4. Kapitel
Die Männer, die Raoul Levy aufsuchten, waren zu viert; große, schwere Männer, die in zwei Autos vorfuhren. Das erste hielt nach einigem Suchen vor Levys Bungalow an der Molenstraat, während das zweite hundert Meter weiter parkte.
Dem ersten Wagen entstiegen zwei Männer, die rasch, aber lautlos über die kurze Zufahrt zur Haustür gingen. Die beiden Fahrer warteten bei ausgeschalteten Scheinwerfern und laufenden Motoren. Es war ein bitterkalter Abend, kurz nach neunzehn Uhr, stockfinster, und niemand sonst war um diese Zeit am 15. Januar in der Molenstraat unterwegs.
Die Männer, die an die Haustür klopften, traten energisch und bestimmt auf, wie Leute, die keine Zeit zu verlieren, eine Aufgabe zu erfüllen und die Absicht haben, sie so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sie stellten sich nicht vor, als Levy öffnete. Sie traten einfach ins Haus und drückten die Tür hinter sich zu. Levy hatte noch kaum den Mund aufgemacht, als vier steife Finger, die ihm in den Magen gerammt wurden, seinen Protest im Ansatz erstickten.
Die großen Männer stopften ihn in seinen Mantel, stülpten ihm den Hut auf, schoben ihn aus der Tür, die sie ins Schloß schnappen ließen, und steuerten ihn geschickt zum Wagen, dessen rückwärtige Tür aufging, kaum daß sie bei ihm angelangt waren. Als sie, Levy auf dem Rücksitz zwischen sich geklemmt, abfuhren, waren zwanzig Sekunden vergangen.
Sie brachten ihn zur Kesseise Heide, einem großen öffentlichen Park nordwestlich von Nijlen, der aus fünfzig Hektar Gras- und Heideland besteht, auf dem Eichen und verschiedene Nadelbäume wachsen. Der Park lag völlig verlassen da. Ein gutes Stück abseits der Fahrstraße, inmitten der Heide, hielten die beiden Wagen. Der Fahrer des zweiten Autos, der das Verhör führen sollte, rutschte auf den Beifahrersitz.
Er drehte sich zum Fond des Wagens um und nickte seinen beiden Kumpanen zu. Der rechts von Levy sitzende Mann schlang die Arme um den schmächtigen Diamantenschleifer, so daß der sich nicht mehr bewegen konnte, und eine behandschuhte Hand preßte sich auf Levys Mund. Der andere Mann brachte eine starke Drahtzange zum Vorschein, packte Levys linke Hand und zerquetschte blitzschnell drei Fingerknöchel, einen nach dem anderen.
Daß sie ihm nicht einmal Fragen stellten, setzte Levy noch schlimmer zu als der rasende Schmerz. Sie schienen völlig uninteressiert. Als der vierte Fingerknöchel zu Brei gequetscht wurde, hatte Levy nur noch einen Wunsch: Er wollte gefragt werden.
Der Inquisitor auf dem Vordersitz nickte lässig und sagte: »Wollen wir reden?«
Hinter dem Handschuh nickte Levy frenetisch. Der Handschuh wurde weggenommen. Levy stieß einen langen gurgelnden Schrei aus. Als er verstummte, sagte der Inquisitor:
»Die Diamanten. Aus London. Wo sind sie?«
Er sprach flämisch, aber mit starkem ausländischem Akzent. Levy sagte es ihm sofort. Was half ihm alles Geld, wenn er seine Hände und seine Existenz verlor? Der Inquisitor dachte ruhig über das Gehörte nach.
»Schlüssel«, sagte er.
Sie steckten in Levys Hosentasche. Der Inquisitor nahm sie an sich und stieg aus. Sekunden später knirschte die zweite Limousine über das gefrorene Gras zur Fahrstraße. Sie blieb fünfzig Minuten fort.
Während der ganzen Zeit hielt sich Levy wimmernd die zermalmte Hand. Für die Männer rechts und links von ihm schien er Luft zu sein. Der Fahrer saß da und starrte geradeaus, die behandschuhten Hände lagen auf dem Steuerrad. Als der Inquisitor wieder zustieg, machte er keine Bemerkung über die vier kostbaren Steine, die jetzt in seiner Tasche steckten. Er sagte nur:
»Letzte Frage: Der Mann, der sie gebracht hat.«
Levy schüttelte den Kopf. Der Inquisitor seufzte ob der Zeitverschwendung und nickte dem Mann an Levys rechter Seite zu. Die beiden Schwergewichte tauschten die Rollen. Der rechte packte die Zange und Levys rechte Hand. Als auch an dieser Hand zwei Fingerknöchel zerquetscht waren, sagte Levy, was man von ihm wissen wollte. Der Inquisitor stellte noch ein paar kurze Zusatzfragen, dann schien er zufrieden. Er stieg aus und ging zu seinem eigenen Wagen. Im Geleitzug rumpelten die beiden Limousinen wieder zur Straße. Sie fuhren zurück nach Nijlen.
