8. Kapitel
Das Telefon klingelte am Montagmorgen, als Preston mit seinem Sohn dabei war, die Wohnung zu verlassen.
»Mr. Preston? Hier Dafydd Wynne-Evans.«
Einen Augenblick lang konnte er mit dem Namen nichts anfangen; dann erinnerte er sich wieder an seine Nachfrage vom Freitagabend.
»Ich hab' mir Ihr kleines Metallstück angesehen. Sehr interessant. Könnten Sie herkommen, damit wir uns ein bißchen darüber unterhalten?«
»Eigentlich mach' ich gerade ein paar Tage Urlaub«, sagte Preston. »Wir wär's Ende der Woche?«
In Aldermaston trat eine Pause ein.
»Besser vorher, wenn's Ihre Zeit erlaubt.«
»Äh, sagen Sie, könnten Sie mir nicht telefonisch einen kleinen Hinweis geben?«
»Besser, wir sprechen in meinem Büro darüber«, sagte Doktor Wynne-Evans.
Preston überlegte einen Augenblick. Er wollte mit Tommy einen Tagesausflug in den Safaripark von Windsor machen. Aber der war auch in Berkshire.
»Könnte ich heute nachmittag gegen siebzehn Uhr kommen?« fragte er.
»Abgemacht«, sagte der Wissenschaftler. »Fragen Sie nach mir am Empfang. Ich lasse Sie heraufbringen.«
Professor Krilow wohnte im obersten Stock eines Blocks am Komsomolski-Prospekt, mit einem weiten Blick über die Moskwa und nur einen Katzensprung von der Universität am Südufer entfernt. General Karpow drückte kurz nach achtzehn Uhr auf die Türklingel, und das Akademiemitglied machte selbst auf. Der Professor musterte seinen Besucher ohne ein Zeichen des Wiedererkennens.
»Genosse Professor Krilow?«
»Ja.«
»Ich bin General Karpow. Könnte ich Sie kurz sprechen?«
Er hielt ihm seinen Personalausweis hin. Professor Krilow betrachtete den Ausweis aufmerksam und nahm den Rang seines Besuchers zur Kenntnis sowie die Tatsache, daß er vom Ersten Hauptdirektorat war. Dann gab er den Ausweis zurück und bat Karpow, einzutreten. Er ging voraus in ein gut möbliertes Wohnzimmer, nahm seinem Gast den Mantel ab und bat ihn, sich zu setzen.
»Welchem Umstand verdanke ich die Ehre?« fragte er, nachdem er sich Karpow gegenüber gesetzt hatte. Er war ein Mann von Rang und Format, dem ein General des KGB nicht übermäßig imponieren konnte.
Karpow wurde klar, daß der Professor aus anderem Holz geschnitzt war. Aus Erita Philby hatte er die Sache mit dem Chauffeur heraustricksen können; den Fahrer Gregoriew hatte er mit seinem Rang eingeschüchtert; Martschenko war ein alter Kollege und schaute gerne tief in die Flasche. Krilow dagegen war ein eminentes Mitglied der Partei, des Obersten Sowjets, der Akademie und gehörte zur Elite der Nation. Karpow beschloß, keine Zeit zu verlieren und seine Trümpfe schnell und gnadenlos auszuspielen. Das war die einzige Möglichkeit.
»Professor Krilow, ich möchte, daß Sie mir im Interesse des Staates etwas sagen. Ich möchte, daß Sie mir sagen, was Sie über den Plan Aurora wissen.«
Professor Krilow saß wie vom Donner gerührt. Dann wurde er rot vor Ärger.
»General Karpow, Sie überschreiten Ihre Kompetenzen«, schnappte er. »Im übrigen weiß ich nicht, wovon Sie reden.«
»Ich glaube schon«, sagte Karpow ruhig, »und ich glaube, Sie sollten mir erzählen, was es mit diesem Plan auf sich hat.«
Als Antwort streckte Krilow gebieterisch die Hand aus.
»Ihre Befugnis, bitte.«
»Meine Befugnis ist mein Rang und mein Amt«, sagte Karpow.
»Wenn Sie nicht eine vom Genossen Generalsekretär persönlich ausgestellte Befugnis haben, dann haben Sie überhaupt keine«, sagte Krilow eisig. »Ich glaube, es ist höchste Zeit, daß ich Ihre Fragen jemandem zu Gehör bringe, der ungleich befugter ist als Sie.«
Er nahm den Telefonhörer ab und fing zu wählen an.
