7. Kapitel
Der Flughafen von Glasgow liegt acht Meilen südwestlich der Stadt, und ist mit ihr durch die Schnellstraße M8 verbunden. Prestons Maschine landete kurz nach sechzehn Uhr dreißig, und da er nur eine Tasche bei sich hatte, stand er zehn Minuten später in der Ankunftshalle. Er ging zum Informationsschalter und ließ Mr. Carmichael ausrufen.
Der Detective Inspector von Special Branch kam zum Schalter, und sie machten sich miteinander bekannt. Fünf Minuten später saßen sie im Wagen des Inspectors und fuhren in der einfallenden Dämmerung über die Schnellstraße der Stadt entgegen.
»Fangen wir doch gleich an«, schlug Preston vor. »Erzählen Sie mir der Reihe nach, was passiert ist.«
Carmichael drückte sich knapp und präzise aus. Es blieben noch eine Menge Lücken, die er nicht ausfüllen konnte, aber er hatte Zeit gehabt, die Aussagen der beiden Police Constables zu lesen, besonders die von Craig, so daß sein Bericht recht ausführlich war. Preston hörte ihm schweigend zu.
»Und warum riefen Sie das schottische Gesundheitsministerium an und sagten, es solle jemand aus London herkommen?« fragte er, als Carmichael geendet hatte.
»Vielleicht irre ich mich, aber ich habe den Verdacht, daß der Mann womöglich gar kein Handelsmatrose war«, sagte Carmichael.
»Weiter.«
»Craig hat heute morgen in der Revierkantine etwas gesagt«, erklärte Carmichael. »Ich war selber nicht dort, aber ein CID- Mann hat die Bemerkung gehört und mich angerufen. McBain stimmte Craigs Äußerung zu. Aber keiner von ihnen hat die Sache in seiner offiziellen Aussage erwähnt. Wie Sie wissen, werden in den Aussagen die Fakten festgehalten; und die Polizisten hielten sich daran. Trotzdem scheint es die Mühe wert, der Sache nachzugehen.«
»Ich höre.«
»Sie sagten, als sie den Matrosen fanden, habe er, zusammengekrümmt wie ein Embryo, auf der Straße gelegen und den Jutesack mit beiden Händen an den Leib gepreßt. Craig sagte wörtlich, >wie ein Baby, das er beschützen wollte<.«
Preston begriff, was daran so auffallend war. Wenn ein Mensch fast zu Tode getreten wird, rollt er sich instinktiv zu einer Kugel zusammen, aber er benutzt die Hände, um seinen Kopf zu schützen. Warum sollte jemand seinen ungeschützten Kopf den Tritten aussetzen, nur damit ein wertloser Sack nichts abbekommt?
»Dann«, fuhr Carmichael fort, »fielen mir Zeit und Ort des Überfalls auf. Im Hafen von Glasgow gehen die Seeleute zu Betty's oder in die Stable Bar. Dieser Mann war vier Meilen von den Docks entfernt und marschierte, lang nach der Sperrstunde, einen zweibahnigen Fahrdamm entlang, offenbar nirgendwohin, jedenfalls gibt es weit und breit keine Kneipe. Was zum Teufel hatte er dort um diese Nachtzeit zu suchen?«
»Gute Frage«, sagte Preston. »Was weiter?«
»Heute vormittag um zehn ging ich zur städtischen Leichenhalle. Der Körper des Toten war durch den Sturz übel zugerichtet, aber das Gesicht hatte, bis auf ein paar blaue Flecken, kaum gelitten. Die Neds hatten hauptsächlich den Hinterkopf und den Körper bearbeitet. Ich habe schon viele Gesichter von Matrosen gesehen. Sie waren von Wind und Wetter gegerbt, braun und ledrig. Dieser Mann hatte ein glattes blasses Gesicht, nicht das Gesicht eines Mannes, der sein Leben auf Deck verbringt.
Und dann die Hinde. Die Handrücken hätten gebräunt sein müssen, die Innenflächen schwielig. Aber sie waren weich und weiß, Bürohände. Und schließlich die Zähne. Ich würde meinen, bei einem Matrosen aus Leningrad wären bestenfalls die einfachsten Reparaturen zu finden: Amalgamfüllungen, und wenn Zahnersatz, dann aus Stahl, wie in Rußland üblich. Dieser Mann hatte Goldfüllungen und zwei Goldkronen.«
Preston nickte zustimmend. Carmichael war tüchtig. Sie fuhren jetzt auf den Parkplatz des Hotels, wo Carmichael für Preston ein Zimmer hatte reservieren lassen.
