Lord Frinton«, bemerkte Preston.

»Tatsächlich? Frinton? Sollte ich ihn kennen?«

»Eigentlich schon. Er ging mit Ihnen zur Schule.«

»Wirklich. Wir waren so viele. Schwer zu behalten.«

»Und ich glaube, Julian Lyndhurst ist Ihr Patensohn.«

»Mein lieber John, Sie machen's wirklich sehr gründlich, wie?«

Sir Nigel war mit dem Dessert fertig. Er stützte das Kinn auf die gefalteten Hände und blickte den Fragesteller von MI5 unverwandt an. Die Höflichkeit war geblieben; von guter Laune nicht mehr die Spur.

»Sonst noch etwas?«

Preston nickte.

»Eine Stunde, ehe der Sturmtrupp angriff, nahm Captain Lyndhurst in der Diele des Hauses gegenüber einen Telefonanruf entgegen. Ich fragte den Mann, der abgehoben hatte. Der Anrufer telefonierte von einer öffentlichen Sprechzelle aus.«

»Zweifellos ein Kollege Lyndhursts.«

»Nein, Sir. Sie benutzten nur Funk. Und niemand, der nicht mit der Operation zu tun hatte, wußte, daß wir in diesem Haus waren. Niemand, nur ein paar Leute in London.«

»Darf ich fragen, worauf Sie hinauswollen?«

»Nur noch eine Kleinigkeit, Sir Nigel. Ehe der Russe starb, flüsterte er ein Wort. Er schien seine letzte Kraft aufzubieten, um dieses Wort noch herauszubringen. Ich hatte mein Ohr dicht an seinem Mund. Er sagte: Philby.«

»Philby? Du lieber Himmel. Was mag er damit gemeint haben?«

»Ich glaube, ich weiß es. Ich glaube, er dachte, Harold Philby habe ihn verraten, und ich glaube, es stimmt.«

»Aha. Und dürfte ich darum bitten, Ihre Schlußfolgerungen zu hören?«

Die Stimme des Chefs war sanft, aber aus seinem Tonfall war die frühere Jovialität verschwunden. Preston holte tief Atem.

»Ich ziehe den Schluß, daß der Verräter Philby an dieser Operation beteiligt war, vielleicht von Anfang an. Und er hatte sich nach beiden Seiten abgesichert. Ich habe - wie andere Leute auch - etwas läuten hören, daß er nach Hause möchte, um seinen Lebensabend hier in England zu verbringen. Wäre der Plan gelungen, so hätte er sich vermutlich damit von seinen sowjetischen Herrn und Meistern die Freilassung und von einer neuen Regierung der Harten Linken in London die Einreisegenehmigung verdient. Vielleicht in Jahresfrist. Oder er konnte London den Plan in großen Umrissen berichten und ihn damit vereiteln.«

»Und welche dieser beiden bemerkenswerten Möglichkeiten hat er Ihrer Meinung nach gewählt?«

»Die zweite, Sir Nigel.«

»Mit welchem Ziel?«

»Daß er seine Rückfahrkarte bekommt. Von hier. Ein Geschäft.«

»Und Sie glauben, ich sei an diesem Geschäft beteiligt?«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Sir Nigel. Ich weiß nicht, was ich sonst glauben soll. Es wurde geredet... über seine ehemaligen Kollegen, den magischen Zirkel, die Solidarität des Establishments, dem er einst angehört hat... so in dieser Richtung.«

Preston starrte auf seinen Teller mit der halb aufgegessenen Erdbeertorte. Sir Nigel blickte lange Zeit zur Decke, ehe er einen tiefen Seufzer ausstieß.

»Sie sind ein bemerkenswerter Mensch, John. Sagen Sie, was haben Sie für heute in einer Woche vor?«

»Vermutlich nichts.«

»Dann erwarten Sie mich doch bitte um acht Uhr früh am Eingang von Sentinel House. Bringen Sie Ihren Paß mit. Und jetzt, wenn es Ihnen recht ist, möchte ich vorschlagen, daß wir den Kaffee in der Bibliothek trinken..«

Der Mann stand am Fenster des sicheren Hauses in einer Genfer Nebenstraße und beobachtete den Weggang seines Besuchers. Drunten tauchten Kopf und Schultern des Gastes auf, dann ging er den kurzen Weg bis zum Eingangstor und trat hinaus auf die Straße, wo sein Wagen wartete.