»Das ist vielleicht keine sehr gute Idee«, sagte Karpow. »Wußten Sie, daß einer Ihrer Mitberater, der KGB-Oberst a. D. Philby, bereits vermißt wird?«
Krilow hörte zu wählen auf.
»Was soll das heißen: vermißt wird?« fragte er. Die erste Spur eines Zögerns machte sich in seiner bis jetzt so selbstsicheren Haltung bemerkbar.
»Bitte setzen Sie sich wieder und hören Sie mich bis zum Ende an«, sagte Karpow.
Krilow setzte sich. Irgendwo in der Wohnung wurde eine Tür geöffnet. Eine Sekunde lang waren die grellen Töne westlicher Jazzmusik zu hören. Dann wurde die Tür wieder geschlossen.
»Ich meine vermißt«, sagte Karpow. »Weg von zu Hause, Fahrer fortgeschickt, Frau keine Ahnung, wo er ist und wann er, wenn überhaupt, wieder zurückkommt.«
Es war ein Glücksspiel, und der Einsatz war verdammt hoch. Der Professor sah besorgt aus. Dann faßte er sich wieder.
»Es kommt nicht in Frage, daß ich über Staatsangelegenheiten mit Ihnen spreche, Genosse General. Ich muß Sie jetzt bitten zu gehen.« »So einfach ist das nicht«, sagte Karpow. »Sie haben doch einen Sohn, Leonid, nicht wahr?«
Der plötzliche Themawechsel verblüffte den Professor.
»Ja«, sagte er, »stimmt. Warum?«
»Vielleicht darf ich Ihnen das erklären«, meinte Karpow.
Auf der anderen Seite Europas fuhren Preston und sein Sohn am Spätnachmittag eines warmen Frühlingstages aus dem Safaripark.
»Ich muß nur noch jemanden besuchen, bevor wir nach Hause fahren«, sagte der Vater. »Es ist hier ganz in der Nähe. Hast du schon mal von Aldermaston gehört?«
Der Junge riß die Augen auf.
»Die Bombenfabrik?« fragte er.
»Bombenfabrik stimmt nicht ganz«, korrigierte Preston, »es ist ein Forschungszentrum.«
»Ach nein! Da fahren wir hin? Lassen die uns rein?«
»Mich schon. Du mußt im Wagen auf dem Parkplatz bleiben. Aber es dauert nicht lange.«
Er bog nach Norden ab zur M4.
»Ihr Sohn ist vor neun Wochen von einer Reise nach Kanada zurückgekommen, auf der er als Dolmetscher bei einer Handelsdelegation fungiert hat«, sagte General Karpow ruhig. Krilow nickte.
»Und?«
»Während er dort drüben war, haben meine KR-Leute bemerkt, daß eine attraktive junge Person viel Zeit - viel zuviel Zeit, hieß es - darauf verwendete, mit den Mitgliedern unserer Delegation ins Gespräch zu kommen, vor allem mit den jüngeren, den Sekretärinnen, Dolmetschern und so weiter. Die betreffende Person wurde fotografiert und als Lockvogel identifiziert, amerikanischer, nicht kanadischer Herkunft und so gut wie sicher von der CIA.
Dieser Lockvogel wurde also überwacht, und es stellte sich heraus, daß er sich mit Ihrem Sohn Leonid in einem Hotelzimmer verabredet hatte. Um es nicht zu spannend zu machen, das Paar hatte eine kurze, aber heftige Affäre.«
Professor Krilows Gesicht war rotgefleckt vor Wut.
»Wie können Sie es wagen! Wie können Sie die Unverschämtheit haben, hierherzukommen und zu versuchen, mich, ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften und des Obersten Sowjets, mit derart üblen Methoden zu erpressen. Das wird die Partei erfahren. Sie kennen ja die Regel:
Nur die Partei kann die Partei disziplinieren. Wenn Sie auch General des KGB sind, so haben Sie doch Ihre Befugnisse meilenweit überschritten, General Karpow.«
Jewgenij Karpow saß scheinbar gedemütigt da und starrte auf den Tisch, während der Professor fortfuhr.