»Noch ein Letztes. Eine Kleinigkeit, aber sie könnte etwas zu bedeuten haben«, sagte Carmichael. »Vor der Autopsie suchte der sowjetische Konsul unseren Chief Superintendent in der Pitt Street auf. Ich war dabei. Der Konsul schien drauf und dran zu sein, Protest einzulegen; dann erschienen der Kapitän des Schiffes und sein Polit-Offizier. Der Offizier führte den Konsul hinaus auf den Korridor, und sie redeten leise miteinander. Als der Konsul wieder ins Büro kam, war er ganz Höflichkeit und Verständnis. Als habe ihm der Polit-Offizier irgend etwas über den Toten mitgeteilt. Ich hatte den Eindruck, sie wollten jeden Ärger vermeiden, bis sie mit ihrer Botschaft gesprochen hätten.«
»Haben Sie irgendwem in der uniformierten Abteilung gesagt, daß ich hier bin?« fragte Preston.
»Noch nicht«, erwiderte Carmichael. »Soll ich?«
Preston schüttelte den Kopf.
»Warten Sie bis morgen früh. Dann werden wir entscheiden. Vielleicht hat das Ganze gar nichts zu bedeuten.«
»Brauchen Sie noch irgend etwas?«
»Kopien der verschiedenen Aussagen, möglichst von allen. Und die Liste der Gegenstände, die der Mann bei sich hatte. Wo sind sie übrigens?«
»In Revier von Partick unter Verschluß. Ich besorge die Kopien und bringe sie später vorbei.«
General Karpow rief einen Freund beim GRU an und band ihm eine Geschichte auf, wonach ihm einer seiner Diplomatenkuriere mehrere Flaschen französischen Cognac aus Paris mitgebracht habe. Er selber rühre das Zeug nicht an, aber er schulde Pyotr Martschenko eine Gefälligkeit. Er wolle den Cognac am Wochenende in Martschenkos Datscha abliefern. Nur wisse er nicht, ob dort jemand im Haus sei. Ob der Genosse Martschenkos Telefonnummer in Peredelkino habe? Der GRU- Mann hatte sie. Er gab sie Karpow und vergaß das Ganze.
In den meisten Datschas der Sowjetelite bleibt den ganzen Winter über eine Haushälterin oder ein Diener im Haus, um die Heizung zu versorgen, damit der Besitzer am Wochenende nicht in eine Eishöhle kommt. Martschenkos Haushälterin war am Apparat. Ja, der General werde morgen, Freitag, hier erwartet; meist treffe er gegen achtzehn Uhr ein. Karpow dankte und legte auf. Er beschloß, seinem Chauffeur freizugeben, selber zu fahren und den GRU-General um neunzehn Uhr zu überraschen.
Preston lag wach in seinem Bett und dachte nach. Carmichael hatte ihm sämtliche Aussagen gebracht, die in der Western Infirmary und im Revier zu Protokoll genommen worden waren. Wie alle von der Polizei aufgenommenen Aussagen waren sie gestelzt und förmlich, nicht so, wie die Leute tatsächlich erzählen, was sie gesehen und gehört haben. Die Fakten waren selbstverständlich da, nicht jedoch die Eindrücke.
Eines konnte Preston nicht wissen, da Craig es nicht erwähnt und die Stationsschwester es nicht gesehen hatte: Ehe Semjonow durch den Gang zwischen den Untersuchungskabinen geflüchtet war, hatte er versucht, die runde Tabaksdose an sich zu reißen. Craig hatte nur gesagt, der Verletzte habe ihn beiseite gestoßen und sei weggerannt.
Auch die Liste der persönlichen Effekten, der »Artikel«, half Preston nicht viel weiter. Auf ihr war eine runde Tabaksdose »mit Inhalt« aufgeführt, der aus zwei Unzen Pfeifentabak bestehen konnte.
Preston ging im Geist die Möglichkeiten durch. Nummer eins: Semjonow war ein »Illegaler«, der in Großbritannien landete. Schlußfolgerung: Höchst unwahrscheinlich. Er stand auf der Besatzungsliste des Schiffs, und sein Fehlen müßte auffallen, wenn die Akademik Komarow wieder nach Leningrad auslaufen würde.