Der Fahrer stieg aus, lief um den Wagen herum und öffnete seinem Vorgesetzten den Schlag. Dann ging er zurück zur Fahrertür.

Ehe er wieder einstieg, blickte Preston hinauf zu der Gestalt hinter der Scheibe des oberen Fensters. Als er sich ans Steuer gesetzt hatte, fragte er:

»Ist er das? Ist er das wirklich? Der Mann aus Moskau?«

»Ja, das ist er. Und jetzt bitte zum Flugplatz«, kam Sir Nigels Antwort aus dem Fond. Sie fuhren ab.

»So, John«, sagte Sir Nigel nach einer Weile, »ich habe Ihnen eine Erklärung versprochen. Stellen Sie Ihre Fragen.«

Preston sah das Gesicht seines Chefs im Rückspiegel. Der ältere Mann blickte hinaus auf die vorbeifliegende Landschaft »Die Operation?«

»Sie hatten recht, John. Der Generalsekretär persönlich hat sie aufgezogen, mit Philbys Rat und Beistand. Soviel ich weiß, hieß sie Plan Aurora. Und sie wurde wirklich verraten, aber nicht von Philby.«

»Warum hat man sie platzen lassen?«

Sir Nigel dachte längere Zeit nach.

»Schon in einem sehr frühen Stadium glaubte ich, daß Sie recht haben könnten. Sowohl mit Ihren ersten Schlußfolgerungen im, wie er jetzt heißt, Preston-Report vom vergangenen Dezember wie auch mit den Schlüssen, die Sie aus dem Fang in Glasgow zogen. Auch wenn Harcourt-Smith beides entschieden ablehnte. Ich war nicht sicher, ob zwischen beiden eine Verbindung bestand, aber ich wollte nichts außer Betracht lassen. Je mehr ich mir die Sache ansah, umso mehr wuchs meine Überzeugung, daß hinter dem Plan Aurora nicht der KGB steckte. Es fehlte das Gütezeichen, die Sorgfalt bis ins Detail. Es sah nach einer überstürzten Operation aus, aufgezogen von einem Mann oder einer Gruppe, die dem KGB mißtrauten. Dennoch bestand wenig Hoffnung, daß Sie den Agenten rechtzeitig finden würden.«

»Ich tappte völlig im dunkeln, Sir Nigel, und ich wußte es. An keiner unserer Grenzkontrollen zeigten sich Bewegungsmuster von Sowjetkurieren. Ohne Winkler wäre ich niemals rechtzeitig nach Ipswich gekommen.«

Ein paar Minuten lang fuhren sie schweigend dahin. Preston überließ es dem Meister, das Gespräch wiederaufzunehmen.

»Deshalb habe ich eine Botschaft nach Moskau geschickt«, sagte Sir Nigel schließlich.

»Eine Botschaft von Ihnen persönlich?«

»Lieber Gott, nein. Hätte nie funktioniert. Viel zu durchsichtig. Über eine andere Quelle, der man, wie ich hoffte, glauben würde. Die Botschaft entsprach nicht ganz der Wahrheit, wie ich gestehen muß. In unserem Metier muß man manchmal die Unwahrheit sagen. Aber es lief durch einen Kanal, dem man es abnehmen würde. So hoffte ich wenigstens.«

»Und mit Recht?«

»Glücklicherweise, ja. Als Winkler auftauchte, wußte ich, daß der Adressat die Botschaft erhalten, verstanden und vor allem geglaubt hatte.«

»Winkler war die Antwort?« fragte Preston.