Als sie an seinem Haus vorüberkamen, sah Levy, daß es drinnen dunkel und die Tür geschlossen war. Er hoffte, die Männer würden ihn hier aussteigen lassen, aber das taten sie nicht. Sie fuhren durch das Städtchen. Die Lichter der Cafés, warm und gemütlich in der eisigen Winternacht, glitten an den Autofenstern vorbei, aber niemand kam auf die Straße gelaufen. Levy konnte sogar die blaue Neonschrift »Politie« über dem Polizeirevier gegenüber der Kirche sehen, aber auch hier kam niemand heraus.
Zwei Meilen östlich von Nijlen kreuzt die Looy Straat die Eisenbahnschienen an einer Stelle, wo die Strecke Lier- Herenthals schnurgerade verläuft und die großen Diesel-E-Loks mit einhundertzwanzig Stundenkilometern durchbrausen. Zu beiden Seiten des schienengleichen Bahnübergangs stehen Bauernhöfe. Die Limousinen hielten knapp vor dem Bahnübergang. Scheinwerfer und Motoren wurden abgeschaltet.
Ohne ein Wort öffnete der Fahrer das Handschuhfach, holte eine Flasche heraus und reichte sie nach hinten zu seinen beiden Kumpanen. Der eine hielt Levy die Nase zu, und der andere goß ihm den weißen Kornschnaps einheimischer Sorte in die nach Luft ringende Kehle. Als die Flasche bis auf ein Viertel leer war, hörten sie auf und ließen von ihrem Opfer ab. Der Alkohol begann Raoul Levys Hirn zu umnebeln. Sogar die Schmerzen ließen ein wenig nach. Die drei Männer im Wagen und der vierte in der Limousine vor ihnen warteten schweigend.
Um dreiundzwanzig Uhr fünfzehn kam der Inquisitor aus dem vorderen Wagen und murmelte etwas durchs Fenster. Levy war jetzt bewußtlos, nur von Zeit zu Zeit zuckten seine Glieder krampfhaft. Seine Nebenmänner hievten ihn aus dem Wagen und schleiften ihn zwischen sich zu den Schienen. Um dreiundzwanzig Uhr zwanzig schlug einer von ihnen Raoul Levy mit einer schweren Eisenstange über den Kopf, und er starb. Sie legten ihn auf die Gleise, die zerschmetterten Hände auf eine Schiene, und den eingeschlagenen Schädel dicht daneben.
Hans Grobbelaar fuhr mit seinem letzten Güterexpreß in dieser Nacht wie immer um Punkt dreiundzwanzig Uhr in Lier ab. Er kannte den Fahrtverlauf zur Genüge: Um ein Uhr würde er zu Hause in Herenthals in seinem warmen Bett liegen. Der Zug hielt unterwegs nicht, und er passierte Nijlen pünktlich um dreiundzwanzig Uhr neunzehn. Nach den Kreuzungen im Stadtbereich schaltete Hans Grobbelaar auf volle Kraft und brauste die Gerade zum Übergang an der Looy Straat mit fast einhundertzwanzig Stundenkilometern dahin. Die Scheinwerfer der großen 6268-Lok beleuchteten achtzig vor ihm liegende Schienenmeter.
Erst kurz vor der Looy Straat sah er die schlaffe Gestalt auf dem Gleis liegen. Er bremste mit aller Kraft. Ein Funkenregen sprühte unter den Rädern hervor. Der Güterexpreß verlangsamte die Fahrt, aber es war längst zu spät. Hans Grobbelaar beobachtete entsetzt durch die Windschutzscheibe, wie die Scheinwerfer auf das Bündel zuflogen. Zwei seiner Kollegen hatten so etwas schon erlebt; Selbstmörder oder Betrunkene, es war nicht festzustellen gewesen. Nicht mehr. In einer solchen Maschine spürt man nicht einmal einen Anprall, hatten sie gesagt. Er spürte keinen. Die kreischenden Räder sausten über die Stelle hinweg, das Tempo betrug noch immer fünfzig Stundenkilometer.
Als er den Zug endlich zum Halten brachte, konnte er nicht einmal nachsehen. Er rannte zu einem der Gehöfte und gab Alarm. Als die Polizei mit Lampen anrückte, sah die Masse auf den Gleisen aus wie Erdbeermarmelade. Hans Grobbelaar kam erst in der Morgendämmerung nach Hause.
Am selben Tag, nur vier Stunden später, betrat John Preston die Eingangshalle des Verteidigungsministeriums in Whitehall, ging zum Empfang und zeigte seinen Dienstausweis vor. Nach dem unvermeidlichen Kontrollanruf bei dem Mann, den er aufsuchen wollte, wurde er im Lift hinaufgefahren und zum Büro des Sicherheitschefs des Ministeriums geführt, einem Raum hoch oben an der Rückseite des Gebäudes, mit Blick auf die Themse.
Brigadegeneral Bertie Capstick hatte sich kaum verändert, seit Preston ihn vor Jahren in Ulster zum letztenmal gesehen hatte. Der große, blühend aussehende, freundliche Mann mit den Apfelbäckchen, der mehr einem Farmer als einem Militär glich, empfing ihn mit einem donnernden:
»Johnny, mein Junge, das darf ja nicht wahr sein! Kommen Sie, kommen Sie rein.«
Obwohl Bertie Capstick nur zehn Jahre älter war als Preston, nannte er ihn wie fast jeden jüngeren Mann unweigerlich »mein Junge«, und dieser väterliche Ton paßte zu seinem Aussehen. Aber er war ein harter Soldat gewesen, der sich während des Malaysia-Konflikts tief in das Gebiet der Terroristen vorgewagt und später, während der sogenannten indonesischen Konfrontation, eine Gruppe von Infiltrationsexperten im
Dschungel von Borneo befehligt hatte.