Also zu Nummer zwei: Er sollte mit dem Schiff nach Glasgow kommen und auch mit ihm am Donnerstag abend wieder zurückfahren. Was hatte er weit nach Mitternacht auf halber Höhe der Great Western Road zu tun gehabt? Eine »Lieferung« deponieren oder einen Treff einhalten? Gut. Oder vielleicht sogar etwas abholen und nach Leningrad schaffen. Noch besser. Weitere Möglichkeiten fielen ihm nicht ein.
Wenn Semjonow seine Sendung bereits abgeliefert hatte, warum hätte er dann seinen Jutesack schützen sollen, als hänge sein Leben davon ab? Der Sack wäre dann ja leer gewesen.
Dieselbe Logik galt für den Fall, daß er etwas abholen sollte, es aber noch nicht getan hatte. Und wenn er es bereits abgeholt hatte, wieso fand sich dann nichts Interessantes, wie zum Beispiel ein Bündel Papiere, unter seinen Habseligkeiten?
Wenn der Gegenstand, den er hatte abliefern oder holen sollen, am Körper verborgen werden konnte, wozu dann überhaupt der Sack? Wenn irgend etwas in seinen Anorak oder die Hose eingenäht oder in einem Schuhabsatz versteckt war, hätte er doch den Neds diesen Sack überlassen können, hinter dem sie her waren. Er hätte sich die Prügel ersparen und zu seinem Treff oder wieder zurück aufs Schiff gehen können (je nachdem, in welche Richtung er wollte) und nur ein paar blaue Flecken abbekommen.
Preston gab seinem Heimcomputer noch ein paar »Wenns« ein. Semjonow war als Kurier gekommen und wollte einen bereits in Britannien sitzenden sowjetischen Illegalen persönlich treffen. Um eine mündliche Botschaft zu überbringen? Unwahrscheinlich, es gab ein Dutzend einfachere Möglichkeiten, codierte Informationen durchzugeben. Um eine mündliche Meldung entgegenzunehmen? Gleiche Schlußfolgerung. Um mit einem ansässigen Illegalen den Platz zu tauschen, den Mann zu ersetzen? Nein, das Foto in seinem Seefahrtbuch zeigte eindeutig Semjonow. Wäre er als Ersatzmann für einen Illegalen gekommen, so hätte Moskau ihm ein Duplikat des Seefahrtbuchs mit dem entsprechenden Foto mitgegeben, damit der Mann, den er ablösen sollte, als Leichtmatrose Semjonow mit der Akademik Komarow hätte auslaufen können. Dieses Seefahrtbuch hätte er bei sich getragen. Oder in irgendeinem Futter eingenäht. In welchem Futter?
Zum Beispiel im Futter des Anoraks. Warum sich dann wegen des Sacks halbtot schlagen lassen? Im Juteboden des Sacks? Schon wahrscheinlicher.
Alles schien auf diesen verdammten Sack hinzuweisen. Kurz vor Mitternacht rief er Carmichael in dessen Wohnung an.
»Können Sie mich um acht abholen?« fragte er. »Ich möchte ins Revier von Partick und einen Blick auf die Artikel werfen. Können Sie mir Deckung geben?«
Beim Frühstück am Freitagmorgen sagte Jewgenij Karpow zu seiner Frau Ludmilla:
»Kannst du die Kinder heute nachmittag im Wolga hinaus zur Datscha fahren?«
»Natürlich. Kommst du dann direkt vom Büro aus nach?«
Er nickte zerstreut.
»Es wird spät werden. Ich muß noch jemanden vom GRU aufsuchen.«
Ludmilla Karpowa unterdrückte einen Seufzer. Sie wußte, daß ihr Mann sich in einer kleinen Wohnung im Arbat-Bezirk eine feiste kleine Sekretärin hielt. Sie wußte es, weil Ehefrauen miteinander schwatzen, und in dieser so streng geschichteten Gesellschaft verkehrte Ludmilla nur mit Frauen, deren Ehemänner etwa den gleichen Dienstrang hatten wie der ihre. Sie wußte auch, daß er nicht wußte, daß sie es wußte.