»Ja. Armer Kerl. Er glaubte, er sei routinemäßig herübergeschickt worden, um die Griechen und ihren Sender zu überprüfen. Er ist übrigens vor zwei Wochen in Prag ertrunken. Wußte vermutlich zuviel.«

»Und der Russe in Ipswich?«

»Er hieß, wie ich soeben erfuhr, Petrofski. Ein erstklassiger Fachmann und ein Patriot dazu.«

»Aber auch er mußte sterben?«

»John, es war ein furchtbarer Entschluß. Aber unumgänglich. Winklers Kommen war ein Angebot, der Vorschlag zu einem Pakt. Natürlich kein förmlicher Vertrag. Nur ein stillschweigendes Übereinkommen. Dieser Petrofski durfte nicht lebend in unsere Hände fallen und verhört werden. So lautete der ungeschriebene und unausgesprochene Pakt mit dem Mann dort am Fenster des sicheren Hauses.«

»Mit einem lebenden Petrofski hätten wir den Sowjets die Daumenschrauben ansetzen können.«

»Ja, John, das hätten wir. Wir hätten sie vor aller Welt unsterblich blamieren können. Und was wäre dabei herausgekommen? Die UdSSR hätte es nicht widerstandslos hinnehmen können. Sie hätte sich rächen müssen, irgendwo anders auf der Welt. Was hätten Sie sich gewünscht? Einen Rückfall in die schlimmsten Zeiten des kalten Krieges?«

»Mir tut's nur leid um eine so schöne Gelegenheit, sie durch die Mangel zu drehen, Sir.«

»John, sie sind groß und gerüstet und gefährlich. Die UdSSR wird es auch morgen noch geben und nächste Woche und nächstes Jahr. Irgendwie müssen wir mit ihnen auf diesem Planeten leben. Immer noch besser, sie werden von Pragmatikern und Realisten regiert als von Hitzköpfen und Fanatikern.«

»Und deshalb paktiert man mit Männern wie dem dort droben am Fenster, Sir Nigel?«

»Manchmal geht es nicht anders. Ich bin vom Fach, und er ist es auch. Manche Journalisten und Autoren stellen es so dar, als lebten Leute wie wir in einer Traumwelt. Das Gegenteil ist wahr. Die Politiker träumen ihre Träume, und die sind manchmal gefährlich, wie der Traum des Generalsekretärs, der das Gesicht Europas zu seinem eigenen Denkmal umfunktionieren wollte. Ein hoher Beamter des Geheimdienstes muß nüchterner sein als der härteste Geschäftsmann. Man muß sich der Realität anpassen, John. Wenn die Träume das Kommando übernehmen, endet die Sache mit der Schweinebucht. Der erste Durchbruch in der Kubakrise war dem Residenten des KGB in New York zu verdanken. Nicht die Fachleute hatten damals das Sagen gehabt, sondern Chruschtschow.«

»Und wie soll es jetzt weitergehen, Sir?«

»Das überlassen wir den anderen. Es wird ein paar Veränderungen geben. Sie werden sie auf ihre eigene unnachahmliche Weise vornehmen. Der Mann, von dem wir kommen, wird sie in Gang bringen. Es wird seine Karriere fördern und manche andere beenden.«

»Und Philby?« fragte Preston.

»Was soll mit ihm sein?«

»Versucht er zurückzukommen?«

Sir Nigel zuckte unwillig die Achseln.

»Das tut er schon seit Jahren«, sagte er. »Und, ja, von Zeit zu Zeit steht er mit meinen Leuten in unserer Moskauer Botschaft in Verbindung, geheim natürlich. Wir züchten Tauben...«

»Tauben...?«

»Sehr altmodisch, ich weiß. Und einfach. Aber noch immer überraschend wirksam. Auf diese Weise schickt er seine Mitteilungen. Aber nicht über Plan Aurora. Und selbst wenn er es getan hätte... also, was mich betrifft...«

»Was Sie betrifft...?«

»Kann er in der Hölle verschimmeln«, sagte Sir Nigel sanft.

Wieder fuhren sie eine Weile schweigend dahin.

»Und was ist mit Ihnen, John? Werden Sie bei Fünf bleiben?«

»Ich glaube nicht, Sir. Nicht nach diesem Platzwechsel. Der GD scheidet mit dem 1. September aus, aber vorher nimmt er noch seinen Resturlaub. Unter seinem Nachfolger rechne ich mir keine Chancen aus.«

»Kann Sie nicht nach Sechs hinübernehmen. Das wissen Sie. Wir nehmen keine Späteinsteiger. Schon mal dran gedacht, wieder in einen Zivilberuf zurückzugehen?«

»Nicht leicht für einen Mann von sechsundvierzig und ohne nachweisliche Fähigkeiten, heutzutage einen Job zu finden«, sagte Preston.