»Mein Sohn hat also in Kanada ein Mädchen vernascht. Dann hat sich herausgestellt, daß das Mädchen Amerikanerin war, wovon er sicher keine Ahnung hatte. Leichtsinnig vielleicht, aber mehr nicht. Ist er von diesem CIA-Mädchen angeworben worden?«
»Nein«, gab Karpow zu.
»Hat er Staatsgeheimnisse verraten?«
»Nein.«
»Dann steckt nichts dahinter als jugendlicher Leichtsinn. Er wird seinen Rüffel bekommen. Doch der Rüffel für Ihre Abwehrleute wird schärfer ausfallen. Sie hätten ihn warnen sollen. Was die Bettgeschichte anbelangt, so sind wir in der Sowjetunion nicht so prüde, wie Sie anzunehmen belieben. Kräftige junge Männer haben seit Anbeginn aller Zeiten Mädchen vernascht... «
Karpow hatte seinen Diplomatenkoffer geöffnet und ein großes Foto herausgezogen, eines aus einem ganzen Stoß, und es auf den Tisch gelegt. Professor Krilow starrte darauf, und die Stimme versagte ihm. Die Farbe wich aus seinen Wangen, und sein ältliches Gesicht sah grau aus im Lampenlicht. Mehrmals schüttelte er den Kopf.
»Tut mir leid«, sagte Karpow sehr sanft, »wirklich sehr leid. Die Überwachung galt dem Amerikaner, nicht Ihrem Sohn. Es war nicht beabsichtigt, daß es dazu kommen sollte.«
»Ich glaube es einfach nicht«, krächzte der Professor.
»Ich habe auch Söhne«, murmelte Karpow. »Ich glaube, ich kann verstehen oder versuchen zu verstehen, wie Ihnen zumute ist.«
Der Professor holte tief Luft, stand auf, murmelte »entschuldigen Sie bitte« und schoß aus dem Zimmer. Karpow seufzte und steckte das Foto wieder in seinen Diplomatenkoffer. Er hörte Fetzen von Jazz, als sich am Ende des Korridors eine Tür öffnete, dann plötzlich Stille, als die Musik verstummte, und Stimmen, zwei Stimmen, die wütend aufeinander einschrieen. Der Baß des Vaters und der Diskant des Sohnes. Die Auseinandersetzung endete mit einem Klatschen wie von einem Schlag. Einige Sekunden später kam Professor Krilow ins Wohnzimmer zurück. Er nahm wieder Platz und saß da mit stumpfem Blick und hängenden Schultern.
»Was werden Sie tun?« preßte er hervor. Karpow seufzte bekümmert.
»Meine Pflicht ist völlig eindeutig. Wie Sie sagten, nur die Partei kann die Partei disziplinieren. Ich müßte von Rechts wegen den Bericht und die Fotos an das Zentralkomitee weiterleiten.
Sie kennen das Gesetz. Sie wissen, was sie mit den >Bubis< anfangen. Fünf Jahre verschärftes Arbeitslager, ohne Straferlaß. Und wenn er erst einmal im Lager ist, dann wird sich sein >Vergehen< schnell herumsprechen, fürchte ich. Die Folge dürfte sein, daß er dann, wie soll ich sagen, jedermanns >Bubi< wird. Ein junger Mann aus behüteten Verhältnissen hat da kaum eine Chance zu überleben.«
»Aber -«, drängte der Professor.
»Aber... ich kann befinden, daß die CIA die Sache möglicherweise weiterverfolgen will. Dazu habe ich das Recht. Ich kann befinden, daß die Amerikaner in ihrer Ungeduld möglicherweise den Agenten in die Sowjetunion schicken werden, damit er den Kontakt mit Leonid wieder aufnimmt. Ich habe das Recht zu befinden, daß die Falle für Ihren Sohn in eine Falle für den CIA-Agenten verwandelt werden könnte. Während diese Operation läuft, könnte ich die Akte in meinem Privatsafe auf Eis legen, und diese Operation könnte sehr lange laufen. Dazu bin ich befugt; in operativen Angelegenheiten bin ich durchaus dazu befugt.«
»Und der Preis?«
»Das wissen Sie doch.«
»Was wollen Sie über den Plan Aurora erfahren?«
»Fangen Sie ganz einfach mit dem Anfang an.«
Preston bog in die Haupteinfahrt von Aldermaston ein, fand eine Lücke auf dem Besucherparkplatz und stieg aus.