Sie war fünfzig und seit achtundzwanzig Jahren verheiratet. Es war eine gute Ehe, wenn man den Job des Mannes bedachte, und sie war eine gute Ehefrau. Wie die anderen Frauen, die EHD-Offiziere geheiratet hatten, konnte sie längst nicht mehr sagen, wie oft sie bis in die Nacht hinein aufgeblieben war und auf ihn gewartet hatte, während er im Chiffrierraum einer Botschaft im Ausland steckte. Sie hatte die grenzenlose Langeweile unzähliger diplomatischer Cocktailparties durchgestanden, ohne eine Fremdsprache zu beherrschen, während ihr Mann die Runde machte, elegant, liebenswürdig, perfekt im Englischen, Französischen und Deutschen, und im Schutz der Botschaftslegende seine Arbeit tat.
Sie konnte nicht mehr sagen, wie viele Wochen sie allein zugebracht hatte, als die Kinder klein waren und er noch einen niedrigen Rang bekleidete, als sie, ohne Haushaltshilfe, in einer winzigen vollgestopften Wohnung lebte und er sich auf Dienstreisen befand, ZBV unterwegs war oder im Dunkeln nahe der Berliner Mauer auf einen Kurier wartete, der zurück in den Osten kommen sollte.
Sie hatte die Panik und namenlose Furcht kennengelernt, die auch den Unschuldigsten erfaßt, als während einer Stationierung im Ausland einer der Genossen ins westliche Lager übergelaufen war und die Leute von KR, der Spionageabwehr, sie stundenlang ausgequetscht hatten über alles, was sie über den Mann oder seine Frau vielleicht hatte sagen hören. Sie hatte voll Mitleid beobachtet, wie die Ehefrau des Verräters, eine Frau, die sie gut gekannt hatte, jetzt aber nicht mehr gewagt hätte, auch nur mit der Feuerzange anzufassen, zu der wartenden
Aeroflot-Maschine hinausgeführt wurde. Das gehöre zum Beruf, hatte ihr Mann gesagt, um sie zu trösten.
Das lag Jahre zurück. Jetzt war ihr Zhenia General, die Wohnung in Moskau war luftig und groß, sie hatte die Datscha reizend eingerichtet, ganz nach seinem Geschmack, mit Fichtenholz und Teppichen, behaglich, aber rustikal. Die beiden Söhne machten ihnen Ehre, der eine studierte Medizin, der andere Physik. Es würde keine gräßlichen Botschaftswohnungen mehr geben, und in drei Jahren konnte Zhenia sich mit allen Ehren und einer guten Pension ins Privatleben zurückziehen. Und wenn er an einem Abend in der Woche dringend eines Unterrocks bedurfte, so unterschied er sich damit nicht von der Mehrzahl seiner Altersgenossen. Vielleicht war es so immer noch besser, als wenn er ein roher Trunkenbold gewesen wäre oder als ewiger Major seine Laufbahn bestenfalls in einer gottverlassenen asiatischen Republik hätte beenden müssen. Trotzdem seufzte sie innerlich.
Das Polizeirevier von Partick ist nicht gerade ein Schmuckstück der schönen Stadt Glasgow. Die nach dem Überfall beziehungsweise Selbstmord in der vergangenen Nacht zurückgebliebenen Artikel hatten den üblichen Weg genommen. Der diensthabende Sergeant im Vorzimmer überließ seinen Platz einem Constable und führte Carmichael und Preston in den rückwärtigen Teil des Reviers, wo er einen kahlen, nur mit Ablageschränken versehenen Raum aufschloß. Ohne mit der Wimper zu zucken akzeptierte er Carmichaels Ausweis und die Erklärung, der Chief Superintendent und sein Kollege müßten die Artikel besichtigen, um ihre Berichte vervollständigen zu können, da der Tote ein ausländischer Matrose gewesen sei und so weiter. Der Sergeant wußte alles über Berichte; er hatte sein halbes Leben mit der Abfassung von Berichten verbracht. Aber er verließ den Raum nicht, während die beiden Männer die Beutel öffneten und deren Inhalt prüften.
Preston begann mit den Stiefeln, suchte nach falschen Absätzen, abnehmbaren Sohlen oder hohlen Kappen. Nichts. Socken und Unterzeug waren schnell durchgesehen. Er nahm den hinteren Deckel der Armbanduhr ab, aber es war wirklich nur eine Armbanduhr. Die Hose dauerte länger; er befühlte alle Nähte und Säume, suchte nach frischen Fäden oder dickeren Stellen, die nicht durch eine doppelte Stofflage bedingt waren. Nichts.