Capstick bot Preston einen Stuhl an und brachte aus einem Aktenschrank eine Flasche Malzwhisky zum Vorschein.
»Einen zwitschern?«
»Bißchen früh«, meinte Preston. Es war erst kurz nach elf Uhr.
»Unsinn. Auf die alten Zeiten. Der Kaffee, den man hier kriegt, ist ohnehin ungenießbar.«
Capstick setzte sich und schob Preston das Glas über den Schreibtisch hinweg zu.
»So, und was ist mit Ihnen passiert, mein Junge?«
Preston schnitt ein Gesicht.
»Ich hab's Ihnen ja schon am Telefon gesagt, was sie mir verpaßt haben«, sagte er. »Verdammten Polizistenjob. Nichts für ungut, Bertie.«
»Mir ging's genauso, Johnny. Abgehalftert. Natürlich bin ich jetzt Offizier a. D., also nicht schlecht gestellt. Bin mit fünfundfünfzig in Pension gegangen und in das Pöstchen hier reingerutscht. Nicht übel. Jeden Morgen mit der Bahn reinzuckeln, alle Sicherheitsmaßnahmen kontrollieren, achtgeben, daß kein faules Ei in der Mannschaft ist, und dann wieder heim zum Frauchen. Könnte schlimmer sein. Also, auf die alten Tage!«
»Cheers«, sagte Preston. Beide tranken.
Die alten Tage waren allerdings nicht ganz so rosig gewesen, dachte Preston. Als er vor nunmehr sechs Jahren den damaligen Oberst Bertie Capstick zuletzt gesehen hatte, war der scheinbar so joviale Offizier stellvertretender Leiter des Militärischen Abschirmdienstes in Nordirland gewesen, mit Amtssitz in jenem Gebäudekomplex in Lisburn, dessen Datenbanken auf Anfrage sagen konnten, welcher IRA-Mann sich in letzter Zeit am Hintern gekratzt hatte.
Preston war einer von Capsticks »Jungens« gewesen. Er hatte in Zivilkleidung, als »Verdeckter«, gearbeitet, sich in den Gettos extremer Provos bewegt, um mit Spitzeln zu sprechen oder Päckchen aus toten Briefkästen abzuholen. Bertie Capstick hatte loyal zu ihm gestanden gegen die neunmalklugen Beamten von Holyrood House, als Preston bei einem Einsatz für Capstick »verbrannte« und fast ums Leben gekommen wäre.
Das war am 28. Mai 1981 gewesen. Die Zeitungen hatten am Tag darauf ein paar spärliche Einzelheiten gebracht. Preston war in einem Privatauto zum Bogside-Viertel in Londonderry unterwegs gewesen, wo er einen Spitzel treffen wollte. Ob irgendwo weiter oben eine undichte Stelle war, ob er dasselbe Auto einmal zu oft gefahren hatte, oder ob sein Gesicht von Nachrichtenleuten der Provos »ausgemacht« worden war, kam nie heraus. Egal, sie hatten ihm einen Hinterhalt gelegt. Gerade als er in die Hochburg der Republikaner einfuhr, war ein Wagen mit vier bewaffneten Provos aus einer Seitenstraße hinter ihm aufgetaucht und ihm gefolgt.
Er hatte sie natürlich bald im Rückspiegel geortet und den Treff sofort abgeschrieben. Aber die Provisionais wollten mehr als das. Im Zentrum des Gettos waren sie an ihm vorbeigezogen, hatten sich quer auf die Fahrbahn gestellt und waren aus ihrem Wagen gestürzt, zwei mit Maschinenpistolen und einer mit einem Revolver.
Preston, der nur noch zwischen Himmel und Hölle wählen konnte, ergriff die Initiative. Wider jede Vernunft und zur Verblüffung seiner Angreifer ließ er sich blitzschnell aus der Tür seines Wagens rollen, genau in dem Augenblick, als die Maschinenpistolen das Fahrzeug durchsiebten. Er hatte seinen dreizehnschüssigen 9-mm-Browning in der Hand, auf Automatik gestellt. Auf dem Kopfsteinpflaster liegend, gab er es ihnen. Sie hatten erwartet, daß er sich mit Würde abmurksen ließe. Sie standen zu nah beisammen.
Mit einer Serie von Schüssen hatte er zwei auf der Stelle getötet und dem dritten eine Kugel in den Hals gejagt. Der Fahrer der Provos hatte den Gang hineingehauen und war in einer Rauchfahne mit glühenden Reifen verschwunden. Preston schaffte es bis zu einem sicheren Haus, das mit vier Mann der SAS belegt war; sie hatten ihn dort behalten, bis Capstick erschien, um ihn heimzubringen.