»Endstation, Tommy. Du wartest hier auf mich. Es wird hoffentlich nicht lange dauern.«
Er ging in der Dämmerung zu der Drehtür, schleuste sich in das Gebäude und wandte sich an die beiden Männer am Empfang. Sie prüften seinen Ausweis und riefen Dr. Wynne- Evans an, der bestätigte, daß er den Besucher erwarte. Preston fuhr hinauf in den dritten Stock, wurde ins Büro geführt und gebeten, auf einem Sessel vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen.
Der Wissenschaftler sah ihn über den Rand seiner Brille an. »Darf ich fragen, wo Sie dieses kleine Ausstellungsstück herhaben?« fragte er und deutete dabei auf die bleiähnliche Metallscheibe, die nun unter einem Glassturz ruhte.
»Wurde bei jemandem am Donnerstagmorgen in Glasgow gefunden. Was ist mit den beiden anderen Scheiben?«
»Oh, die sind nur aus ganz gewöhnlichem Alu, mein Junge. Nur als Schutz für diese da gedacht. Mich interessiert nur die eine.«
»Wissen Sie, was das ist?« fagte Preston. Die Naivität der Frage schien Dr. Wynne-Evans zu verblüffen.
»Natürlich weiß ich, was das ist«, sagte er. »Gehört zu meinem Beruf, zu wissen, was das ist. Es ist eine Scheibe aus reinem Polonium.«
Preston runzelte die Stirn. Er hatte noch nie von einem derartigen Metall gehört.
»Nun, begonnen hat alles Anfang Januar mit einem Bericht, den Philby dem Generalsekretär vorgelegt hat. Darin behauptete Philby, daß innerhalb der britischen Labour Party ein Flügel der Harten Linken existiere, der aufgrund seiner Stärke in der Lage sei, mehr oder weniger nach Belieben die völlige Kontrolle über den Parteiapparat zu übernehmen. Das entspricht auch meiner eigenen Ansicht.«
»Und meiner«, murmelte Karpow.
»Philby ging noch weiter. Er behauptete ferner, daß es innerhalb dieses Flügels der Harten Linken eine Gruppe von dezidierten Marxisten-Leninisten gebe, die nichts weniger als dies im Sinn hätten; doch nicht in der Zeit vor den nächsten Unterhauswahlen. Unmittelbar darauf, im Gefolge eines Labour- Wahlsieges. Kurz und gut, diese Leute wollten den Sieg von Neil Kinnock abwarten und ihn dann als Parteiführer stürzen. An seine Stelle würde Englands erster marxistisch-leninistischer Premier treten und eine Reihe von Maßnahmen einleiten, die völlig in Einklang stünden mit der sowjetischen Außen- und Verteidigungspolitik, vor allem was die einseitige nukleare Abrüstung und die Ausweisung der amerikanischen Streitkräfte anbelangt.«
»Machbar«, nickte General Karpow. »Es wurde also ein Viererausschuß gebildet, der herausfinden sollte, wie dieser Wahlsieg am besten zu erringen sei?«
Professor Krilow sah überrascht auf.
»Ja. Philby, General Martschenko, ich selbst und Dr. Rogow.«
»Der Schachgroßmeister?«
»Und Physiker«, fügte Krilow hinzu. »Herausgekommen ist dabei der Plan Aurora, der eine massive Destabilisierung der englischen Wählerschaft bewirkt und Millionen von Menschen zu entschiedenen Verfechtern der einseitigen nuklearen Abrüstung gemacht hätte.«
»Sie sagen... hätte?«
»Ja. Der Plan war hauptsächlich Rogows Idee. Er setzte sich energisch dafür ein. Martschenko zog mit, aber unter Vorbehalt. Philby, nun der nickte und lächelte nur immer und wartete ab, um zu sehen, aus welcher Ecke der Wind wehte.«
»Ganz Philby«, pflichtete Karpow bei. »Und dann hat der Ausschuß den Plan vorgelegt?«
»Ja. Am 12. März. Ich war dagegen. Der Generalsekretär ebenfalls. Er lehnte ihn rundweg ab, befahl, daß alle Notizen und Akten vernichtet werden sollten, und vergatterte uns alle vier zu absolutem Stillschweigen. Die Sache dürfe unter keinen Umständen je wieder zur Sprache gebracht werden.«
»Warum waren Sie eigentlich dagegen?«
»Der Plan schien mir fahrlässig und gefährlich. Und vor allem verstieß er völlig gegen das vierte Protokoll. Ein Bruch dieses Protokolls könnte für die Welt unabsehbare Folgen haben.«
»Das vierte Protokoll?«
»Ja. Zum Internationalen Atomwaffensperrvertrag. Sie erinnern sich natürlich?« »Man muß sich an so vieles erinnern«, sagte Karpow sanft, »bitte helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge.«
»Polonium, nie davon gehört«, sagte Preston.