Der Rollkragenpullover, den der Mann getragen hatte, war kein Problem; keine Nähte, keine versteckten Papiere oder Stellen, die sich hart anfühlten. Mit dem Anorak hatte er wieder länger zu tun, aber auch aus ihm kam nichts zum Vorschein. Als er sich schließlich den Jutesack vornahm, war er mehr denn je davon überzeugt, daß ein Gegenstand, den der geheimnisvolle Semjonow möglicherweise bei sich gehabt hatte, hier stecken müsse.
Er fing mit dem zusammengerollten Sweater an, der in dem Sack gewesen war. Eigentlich nur, um ihn abhaken zu können. Ohne Befund. Dann machte er sich an die Inspektion des Jutesacks. Er arbeitete eine halbe Stunde lang, ehe er sicher sein konnte, daß der Boden nur aus einer doppelten Lage Jute bestand, die Seiten aus einfachem Stoff waren und daß die Ösen am oberen Rand keine Miniatursender waren und die Schnur keine Antenne verbarg.
Blieb nur noch die Tabaksdose. Sie war russisches Fabrikat, eine gewöhnliche Blechdose mit Schraubdeckel, und roch noch immer schwach nach herbem Tabak. Die Watte war Watte, und somit blieben nur noch die drei Metallscheiben: zwei glänzend wie Aluminium und sehr leicht, die dritte stumpf wie Blei und viel schwerer. Preston saß eine ganze Weile da und starrte die auf dem Tisch liegenden Scheiben an; Carmichael sah Preston an, und der Sergeant blickte zu Boden.
Nicht, was sie waren, gab Preston zu denken, sondern was sie nicht waren. Sie waren überhaupt nichts. Die Aluminiumscheiben lagen über und unter der schweren Scheibe; die schwere Scheibe hatte einen Durchmesser von fünf Zentimetern, die leichten Scheiben von siebeneinhalb. Er versuchte sich vorzustellen, wozu sie dienen könnten, zum Beispiel beim Funken, Codieren und Decodieren, beim Fotografieren. Und die Antwort lautete: zu nichts. Es waren einfach Metallscheiben. Dennoch war er ganz sicher, daß der Matrose gestorben war, weil er sie nicht in die Hände der Neds hatte fallen lassen wollen, die sie ohnehin bloß weggeworfen hätten, oder weil er sich über ihren Zweck nicht verhören lassen wollte.
Er stand auf und schlug vor, man solle zum Lunch gehen. Der Sergeant, für den das Ganze nur ein vertaner Vormittag gewesen war, steckte die Artikel wieder in die Beutel und verschloß alles in einem Schrank. Dann führte er die beiden Männer hinaus.
Während des Lunch im Hotel Pond - Preston hatte vorgeschlagen, sie sollten am Ort des Überfalls vorbeifahren - entschuldigte er sich, weil er ein Telefongespräch führen müsse.
»Es kann eine Weile dauern«, sagte er zu Carmichael. »Genehmigen Sie sich einen Brandy auf Kosten Albions.«
Carmichael grinste.
»Wird gemacht, hoch Bannockburn!«
Als man ihn vom Speisesaal aus nicht mehr sehen konnte, verließ Preston das Hotel und ging hinüber zur BP-Tankstelle, wo er im dazugehörigen Laden ein paar kleinere Ersatzteile kaufte. Dann ging er ins Hotel zurück und telefonierte nach London. Er gab seinem Assistenten Bright die Nummer des Polizeireviers von Partick und schärfte ihm ein, wann genau der Rückruf kommen solle.
Eine halbe Stunde später waren die beiden Männer wieder im Polizeirevier, wo ein deutlich mißgestimmter Sergeant sie abermals in den Raum mit den verwahrten Artikeln führte. Preston setzte sich hinter den Tisch, genau gegenüber dem Wandtelefon. Vor sich auf dem Tisch hatte er die Kleidungsstücke aus den verschiedenen Beuteln zu einem Wall aufgeschichtet. Um fünfzehn Uhr klingelte das Telefon; die Vermittlung hatte den Anruf aus London zu der Nebenstelle durchgestellt. Der Sergeant nahm den Hörer ab.
»Für Sie, Sir. London am Apparat«, sagte er zu Preston.
»Würden Sie bitte das Gespräch entgegennehmen?« bat Preston Carmichael. »Stellen Sie fest, ob es dringend ist.«
Carmichael stand auf und ging hinüber, wo der Sergeant noch am Telefon stand. Eine Sekunde lang hatten die beiden Schotten die Gesichter der Wand zugekehrt.