Natürlich war der Teufel los gewesen - Nachforschungen, Verhöre, besorgte Fragen von oben. Daß er weitermachte, kam nicht in Frage. Er war ein für allemal »verbrannt«, um den Fachausdruck zu gebrauchen, will heißen identifiziert. Er war nutzlos geworden. Der überlebende Provo würde sein Gesicht überall wiedererkennen. Er durfte nicht einmal zurück zu seiner alten Einheit, den Fallschirmjägern in Aldershot. Wer konnte wissen, wie viele Provos in Aldershot herumlungerten? Man ließ ihm die Wahl zwischen Hongkong und dem Rausschmiß. Dann führte Bertie Capstick ein Gespräch mit einem Freund. Es gab eine dritte Möglichkeit. Die Army als einundvierzigjähriger Major verlassen und Späteinsteiger bei MI5 werden. Preston hatte sich für diesen Weg entschieden.
»Irgendwas Besonderes?« fragte Capstick.
Preston schüttelte den Kopf.
»Nur eine kleine Runde zum Kennenlernen«, sagte er.
»Kopf hoch, Johnny. Ich weiß jetzt, wo Sie Ihre Zelte aufgeschlagen haben, und ruf Sie an, falls hier mehr passiert, als daß einer die Weihnachtskasse mitgehen läßt. Übrigens, was macht Julia?«
»Hat mich sitzenlassen. Schon vor drei Jahren.«
»Oh, das tut mir leid.«
Bertie Capsticks Gesicht verzog sich in echtem Mitgefühl.
»Ein anderer?«
»Nein. Damals nicht. Jetzt schon, glaube ich. Es war der Job... Sie wissen ja.«
Capstick nickte finster.
»Meine Betty hat sich da immer recht gut gehalten«, sinnierte er. »War mein halbes Leben lang von zu Hause fort. Ist eine treue Seele. Bei der Stange geblieben. Trotzdem, kein Leben für eine Frau. Hab's miterlebt. Oft sogar. Trotzdem, ist immer ein Schlag. Sehen Sie den Jungen?«
»Gelegentlich«, gab Preston zu.
Capstick hätte keine wundere Stelle berühren können. In seiner kleinen, einsamen Wohnung in Kensington hatte Preston zwei Fotos aufgestellt. Das eine zeigte ihn und Julia am Hochzeitstag, er sechsundzwanzig, in seiner schmucken Fallschirmjäger-Uniform, sie zwanzig, eine schöne Braut in Weiß. Das andere Foto zeigte seinen Sohn Tommy.
Sie hatten eine normale Soldatenehe in verschiedenen Garnisonen geführt, und nach acht Jahren war Tommy zur Welt gekommen. Nun war John Preston wunschlos glücklich, aber nicht so seine Frau. Julia hatte bald genug gehabt von den Mutterpflichten, der Langeweile während seiner Abwesenheit, und hatte angefangen, sich über die Geldknappheit zu beklagen. Sie drängte ihn ständig, er solle die Army verlassen, um in einem Zivilberuf mehr zu verdienen. Sie wollte nicht verstehen, daß er seinen Job liebte und daß ihn das Einerlei einer Schreibtischarbeit in Handel oder Industrie verrückt gemacht hätte.
Nach seiner Versetzung zum Nachrichtendienst wurde alles nur noch schlimmer. Er wurde nach Ulster geschickt, wohin Ehefrauen nicht mitdurften. Dann ging er in den Untergrund, und jede Verbindung riß ab. Nach der Geschichte in Bogside machte sie aus ihren Gefühlen kein Hehl. Eine Weile versuchten sie es noch, wohnten in einem Vorort, und Preston arbeitete in »Fünf« und fuhr fast jeden Abend heim. Jetzt waren sie zwar wieder beisammen, aber die Ehe war nicht mehr zu retten. Julia wollte mehr, als man für das Anfangsgehalt eines Späteinsteigers bei »Fünf« bekommen konnte.
Sie hatte eine Stellung als Empfangsdame in einem Modehaus im West End angenommen, und als Tommy acht wurde, kam er auf ihr Betreiben in eine Privatschule in der Nähe ihres bescheidenen Heims. Das Schulgeld hatte die Finanzen noch mehr strapaziert. Ein Jahr später war Julia ausgezogen und hatte Tommy mitgenommen. Preston wußte, daß sie mit ihrem Chef zusammenlebte, der alt genug war, um ihr Vater sein zu können, aber er vermochte ihr einen angemessenen Lebensstandard zu bieten und Tommy in ein Internat in Tonbridge zu schicken. Jetzt sah Preston den mittlerweile Zwölfjährigen nur noch selten.
Er hatte Julia die Scheidung angeboten, aber sie wollte keine. Nach dreijähriger Trennung hätte er die Scheidung auch ohne Julias Zustimmung durchsetzen können, aber sie hatte gedroht, gesetzlichen Anspruch auf Tommy zu erheben, da Preston nicht in der Lage sei, für den Unterhalt des Jungen und die Alimente aufzukommen. Sie erlaubte Preston, Tommy in den Ferien für je eine Woche zu sich zu holen und während des Schulhalbjahres an einem der Sonntage, an denen die Schüler des Internats Ausgang hatten.