»Ich habe da Bekannte«, sagte der Meister wie zu sich selber. »In zivilen Schutzdiensten. Könnte mal mit ihnen sprechen.«

»Zivile Schutzdienste?«

»Ölquellen, Minen, Depots, Rennpferde. Vermögenswerte, die die Leute vor Diebstahl oder Zerstörung schützen lassen wollen. Auch sich selber. Es wird gut bezahlt. Dann könnten Sie Ihren Sohn ganz zu sich nehmen.«

»Mir scheint, ich bin nicht der einzige, der's gründlich macht, Sir«, grinste Preston.

Der ältere Mann blickte aus dem Fenster, wie auf etwas weit Entferntes und längst Vergangenes.

»Hatte auch einmal einen Sohn«, sagte er ruhig. »Nur einen. Feiner Junge. Fiel im Falkland-Krieg. Weiß, wie Ihnen zumute ist.«

Preston warf einen erstaunten Blick in den Rückspiegel. Nie wäre ihm in den Sinn gekommen, daß dieser formgewandte und gewitzte alte Geheimdienstler einmal mit einem kleinen Jungen auf dem Teppich Hoppereiter gespielt hatte.

»Das tut mir leid. Kann sein, daß ich Sie in dieser Sache beim Wort nehme.«

Sie kamen am Flughafen an, gaben den gemieteten Wagen zurück und flogen wieder nach London, so anonym, wie sie gekommen waren.

Der Mann am Fenster des sicheren Hauses sah den abfahrenden Briten nach. Sein eigener Wagen würde erst in einer Stunde kommen. Dann wandte er sich um, setzte sich an den Schreibtisch und studierte aufs neue die Akte, die er in Empfang genommen hatte und noch immer in der Hand hielt. Sie gefiel ihm; es war ein gutes Gespräch gewesen, und die Dokumente in seinem Besitz würden seine Zukunft sichern.

Als Fachmann bedauerte Generalleutnant Karpow das Scheitern von Plan Aurora. Es war ein guter Plan gewesen; fein ausgetüftelt, unauffällig und wirksam. Aber als Fachmann war ihm auch klar, daß man eine »verbrannte« Operation nur noch abblasen konnte und die ganze Sache aufgeben mußte, ehe es zu spät war. Jedes Zögern hätte katastrophale Folgen gehabt.

Er entsann sich deutlich der Dokumente, die mit seiner Diplomatenpost von Jan Marais aus London gekommen waren, des Produkts seines Agenten Hampstead. Sechs davon waren wie immer erstklassiges Geheimmaterial, wie es nur einem Mann in der Stellung George Berensons zugänglich sein konnte. Beim siebenten Dokument hatte er gestutzt.

Es war ein persönliches Schreiben von Berenson an Marais zur Weitergabe nach Pretoria gewesen. Darin hatte der Beamte des Verteidigungsministeriums berichtet, wie er in seiner Eigenschaft als stellvertretender Chef des Beschaffungsamts mit besonderer Verantwortung für Nuklearwaffen einem Lagevortrag beigewohnt hatte, den der Generaldirektor von Ml5, Sir Bernard Hemmings, im kleinsten Kreise abhielt.

Der Abwehrchef hatte der kleinen Gruppe mitgeteilt, daß seine Dienststelle die Existenz und fast alle Einzelheiten eines sowjetischen Plans entdeckt habe, wonach eine kleine Atombombe in einzelnen Bestandteilen nach England geschafft, dort zusammengebaut und zur Detonation gebracht werden sollte. Und das dicke Ende: MI5 war dem russischen Illegalen, der die Operation in England durchführen sollte, auf den Fersen und hoffte, ihn zusammen mit allem nötigen Beweismaterial zu erwischen.

Da General Karpow die Quelle als zuverlässig kannte, hatte er den Bericht von A bis Z geglaubt. Die Versuchung war groß, den Engländern freie Hand zu lassen; aber er wußte, daß es katastrophale Folgen hätte. Wenn die Briten allein und ohne fremde Hilfe zurechtkämen, bestünde für sie keine Verpflichtung, den haarsträubenden Skandal zu unterdrücken. Um diese Verpflichtung zu schaffen, mußte er eine Botschaft schicken, und zwar an einen Mann, der wissen würde, was zu tun sei, an jemanden, mit dem er über die große Kluft hinweg verhandeln könnte.