Zehn Minuten später war Preston endgültig fertig. Carmichael fuhr ihn wieder zum Flughafen.
»Ich werde natürlich einen Bericht machen«, sagte Preston. »Aber ich begreife noch immer nicht, was die Russen so aus dem Häuschen gebracht hat. Wie lang bleiben diese Artikel im Revier von Partick verwahrt?«
»Ach, noch wochenlang. Dem sowjetischen Konsul wurde das mitgeteilt. Die Fahndung nach den Neds läuft, aber sie ist Glückssache. Vielleicht erwischen wir einen von ihnen bei einer anderen Straftat und können ihn zum Singen bringen. Würde mich aber wundern.« Preston ging zum Flugschalter. Die Passagiere nach London wurden aufgerufen.
»Das Groteske an der Sache ist«, sagte Carmichael, als sie sich verabschiedeten, »hätte dieser Russe nicht durchgedreht, so wäre er mit dem Ausdruck unseres tiefsten Bedauerns zu seinem Schiff zurückgefahren worden, er und sein verflixtes Spielzeug.«
Als das Flugzeug abgehoben hatte, zog Preston sich in die Toilette zurück und betrachtete prüfend die drei Scheiben, die er in sein Taschentuch gewickelt hatte. Aber sie sagten ihm noch immer nichts.
Die drei Dichtungsscheiben, die er im Tankstellenladen erworben und gegen das »verflixte Spielzeug« des Russen ausgetauscht hatte, würden eine Weile ihren Dienst tun. Preston kannte einen Mann, der sich in der Zwischenzeit die russischen Scheiben genau ansehen sollte. Der Mann arbeitete außerhalb von London, und Bright hatte Auftrag, ihn zu bitten, daß er am heutigen Freitagabend auf Prestons Eintreffen warten solle.
Als Karpow kurz nach neunzehn Uhr bei General Martschenkos Datscha ankam, war es schon dunkel. Der Offiziersbursche des Generals öffnete ihm und führte ihn ins Wohnzimmer. Martschenko war bereits aufgesprungen und schien ebenso überrascht wie erfreut, seinen Freund vom anderen und größeren Geheimdienst zu sehen.
»Jewgenij Sergeiwitsch«, rief er strahlend, »was führt Sie in meine bescheidene Hütte?«
Karpow trug eine Kuriertasche in der Hand. Er hob sie hoch und grub darin herum.
»Einer meiner Jungens ist gerade aus der Türkei zurückgekommen, über Armenien«, sagte er. »Ein heller Bursche, kommt nie mit leeren Händen an. In Anatolien geht nichts mehr, also hat er in Eriwan Station gemacht und das da eingesteckt.«
Er holte eine der vier Flaschen aus der Kuriertasche, den besten armenischen Kognak, der zu haben war. Martschenkos Augen leuchteten auf.
»Akhtamar!« rief er. »Nur das Beste für das EHD.«
»Ja«, fuhr Karpow leichthin fort, »ich war unterwegs zu meiner eigenen Klitsche und dachte mir: Wer könnte mir wohl helfen, der Flasche den Garaus zu machen? Und schon kam die Antwort: Der alte Pyotr Martschenko. Also hab' ich einen kleinen Umweg gemacht. Wollen wir mal probieren, wie er schmeckt?«
Martschenko brüllte vor Lachen. »Sascha, Gläser!« schrie er.
Preston landete kurz vor siebzehn Uhr, fuhr seinen Wagen aus dem Parkplatz und schlug die Richtung zur Schnellstraße M4 ein. Anstatt ostwärts nach London einzubiegen, fuhr er nach Westen, Richtung Berkshire. Nach einer halben Stunde erreichte er sein Ziel, eine Anlage außerhalb des Dorfes Aldermaston.
Das schlicht als »Aldermaston« bekannte AtomwaffenForschungszentrum, ein Lieblingsziel von Friedensmarschierern, ist in Wahrheit eine interdisziplinäre Einrichtung. Man entwickelt und baut dort zwar nukleares Gerät, betreibt aber auch Forschung auf den Gebieten Chemie, Physik, konventionelle Sprengstoffe, Maschinenbau, theoretische und angewandte Mathematik, Röntgenbiologie, Medizin, Gesundheits- und Sicherheitswesen und Elektronik. Und, nebenbei gesagt, befindet sich dort auch ein erstklassiges Metallurgisches Institut.