»Ja, jetzt muß ich gehen, Bertie. Sie wissen, wo ich zu finden bin, wenn sich was Wichtiges tut.«
»Klar, ganz klar.« Bertie Capstick stapfte zur Tür und verabschiedete Preston.
»Passen Sie gut auf sich auf, Johnny. Von der alten Garde sind nicht mehr viele übrig.«
Mit diesen leichthin gesprochenen Worten trennten sie sich, und Preston ging wieder zurück in die Gordon Street.
Louis Zablonsky kannte die Männer, die am späten Samstagabend in einem Lieferwagen vorfuhren und jetzt an seiner Haustür klopften. Er war wie jeden Samstag allein daheim. Beryl war ausgegangen und würde erst in den frühen
Morgenstunden zurückkommen. Er vermutete, daß die Männer das wußten.
Er hatte sich den letzten Film im Fernsehen angeschaut, als es klopfte, und er dachte sich nichts dabei. Er öffnete, und sie stürmten in die Diele und schlossen die Tür hinter sich. Sie waren zu dritt. Im Gegensatz zu den vieren, die zwei Tage zuvor Raoul Levy heimgesucht hatten (wovon Zablonsky nichts wußte, da er keine belgischen Zeitungen las), waren sie angeheuerte Muskelmänner aus dem Londoner East End.
Zwei waren Rohlinge mit zerschlagenen Gesichtern, Unmenschen, die blindlings alles taten, wofür sie bezahlt wurden. Der dritte gab die Befehle; er war mickrig, pockennarbig und hatte schmutziges blondes Haar. Zablonsky kannte sie nicht persönlich; er kannte die Typen; er hatte sie in den Konzentrationslagern gesehen, in Uniform. Die Erkenntnis brach seine Widerstandskraft. Er wußte, daß es kein Pardon gab. Männer wie diese machten mit Leuten wie ihm immer, was sie wollten. E hatte keinen Sinn, Widerstand zu leisten oder sich aufs Bitten zu verlegen.
Sie stießen ihn ins Wohnzimmer und drückten ihn in seinen Sessel. Einer der großen Männer stellte sich hinter den Sessel, beugte sich vor und hielt Zablonsky eisern fest. Der andere stand daneben und rieb seine Faust in der Innenfläche der anderen Hand. Der Blonde zog sich einen Hocker vor den Sessel, setzte sich darauf und starrte den Juwelier an. »Schlag zu«, sagte er.
Der Schläger, der rechts von Zablonsky stand, versetzte ihm einen Schwinger. Er trug einen Schlagring. Der Mund des Juweliers zerplatzte zu einem Brei aus Zähnen, Lippen, Blut und Zahnfleisch. Blondie lächelte.
»Nicht dort«, schalt er milde. »Er soll doch reden, oder? Weiter unten.«
Der Rowdy landete zwei weitere Schwinger in Zablonskys Oberkörper. Ein paar Rippen krachten. Aus Zablonskys Mund drang ein schriller Klagelaut. Blondie lächelte. Er mochte es, wenn etwas zu hören war.
Zablonsky bäumte sich matt auf, aber er hätte es ebensogut unterlassen können. Die muskulösen Arme hielten ihn von hinten in seinem Sessel fest, genau wie ihn vor so langer Zeit in Südpolen ein anderes Paar Arme auf jenem steinernen Tisch festgehalten hatte, während der blonde Mann auf ihn heruntergelächelt hatte.
»Is die Strafe, Louis«, flüsterte Blondie. »Ein Freund von mir is bös. Er meint, Sie ham was, wo ihm gehört, und das will er wieder.«
Er sagte dem Juwelier, worum es ging. Zablonsky würgte an dem Blut, das ihm den Mund füllte.
»Ich hab's nicht«, krächzte er. Blondie überlegte eine Weile.
»Das Haus filzen«, befahl er seinen Kumpanen. »Er hat nix dagegen. Alles auseinandernehmen.«
Die beiden Schläger machten sich auf die Suche, Blondie blieb mit dem Juwelier im Wohnzimmer zurück. Die Arbeit war gründlich und dauerte eine Stunde. Die beiden durchstöberten jede Kammer und jeden Schrank, alle Schubladen, Winkel und Fugen. Blondie vergnügte sich inzwischen damit, den alten Mann in die gebrochenen Rippen zu boxen. Kurz nach Mitternacht kamen die beiden Schläger vom Dachboden zurück.
»Nix«, sagte einer.
»Wer hat's denn dann, Louis?« fragte Blondie. Zablonsky wollte es nicht sagen, also droschen sie so lange auf ihn ein, bis er es doch tat. Als der Mann hinter dem Sessel ihn losließ, kippte Zablonsky vornüber auf den Teppich und rollte auf die Seite. Er wurde blau um die Lippen, die Augen quollen aus den Höhlen, und sein Atem ging in kurzen mühsamen Stößen.
Die drei Männer sahen auf ihn hinunter.
»Der kriegt 'n Herzklaps«, sagte einer neugierig. »Der geht uns ein.«
»Hast 'n wohl zu fest verwamst, was?« sagte Blondie sarkastisch. »Los, raus jetzt. Wir wissen, wer's hat.«
»Du glaubst, er hat's richtig ausgespuckt?« fragte einer der Schläger.