»Kann ich mir vorstellen«, sagte Dr. Wynne-Evans. »Gehört nicht zu Ihrer Bastlerausrüstung. Ein sehr seltenes Metall.«
»Und wozu wird es verwendet?«
»Nun, gelegentlich - nur ganz gelegentlich, wohlgemerkt - in der Medizin, bei Heilverfahren. War Ihr Mann in Glasgow auf dem Weg zu einem Ärztekongreß oder zu einer Ausstellung von medizinischen Geräten?«
»Nein«, sagte Preston fest, »er war bestimmt nicht auf dem Weg zu einem Ärztekongreß.«
»Nun, die Medizin deckt nur zehn Prozent von dem ab, was der Mann mit der Scheibe hätte anfangen können - bevor Sie ihn darum erleichtert haben. Wenn er also nicht zu einem Ärztekongreß ging, dann bleiben nur die restlichen neunzig Prozent. Außer diesen beiden Funktionen hat Polonium keine auf diesem Planeten bekannte Verwendung.«
»Und die andere Verwendung?«
»Nun, eine Poloniumscheibe von dieser Größe kann von sich aus gar nichts tun. Wenn man sie aber mit einer anderen Scheibe aus Lithium kombiniert, dann bilden die beiden zusammen einen Initiator.«
»Einen was?«
»Einen Initiator.«
»Und, bitte, was zum Teufel ist das?«
»Am l.Juli 1968«, sagte Professor Krilow, »wurde zwischen den damaligen Nuklearmächten, den USA, Großbritannien und der UdSSR, der Atomwaffensperrvertrag geschlossen.
In diesem Vertrag verpflichteten sich die drei Signatarstaaten, weder die Technologie noch das Material zum Bau von Nuklearwaffen an irgendein Land weiterzugeben, das damals noch nicht im Besitz einer derartigen Technologie oder des entsprechenden Materials war. Erinnern Sie sich?«
»Ja«, sagte Karpow, »daran kann ich mich erinnern.«
»Die Unterzeichnungszeremonien in Washington, London und Moskau genossen damals weltweit eine riesige Publizität. Die später folgende Unterzeichnung von vier geheimen Zusatzprotokollen war jedoch von keinerlei Publizität begleitet.
Jedes dieser Protokolle sah eine gefahrbringende Entwicklung voraus, die damals technisch noch nicht möglich war, aber eines Tages technisch möglich werden konnte.
Im Laufe der Jahre wurden die ersten drei Protokolle gegenstandslos, entweder weil die vorausgesehene Entwicklung als unmöglich erkannt wurde, oder weil man in dem Maße, wie die Bedrohung Realität wurde, auch Gegenmittel zu ihrer Abwehr fand. Doch Anfang der achtziger Jahre wurde das vierte und geheimste der Protokolle zu einem regelrechten Alptraum.«
»Was sah das vierte Protokoll voraus?« fragte Karpow.
Professor Krilow schwieg eine Weile.
»Wir ließen uns diese Sache von Dr. Rogow erklären«, sagte er schließlich. »Wie Sie wissen, ist er Kernphysiker; er ist Spezialist auf diesem Gebiet. Das vierte Protokoll sah technologische Fortschritte im Bau von Wasserstoffbomben voraus, hauptsächlich in Richtung Miniaturisierung und Vereinfachung. Und genau das ist offensichtlich eingetreten. Einerseits sind die Waffen unendlich viel mächtiger geworden, aber auch komplizierter in der Herstellung und größer im Volumen. Es gibt aber auch die umgekehrte Entwicklung. Die Atombombe, die damals, 1945, für ihren Transport eine riesige fliegende Festung brauchte, ist heute in so kleinen Abmessungen herstellbar, daß sie in einer Aktenmappe Platz hätte, und so einfach nach dem Baukastenprinzip zu konstruieren, daß man sie aus einem Dutzend vorfabrizierter Bestandteile zusammensetzen kann.« »Und das wird in dem vierten Protokoll geächtet?«
Professor Krilow schüttelte den Kopf.