Vor Jahren hatte ein Wissenschaftler aus Aldermaston vor Geheimdienstoffizieren in Ulster eine Vorlesung über die Metallarten gehalten, die von den Bombenherstellern der IRA besonders häufig verwendet werden. Preston war damals unter den Zuhörern gewesen und hatte sich jetzt an den walisischen Namen des Vortragenden erinnert.
Dr. Dafydd Wynne-Evans erwartete ihn in der Eingangshalle. Preston stellte sich vor und erwähnte den Vortrag, den Dr. Dafydd Wynne-Evans seinerzeit gehalten hatte.
»Donnerwetter, das nenne ich ein Gedächtnis«, sagte Wynne- Evans leicht lispelnd mit walisischem Akzent. »Also, Mr. Preston, was kann ich für Sie tun?«
Preston griff in die Tasche, holte das Taschentuch hervor und zeigte die drei Scheiben, die darin eingewickelt waren.
»Die Dinger wurden jemandem in Glasgow abgenommen«, sagte er. »Mir sind sie rätselhaft. Ich möchte wissen, was sie sind und wofür man sie verwenden könnte.«
Der Wissenschaftler sah die Scheiben genau an.
»Sie denken an verbrecherische Zwecke?«
»Könnte sein.«
»Ohne Tests läßt sich das schwer sagen«, sagte der Metallurgist. »Heute abend habe ich ein Dinner, und morgen heiratet meine Tochter. Ist es Ihnen recht, wenn ich am Montag ein paar Tests durchführe und Sie dann anrufe?«
»Montag paßt ausgezeichnet«, sagte Preston. »Ich nehme nämlich ein paar Tage frei und werde zu Hause sein. Darf ich Ihnen meine Nummer in Kensington geben?«
Dr. Wynne-Evans eilte nach oben, schloß die Scheiben in seinem Safe ein, verabschiedete sich von Preston und machte sich auf den Weg zu seinem Dinner. Preston fuhr nach London zurück.
Während Preston auf der Heimfahrt war, hatte die Lauschstation in Menwith Hill in Yorkshire einen einzelnen »Spritzer« aus einem Geheimsender aufgefangen. Nach Menwith registrierten ihn auch Brawdy in Wales und Chicksands in Bedfordshire und ließen per Computer Kreuzpeilungen anstellen. Der Schnittpunkt war irgendwo in den Hügeln nördlich von Sheffield.
Als die Sheffielder Polizei dort ankam, erwies die Stelle sich als eine Parkbucht an einer einsamen Straße zwischen Barnsley und Pontefract. Niemand war zu sehen.
Noch am selben Abend suchte einer der diensthabenden Offiziere vom GC-Hauptquartier Cheltenham den Dienststellenleiter in dessen Büro auf.
»Es ist derselbe Strolch«, sagte er. »Ist motorisiert und hat ein gutes Gerät. War nur fünf Sekunden auf Sendung, dürfte kaum zu entschlüsseln sein. Zuerst der Distrikt Derbyshire Peak, jetzt die Hügel von Yorkshire. Sieht aus, als sei er irgendwo in den nördlichen Midlands.«
»Bleiben Sie ihm auf den Fersen«, sagte der Dienststellenleiter. »Wir haben seit einer Ewigkeit keinen schlafenden Sender mehr gehabt, der plötzlich aktiv wurde. Was er wohl mitzuteilen hat?«
Was Major Valeri Petrofski auf dem Weg über seinen Funker mitzuteilen hatte, war folgendes: Kurier zwei nicht erschienen. Meldet unverzüglich Ankunft Ersatzmann.
Die erste Flasche Akhtamar stand leer auf dem Tisch, und auch in der zweiten war bereits Ebbe. Martschenkos Gesicht hatte sich gerötet, aber er verkraftete seine zwei Flaschen am Tag, wenn es darauf ankam, und er hatte sich noch völlig unter Kontrolle.
Karpow, der selten trank um des Trinkens willen, hatte seinen Magen Jahre hindurch bei Diplomatenempfängen gestählt. Wenn er einen klaren Kopf brauchte, hatte er ihn. Überdies hatte er, ehe er von Jasjenewo abfuhr, ein halbes Pfund weiße Butter hinuntergewürgt, und obwohl ihm beinahe alles wieder hochgekommen wäre, polsterte das Fett jetzt doch seinen Magen aus und verzögerte die Wirkung des Alkohols.