»Yeah, er hat's schon vor einer Stunde ausgespuckt«, sagte Blondie. Die drei verließen das Haus, kletterten in ihren Lieferwagen und fuhren ab. Unterwegs, südlich von Golders Green, fragte einer der Schläger Blondie:
»Also, was machen wir jetzt?«
»Schnauze, ich muß denken«, sagte Blondie.
Der mickrige Sadist sah sich gern als Herrn und Meister von Schwerverbrechern. In Wahrheit war seine Intelligenz beschränkt, und er wußte nicht recht weiter. Der Auftrag hatte gelautet: Geht zu dem Mann und holt gestohlenes Gut zurück. Aber sie hatten es nicht zurückgeholt. In der Nähe des Regent's Park sah er eine Telefonzelle.
»Da drüben halten«, sagte er. »Ich muß mal wen anrufen.« Der Mann, der ihn angeheuert hatte, hatte ihm die Nummer einer Telefonzelle gegeben und drei verschiedene Zeiten genannt, zu denen er anrufen könnte. Bis zum ersten Termin fehlten nur noch ein paar Minuten.
Beryl Zablonsky kam kurz vor zwei Uhr morgens von ihrem Samstagabendausflug zurück. Sie parkte ihren Metro auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schloß die Haustür auf, hinter der sie zu ihrer Überraschung noch Licht gesehen hatte.
Louis Zablonskys Frau war ein nettes jüdisches Mädchen von einfacher Herkunft gewesen und hatte schon früh gelernt, daß es töricht und egoistisch ist, wenn man vom Leben zuviel erwartet. Vor zehn Jahren hatte Zablonsky die damals Fünfundzwanzigjährige in einem hoffnungslosen Musical in der zweiten Reihe der Revuegirls entdeckt und ihr einen Heiratsantrag gemacht. Er verschwieg ihr seinen Zustand nicht, aber sie nahm seinen Antrag trotzdem an.
Seltsamerweise wurde es eine gute Ehe. Er war unendlich liebevoll und behandelte sie wie ein allzu nachsichtiger Vater. Sie hing zärtlich an ihm, fast wie eine Tochter. Er hatte ihr alles gegeben, was er zu geben hatte; ein schönes Haus, Kleider, Schmuck, Taschengeld, und sie war dankbar.
Natürlich war da etwas, was er ihr nicht geben konnte, aber er war einsichtig und tolerant. Er stellte nur eine Bedingung: Er wollte keine Namen erfahren und keinen der Männer kennenlernen. Mit fünfunddreißig war Beryl eine Spur überreif, ein wenig auffällig, sinnlich und attraktiv in einer Art, die in jüngeren Männern Begehren auslöst, ein Gefühl, das Beryl herzlich erwiderte. Sie hielt sich ein kleines Apartment im West End für ihre Rendezvous und genoß sie ohne Gewissensbisse.
Zwei Minuten, nachdem Beryl das Haus betreten hatte, stürzte sie tränenüberströmt zum Telefon und rief den Notdienst an. Sechs Minuten später war der Wagen zur Stelle, der Sterbende wurde auf einer Bahre abtransportiert, und es wurde alles getan, um ihn auf dem langen Weg zum Krankenhaus Hampstead-Free am Leben zu erhalten. Beryl fuhr im Ambulanzwagen mit.
Auf der Fahrt kam Zablonsky einmal für kurze Zeit zu sich und bedeutete ihr, sie solle sich seinem blutenden Mund nähern. Mit Anstrengung vermochte sie die wenigen Worte zu verstehen, und sie runzelte verwirrt die Stirn. Diese Worte waren seine letzten gewesen. Als sie endlich in Hampstead eintrafen, gehörte Louis Zablonsky zu jenen Fällen, die während der Nacht als »auf dem Transport verstorben« eingeliefert wurden.
Beryl Zablonsky hegte noch immer ein gewisses Faible für Jim Rawlings. Sie hatte einmal, vor sieben Jahren, eine kurze Affäre mit ihm gehabt, als er noch unverheiratet gewesen war. Sie wußte, daß seine Ehe inzwischen in die Brüche gegangen war und daß er allein im obersten Stockwerk eines Hauses in Wandsworth lebte. Seine Telefonnummer hatte sie früher so oft gewählt, daß sie ihr noch geläufig war.
Als Rawlings an den Apparat kam, weinte Beryl noch immer, und in seiner Schlaftrunkenheit wurde ihm erst nach einer Weile klar, wer die Anruferin war. Sie telefonierte aus einer öffentlichen Sprechzelle in der Notaufnahme des Krankenhauses, und es piepte ständig in der Leitung, während Beryl weitere Münzen einwarf. Als Rawlings begriffen hatte, wer sie war, lauschte er der Mitteilung mit wachsender Verwirrung.