»Mehr als das. Es verbot allen Signatarmächten die heimliche Einfuhr einer solchen Vorrichtung, zusammengebaut oder in Einzelteilen, in irgendein Land zum Zwecke der Zündung in, sagen wir, einer gemieteten Wohnung oder einem gemieteten Haus im Herzen einer Stadt.«
»Keine Vier-Minuten-Vorauswarnung«, überlegte Karpow, »keine Erfassung einer anfliegenden Rakete über Radar, kein Gegenschlag, keine Identifizierung des Täters. Nur eine Megatonnenexplosion von einer Souterrainwohnung aus.«
»Richtig«, nickte der Professor. »Darum habe ich von einem regelrechten Alptraum gesprochen. Die offenen Gesellschaften des Westens sind verwundbarer; aber auch wir sind keineswegs gefeit gegen eingeschmuggelte Vorrichtungen. Sollte das vierte Protokoll je gebrochen werden, so sind die ganzen Raketen und elektronischen Gegenmaßnahmen, ja sogar der größte Teil des militärisch-industriellen Komplexes zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.«
»Und das wollte der Plan Aurora bewirken?«
Krilow nickte. Er schien aufzutauen.
»Aber das Ganze wurde abgeblasen«, fuhr Karpow fort, »der Plan ist, wie wir das bei uns nennen, gestorben.«
Krilow schien sich förmlich an das Wort zu klammern.
»Ganz richtig. Gestorben.«
»Aber sagen Sie mir, was passiert wäre, wenn«, drängte Karpow.
»Es war beabsichtigt, nach England einen sowjetischen Spitzenagenten einzuschleusen, der irgendwo in der Provinz ein Haus gemietet und den Plan Aurora ausgeführt hätte.
Sorgfältig ausgewählte Kuriere hätten ihm die rund zehn Bestandteile einer kleinen Eineinhalb-Kilotonnen-Atombombe gebracht.«
»So klein? In Hiroshima waren es zehn Kilotonnen.«
»Es war nicht beabsichtigt, großen Schaden anzurichten. Das hätte zu einer Annullierung der Unterhauswahlen geführt. Es war beabsichtigt, einen angeblichen nuklearen Unfall zu inszenieren, der die zehn Prozent Wechselwähler der einzigen Partei in die Arme treiben würde, die sich für einseitige nukleare Abrüstung ausspricht, der Labour Party.«
»Verzeihung«, sagte Karpow, »fahren Sie bitte fort.«
»Die Bombe wäre sechs Tage vor der Wahl gezündet worden«, sagte der Professor. »Die Frage des Platzes war von ausschlaggebender Bedeutung. Es handelte sich um die Basis der amerikanischen Luftstreitkräfte in Bentwaters, Suffolk. Dort sind anscheinend F-5-Bomber stationiert, die mit kleinen taktischen Atomwaffen ausgerüstet sind zur Bekämpfung unserer massierten Panzerdivisionen im Falle einer Invasion Westeuropas.«
Karpow nickte. Er kannte Bentwaters, und die Information stimmte.
»Der ausführende Offizier«, fuhr Professor Krilow fort, »wäre angewiesen worden, die zusammengebaute Vorrichtung in den frühen Morgenstunden mit dem Wagen bis an die Stacheldrahtabsperrung der Basis heranzufahren. Die ganze Basis scheint mitten im Rendlesham Forest zu liegen. Kurz vor Sonnenaufgang hätte er das Gerät zur Explosion gebracht.