Dann war da noch die Frage, was für ihn dabei herauskäme... Nach einer langen einsamen Wanderung in den frühlingsgrünen Wäldern von Peredelkino hatte er beschlossen, das gefährlichste Spiel seines Lebens zu wagen. Er hatte beschlossen, dem Privatbüro von Nubar Geworkowitsch Wartanjan einen diskreten Besuch abzustatten.

Er hatte seinen Mann mit großer Umsicht gewählt. Der Vertreter Armeniens im Politbüro galt als der Kopf der Gruppe innerhalb des Politbüros, die insgeheim fand, daß ein Wechsel an der Spitze fällig sei.

Wartanjan hatte ihn ausreden lassen, da er sicher war, daß man im Büro eines Mannes von seinem Rang keine Wanzen angebracht hatte. Er starrte den KGB-General nur aus seinen schwarzen Augen an und hörte zu. Als Karpow fertig war, hatte er gefragt: »Sind Sie sicher, daß Ihre Information stimmt, Genosse General?«

»Ich habe alles, was Professor Krilow mir erzählte, auf Band«, sagte Karpow. »Das Gerät steckt in meiner Aktenmappe.«

»Und die Information aus London?«

»Die Quelle ist einwandfrei. Ich habe den Mann fast drei Jahre lang persönlich geführt.«

Der armenische Makler an der Machtbörse sah ihn lange Zeit an, als müsse er sich vieles überlegen, nicht zuletzt, wie diese Information nutzbringend zu verwenden sei.

»Wenn es stimmt, was Sie sagen, so herrschen bei der Führung unseres Landes Unbesonnenheit und Abenteurertum. Wenn man Beweise hätte - aber Beweise müßten erbracht werden -, könnte es an der Spitze einige Veränderungen geben. Leben Sie wohl.«

Karpow hatte begriffen. Wenn der Erste Mann Sowjetrußlands stürzen würde, so müßte seine gesamte Mannschaft mit ihm stürzen. Veränderungen an der Spitze würden bedeuten, daß die Stelle eines Vorsitzenden des KGB frei würde, eine Stelle, die Karpow seiner Ansicht nach trefflich ausfüllen könnte. Aber um seine Anhänger in der Partei zu einer gemeinsamen Aktion zu bewegen, brauchte Wartanjan Beweise, noch mehr Beweise, solide, stichhaltige, greifbare Beweise dafür, daß diese Unbesonnenheit Rußland an den Rand der Katastrophe gebracht hatte. Niemand hatte je vergessen, wie Mikhail Suslow im Jahr 1964 Chruschtschow stürzte, indem er ihn des Abenteurertums in der Kubakrise von 1962 bezichtigte.

Kurz nach dieser Unterredung hatte Karpow Winkler nach England geschickt, die größte Flasche unter seinen Agenten, die er auftreiben konnte. Seine Botschaft war empfangen und verstanden worden. Jetzt hielt er den Beweis in Händen, den sein armenischer Gönner brauchte. Wieder blätterte er die Dokumente durch.

Der Bericht über das angebliche Verhör und Geständnis Major Valeri Petrofskis mußte noch ein wenig zurechtgerückt werden, aber er hatte Leute draußen in Jasjenewo, die das erledigen könnten. Die englischen Protokollformulare über das Verhör waren absolut echt, und darauf kam es an. Sogar Mr. Prestons Erfolgsberichte - aus denen zweckdienlich jede Erwähnung Winklers getilgt worden war - waren Fotokopien der Originale.

Der Generalsekretär persönlich würde weder in der Lage noch willens sein, den Verräter Philby zu retten, und später würde er nicht einmal mehr in der Lage sein, sich selber zu retten. Dafür würde Wartanjan sorgen, und er würde sich nicht undankbar erweisen.

Karpows Wagen kam, um ihn nach Zürich und zur Maschine nach Moskau zu bringen. Er stand auf. Es war wirklich eine gute Begegnung gewesen. Und wie immer hatten sie sich gelohnt, seine Verhandlungen mit »Chelsea«.