»Mehr hat er nicht gesagt?... Nur die paar Worte? All right, Liebes, tut mir leid, tut mir wirklich leid. Ich komm' vorbei, wenn die Polente abgezogen ist. Sag, wenn ich irgend etwas tun kann. Oh, und Beryl... vielen Dank.«
Rawlings legte den Hörer auf, überlegte eine Weile und tätigte dann nacheinander zwei Anrufe. Ronnie, der Mann vom Schrottplatz, kam als erster an, Syd traf zehn Minuten später ein. Beide hatten, wie befohlen, ihr Werkzeug mitgebracht. Es war höchste Zeit gewesen. Eine Viertelstunde später trampelten die ungebetenen Gäste die acht Stockwerke hinauf.
Blondie hatte den zweiten Auftrag eigentlich nicht übernehmen wollen, aber das Sonderhonorar, das die Stimme am Telefon ihm zugesichert hatte, war zu verlockend gewesen. Seine Spießgesellen und er waren im East End zu Hause und überquerten nur widerwillig die Themse in Richtung Süden. Der unversöhnliche Haß zwischen den Banden des East End und dem Mob aus dem Süden der Hauptstadt ist in der Geschichte der Londoner Unterwelt ein Kapitel für sich, und ein South Ender, der sich ungebeten ins East End begibt oder umgekehrt, kann sich allerhand Unannehmlichkeiten zuziehen. Aber Blondie rechnete fest damit, daß um halb vier Uhr morgens alles reibungslos ablaufen und er nach getaner Arbeit wieder in seinem eigenen Revier sein könne, ehe der Gegner ihn entdeckt hatte.
Als Jim Rawlings seine Wohnungstür öffnete, schob eine kräftige Hand ihn zurück in den Korridor in Richtung Wohnzimmer. Die beiden Schläger führten den Zug an, Blondie bildete das Schlußlicht. Rawlings ging rasch rückwärts durch den Korridor, bis alle in der Wohnung waren. Als Blondie die Tür hinter sich ins Schloß geworfen hatte, kam Ronnie aus der Küche zum Vorschein und legte den ersten Schläger mit einem Axtstiel auf die Bretter. Syd stürzte aus dem Garderobenschrank hervor und zog dem zweiten Mann eine Brechstange über den Schädel. Beide Besucher gingen zu Boden wie gefällte Ochsen.
Blondie fummelte fieberhaft am Türschnapper, um hinaus ins sichere Treppenhaus zu gelangen, als Rawlings, der über die am Boden Liegenden hinweggestiegen war, ihn am Nackenfell erwischte und mit dem Gesicht voraus in ein glasgerahmtes Madonnenbild rammte. Es war die engste Berührung mit der Religion, die Blondie je gehabt hatte. Das Glas zerbrach, und Blondies Wangen bekamen mehrere Splitter ab.
Ronnie und Syd fesselten die beiden Muskelmänner, während Rawlings Blondie ins Wohnzimmer schleifte. Minuten später ragte Blondie, von Ronnie an den Füßen und von Syd an der Taille festgehalten, ein gutes Stück weit aus dem Panoramafenster, acht Stockwerke hoch über dem Pflaster.
»Siehst du den Parkplatz da unten?« fragte ihn Rawlings. In der dunklen Winternacht konnte der Mann gerade noch die schwachen Reflexe der Straßenbeleuchtung auf den Karosserien sehen, weit, weit unten. Er nickte.
»In zwanzig Minuten ist da unten alles voller Polente. Stehen rings um eine Plastikplane. Und jetzt rat mal, wer unter der Plane liegt, bloß noch Brei und Lumpen?«
Blondie, dem klar war, daß seine Lebenserwartung nur noch Sekunden betrug, rief in Todesnot:
»All right, ich pack' aus!«
Sie zogen ihn wieder herein und setzten ihn auf einen Stuhl. Er bemühte sich um mildernde Umstände.
»Hören Sie, Chef, wir wissen doch, wie so was läuft. Ich bin bloß für den Job geheuert worden, ja? Was Geklautes wieder beibringen... «
»Der alte Mann in Golders Green«, sagte Rawlings.
»Yeah, also, er sagt, Sie haben's, drum bin ich zu Ihnen gekommen.«
»Er war mein Freund. Er ist tot.«
»Tut mir leid, Chef. Hab' nicht gewußt, daß er's am Herz hat. Die Jungs ham ihm bloß ein paar Klapse versetzt.«
»Du Scheißkerl. Ihr habt ihm sämtliche Zähne eingeschlagen und die Rippen gebrochen. Also, was hast du hier holen wollen?«
Blondie sagte es ihm.
»Den was?« fragte Rawlings ungläubig. Blondie sagte es ihm noch einmal.
»Fragen Sie nich mich, Chef. Ich werd' bloß bezahlt, damit ich'n zurückbringe. Oder rauskriege, was damit passiert is.«
»Am liebsten«, sagte Rawlings, »würde ich dich und deine Kumpel in die Themse schmeißen, bevor es hell wird, alle drei in Betonhöschen neuesten Zuschnitts. Bloß, mir liegt nichts an Zoff. Drum lass' ich euch laufen. Sagt euerm Kunden, er war leer. Vollständig leer. Und ich hab' ihn verbrannt... nur noch ein Haufen Asche übrig. Ihr glaubt doch wohl nicht, daß ich irgendwas aus einem Bruch zurückbehalte? Ich bin doch nicht total verrückt. Und jetzt raus mit euch.«
Sie waren schon an der Tür, als Rawlings zu seinen Leuten sagte:
»Schafft sie rüber aufs andere Ufer. Und, Ronnie, gib dieser verdammten Ratte ein Andenken von mir mit, für den alten Mann. O. K.?«
Ronnie nickte. Minuten später wurde der bewußtlose East Ender, noch immer wie ein Paket verschnürt, auf den Rücksitz des Lieferwagens verfrachtet. Dem zweiten, halb Bewußtlosen wurden die Hände losgebunden, er kam hinters Steuer und mußte fahren. Blondie wurde auf den Beifahrersitz gestoßen, wo er sich zusammenkauerte und die gebrochenen Arme im Schoß barg. Ronnie und Syd folgten ihnen bis zur Waterloo-Brücke, dann machten sie kehrt und fuhren heim.