Wegen der relativ geringen Sprengkraft hätte sich der Schaden auf die Luftwaffenbasis beschränkt, die weggeblasen worden wäre, den Rendlesham Forest, drei Weiler, ein Dorf, den Strand und auf ein Vogelschutzgebiet. Da die Basis ganz nahe an der Küste von Suffolk liegt, wäre die Wolke des in die Höhe geschleuderten radioaktiven Staubs bei dem vorherrschenden Westwind auf die Nordsee hinausgetrieben worden. Auf ihrem Weg zur holländischen Küste wären fünfundneunzig Prozent dieser Staubwolke unwirksam geworden oder ins Meer gefallen. Die Absicht war nicht, eine ökologische Katastrophe hervorzurufen, sondern Furcht und eine heftige Welle des Hasses auf Amerika.«
»Die Leute hätten es vielleicht nicht geglaubt«, sagte Karpow. »Eine Menge Dinge hätten schiefgehen können. Der Ausführende hätte lebend gefangengenommen werden können.«
Professor Krilow schüttelte den Kopf.
»Rogow hatte das alles bedacht. Das Ganze war ausgearbeitet wie eine Schachpartie. Dem Ausführenden wäre gesagt worden, er habe nach dem Knopfdruck auf den Zeitzünder noch zwei Stunden, damit er möglichst weit wegfahren könne. In Wirklichkeit wäre der Zeitzünder - eine hermetisch verkapselte Einheit - auf sofortige Detonation eingestellt gewesen.«
Armer Petrofski, dachte Karpow.
»Und wie steht's mit der Glaubwürdigkeit?« fragte er.
»Am Abend des Tages, an dem die Explosion stattgefunden hätte«, sagte Krilow, »wäre ein Mann, der offensichtlich ein sowjetischer Geheimagent ist, nach Prag geflogen, um dort eine internationale Pressekonferenz abzuhalten. Dr. Nahum Wisser, ein israelischer Kernphysiker, der anscheinend für uns arbeitet.«
General Karpow verzog keine Miene.
»Sie erstaunen mich«, sagte er. Er kannte die Akte Wisser. Dr. Wisser hatte einen Sohn gehabt, den er sehr liebte. Der junge Mann war als Soldat der israelischen Armee 1982 in Beirut stationiert gewesen. Als die Phalangisten die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Chatila verwüsteten, hatte Leutnant Wisser versucht zu intervenieren. Er war von einer Kugel tödlich getroffen worden.
Dem schmerzgebeugten Vater, der damals schon ein engagierter Gegner der Likudpartei war, wurde sorgfältig konstruiertes Beweismaterial vorgelegt, wonach eine israelische Kugel seinen Sohn getötet hatte. In seiner Verbitterung und Wut rückte Dr. Wisser noch ein wenig mehr nach links und erklärte sich bereit, für Rußland zu arbeiten.
»Wie dem auch sei, Dr. Wisser hätte der Weltöffentlichkeit dargelegt, daß er mit den Amerikanern jahrelang auf Austauschbesuchen an der Entwicklung von ultraminiaturisierten nuklearen Sprengköpfen gearbeitet habe. Was anscheinend zutrifft. Er hätte ferner ausgeführt, daß er die Amerikaner zu wiederholten Malen gewarnt habe, diese Kleinstsprengköpfe seien wegen ihrer mangelnden Stabilität noch nicht einsatzfähig. Doch die Amerikaner hätten die neuen Sprengköpfe so schnell wie möglich einsetzen wollen, weil sie dann mehr Treibstoff an Bord nehmen und die Reichweite ihrer F-5-Bomber erhöhen könnten.
Man rechnete damit, daß diese Behauptungen einen Tag nach der Explosion und fünf Tage vor der Wahl die Welle von Antiamerikanismus in England in eine Sturmflut verwandeln würden, die nicht einmal die Konservativen hätten eindämmen können.«
Karpow nickte.
»Ja, das wäre wohl der Fall gewesen. Sonst noch was aus dem fruchtbaren Hirn des Dr. Rogow?«
»Noch viel mehr«, sagte Krilow verdrießlich. »Er meinte, die Amerikaner würden mit einem heftigen und theatralischen Dementi reagieren. Am vierten Tag vor der Wahl sollte dann der Generalsekretär der Welt verkünden, daß es Sache der Amerikaner sei, wenn sie unbedingt Amok laufen wollten. Ihm seinerseits bleibe keine andere Wahl, als sämtliche Streitkräfte zum Schutz des Sowjetvolks in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen.