Jim Rawlings schwirrte der Kopf. Er machte sich einen Espresso und dachte nochmals über alles nach.
Er hatte tatsächlich den Diplomatenkoffer auf dem Trümmergelände verbrennen wollen. Aber es war ein so wundervolles handgearbeitetes Stück, das mattglänzende Leder glühte im Licht der Flammen wie Metall. Er hatte den Koffer gründlich auf irgendwelche Erkennungszeichen hin untersucht und keine gefunden. Entgegen seinem besseren Wissen und Zablonskys Warnung hatte er beschlossen, ihn zu behalten.
Er ging zu einem hohen Schrankfach und holte den Koffer herunter. Diesmal inspizierte er ihn mit der Gründlichkeit des professionellen Schränkers. Es dauerte zehn Minuten, bis er neben den Scharnieren das kleine Plättchen entdeckte, das zur Seite glitt, wenn man mit dem Daumen fest daraufdrückte. Im Innern des Koffers klickte etwas. Als er den Koffer wieder öffnete, hatte der Boden sich an einer Seite ein wenig gehoben. Rawlings löste die Bodenplatte vorsichtig mittels eines Papiermessers und sah, was in dem flachen Hohlraum zwischen dem echten und dem falschen Kofferboden steckte. Mit einer Pinzette fischte er die zehn Papierbogen heraus.
Rawlings war kein Experte für Regierungsdokumente, aber er sah den Briefkopf des Verteidigungsministeriums, und was TOP SECRET bedeutet, weiß jeder. Er lehnte sich zurück und pfiff leise vor sich hin.
Rawlings war ein Einbrecher und ein Dieb, aber wie viele Angehörige der Londoner Unterwelt wollte er nicht zulassen, daß jemand sein Land verschaukelte. Es ist Tatsache, daß ein überführter Vaterlandsverräter, genau wie ein Kindsmörder, im Gefängnis in strengstem Einzelgewahrsam zu halten ist, da Berufsganoven einen solchen Zellengenossen womöglich in seine Bestandteile zerlegen würden.
Rawlings wußte, in wessen Wohnung er eingebrochen war. Die Medien hatten nichts über den Raub gemeldet und würden es aus Gründen, die er erst jetzt verstand, vermutlich auch niemals tun. Also machte er am besten kein Aufheben von der Sache. Andererseits waren die Diamanten nun, nach Zablonskys Tod, wahrscheinlich für immer verloren und mit ihnen sein Anteil am Erlös. Rawlings begann den Mann zu hassen, dem die beraubte Wohnung gehörte.
Er hatte die Dokumente mit bloßen Händen angefaßt, und er wußte, daß seine Fingerabdrücke kartiert waren. Folglich mußte er die Papiere mit einem Tuch sauber abreiben und damit auch die Fingerabdrücke des Verräters entfernen.
An diesem Sonntagnachmittag warf er einen neutralen braunen Briefumschlag, wohlversiegelt und überreichlich mit Marken beklebt, in einen Briefkasten am Elephant and Castle. Die nächste Leerung war erst am Montag, und es wurde Dienstag, bis die Sendung beim Empfänger eintraf. An diesem Dienstag, dem 20. Januar, rief Brigadegeneral Bertie Capstick bei John Preston in Gordon an. Die trügerische Jovialität war aus seiner Stimme verschwunden.
»Johnny, wissen Sie noch, was wir neulich ausgemacht haben? Wenn irgend etwas passiert?... Jetzt ist es soweit. Und es ist nicht die Weihnachtskasse. Ein dicker Hund, Johnny. Jemand hat mir etwas per Post zugeschickt. Keine Bombe, obwohl, die Wirkung könnte noch schlimmer sein. Sieht aus, als hätten wir ein Leck an Bord, Johnny. Und es muß sehr, sehr weit oben sein. Das heißt also, es fällt in Ihr Ressort. Am besten kommen Sie rüber und sehen sich die Sache an.«
Am selben Vormittag erschienen, in Abwesenheit des Wohnungsinhabers, aber auf Anweisung und mit regulären Schlüsseln versehen, zwei Handwerker in einer Wohnung im achten Stock von Fontenoy House. Sie waren den ganzen Tag damit beschäftigt, den beschädigten Hamber-Safe aus der Mauer zu entfernen und durch ein vollkommen gleiches Modell zu ersetzen. Bis zum Abend sah die Wand wieder genauso aus wie vor dem Einbruch. Die Männer gingen.