Am selben Abend würde einer unserer Herrn Kinnock sehr nahestehenden Freunde den Labour-Führer bedrängen, nach Moskau zu fliegen, um beim Generalsekretär persönlich für die Erhaltung des Friedens zu intervenieren. Beim geringsten Zögern hätte ihn unser Botschafter zu einem freundschaftlichen Gespräch über die Krise in seinen Amtssitz eingeladen. Angesichts des Kameraaufgebots würde er wohl schwerlich abgelehnt haben.
Nun, man hätte ihm im Handumdrehen ein Visum ausgestellt und ihn am nächsten Morgen in aller Frühe mit einer Aeroflot- Maschine nach Moskau geflogen. Der Generalsekretär hätte ihn vor den Kameras der Weltpresse empfangen, und ein paar Stunden später wären sie mit ungewöhnlich ernsten Mienen auseinandergegangen.«
»Sicher hätte man dem Labour-Führer allen Anlaß gegeben, sorgenvoll dreinzuschauen«, meinte Karpow.
»Ganz recht. Doch noch während Kinnock sich auf seinem abendlichen Rückflug nach London befunden hätte, hätte der Generalsekretär sich mit folgender Verlautbarung an die Weltöffentlichkeit gewendet: Einzig und allein auf Ersuchen des britischen Labour-Führers werde er die höchste Alarmstufe für die Gesamtstreitkräfte wieder rückgängig machen. Kinnock wäre in London mit dem Glorienschein eines Staatsmannes von Weltformat gelandet.
Einen Tag vor der Wahl hätte er in einer aufsehenerregenden Rede an die englische Nation gefordert, ein für allemal mit dem nuklearen Wahnsinn Schluß zu machen. Laut Plan Aurora hätten die vorangegangenen sechs Tage die traditionelle Allianz mit Amerika erschüttert, die USA von den Europäern isoliert und die zehn Prozent, die entscheidenden zehn Prozent der britischen Wählerschaft veranlaßt, für die Labour Party zu stimmen und sie ans Ruder zu bringen. Danach hätte die Harte Linke die Macht übernommen. Das, General, war der Plan Aurora.«
Karpow stand auf.
»Sie sind sehr freundlich gewesen, Professor Krilow, und sehr klug. Bewahren Sie Stillschweigen, und ich werde das gleiche tun. Wie gesagt, der Plan ist gestorben. Und die Akte Ihres Sohns wird für sehr lange Zeit in meinem Safe ruhen. Ich darf mich verabschieden. Ich glaube nicht, daß ich Sie nochmals belästigen muß.«
Er lehnte sich in die Polster zurück, als der Tschaika ihn den Komosolski-Prospekt hinunterfuhr. O ja, dachte er, der Plan ist brillant. Aber ist die Zeit nicht zu knapp?
Ebenso wie der Generalsekretär wußte er, daß die nächsten Wahlen in Großbritannien vorverlegt worden waren und in sechzig Tagen, im kommenden Juni, stattfinden sollten. Die Information an den Generalsekretär war ja schließlich durch seine Rezidentura in der Londoner Botschaft gegangen.
Karpow ging den Plan nochmals im Geist durch und suchte nach Schwachstellen. Er ist gut, dachte er schließlich, verdammt gut. Das heißt, solange er klappt. Wenn nicht, dann gibt es eine Katastrophe.
»Ein Initiator, mein guter Mann, ist eine Art Zünder für eine Bombe«, sagte Dr. Wynne-Evans.
»Oh«, sagte Preston. Er war ein bißchen enttäuscht. Bomben waren etwas Alltägliches in England. Unschön, aber örtlich begrenzt. In Irland hatte er nicht wenig damit zu tun gehabt. Er hatte von Zündern, Detonatoren und Auslösern gehört, aber noch nie von Initiatoren. Sah so aus, als habe der Russe Semjonow ein Bauteil bei sich gehabt, das für eine Terroristengruppe irgendwo in Schottland bestimmt war. Was für eine Gruppe? Tartanarmee, Anarchisten oder eine IRA- Einheit? Die Verbindung nach Rußland war merkwürdig; und sehr wohl die Fahrt nach Glasgow wert gewesen.
»Dieser, äh, Initiator aus Polonium und Lithium, könnte der in einer Hochbrisanzbombe verwendet werden?«
»Kann man wohl sagen, Boyo«, antwortete der Waliser, »einen Initiator braucht man zur Zündung einer A-Bo.«