»Wo sind Sie denn zur Zeit dran, Peter?« fragte er, wobei er die unter guten Freunden gebräuchliche Form des Vornamens verwendete.
Martschenko kniff die Augen zusammen.
»Warum fragen Sie?«
»Na, Peter, wir sind doch alte Kameraden. Wissen Sie nicht mehr, wie ich Sie aus dem Schlamassel geholt habe, vor drei Jahren in Afghanistan? Sie schulden mir eine Gefälligkeit. Was ist im Busch?«
Martschenko wußte es noch sehr gut. Er nickte feierlich. Im Jahr 1984 hatte er eine große GRU-Aktion gegen die Moslemrebellen droben in der Nähe des Kyberpasses geführt. Der GRU hatte es besonders auf einen berüchtigten Guerillaführer abgesehen, der von den Flüchtlingslagern in Pakistan aus immer wieder in Afghanistan einfiel. Martschenko hatte vorschnell ein Fangkommando über die Grenze geschickt, um den Mann zu schnappen. Es wurde ein voller Mißerfolg. Die moskaufreundlichen Afghanen wurden von den Pattans entlarvt und starben einen furchtbaren Tod. Der einzige Russe unter ihnen hatte Glück, er überlebte; die Pattans übergaben ihn den pakistanischen Behörden im Nordwesten des Landes, da sie hofften, mit Waffenlieferungen dafür belohnt zu werden.
Martschenko war in Schwulitäten. Er wandte sich an Karpow, den damaligen Chef des für die Illegalen zuständigen Direktorats, und Karpow setzte das Leben eines seiner besten Agenten, eines pakistanischen Offiziers in Islamabad, aufs Spiel, der den Russen »entspringen« und über die Grenze schaffen ließ. Damals hätte ein großer internationaler Zwischenfall Martschenko den Hals brechen können, und sein Name wäre einer auf der langen Liste sowjetischer Offiziere geworden, deren Karriere in diesem elenden Land ein jähes Ende fand.
»Ja, Sie haben recht, ich weiß, wie sehr ich Ihnen verpflichtet bin, aber fragen Sie mich trotzdem nicht, woran ich in den letzten Wochen gearbeitet habe. Sonderauftrag, streng geheim. Sie wissen schon, keine Namen, keinen Wirbel.«
Er tippte mit seinem wurstartigen Zeigefinger an seinen Nasenflügel und nickte feierlich. Karpow beugte sich vor, nahm die dritte Flasche und goß das Glas des GRU-Generals randvoll.
»Klar, ich weiß, tut mir leid, daß ich gefragt habe«, sagte er begütigend. »Werde nicht darauf zurückkommen. Werde nicht auf die Operation zurückkommen.«
Martschenko drohte ihm mit dem Finger. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er erinnerte Karpow an einen angeschossenen Eber im Dickicht, nur daß sein Hirn vom Alkohol umnebelt war und nicht von Schmerz und durch Blutverlust, aber er war genauso gefährlich.
»Nicht Operation, keine Operation, ganze Schose abgeblasen.
Geheimhaltung geschworen... wir alle. Sehr hoch oben.. höher, als Sie sich vorstellen können. Nicht mehr darauf zurückkommen, ja?«
»Nicht im Traum«, sagte Karpow und goß erneut die Gläser voll. Er machte sich Martschenkos Betrunkenheit zunutze, um dessen Glas höher zu füllen als sein eigenes, aber er hatte Mühe, genau zu zielen.
Zwei Stunden später war die letzte Flasche Akhtamar zu einem Drittel geleert. Martschenko war zusammengesunken, sein Kinn lag auf der Brust. Karpow hob sein Glas zu einem weiteren der zahllosen Toasts.
»Auf das Vergessen.«
»Vergessen?«
Martschenko schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ich bin in Ordnung. Sauf euch EHD-Scheißer jederzeit unter den Tisch. Bin nicht vergeßlich..«
»Nein«, korrigierte Karpow. »Vergessen. Den Plan vergessen. Schwamm drüber, ja?«
»Aurora? Richtig, Schwamm drüber. Prima Idee wars aber doch.«
Sie tranken. Karpow goß nach.
»Nieder mit der ganzen Bande«, lautete sein nächster Trinkspruch. »Philby verrecke... und der Eierkopf dazu.«
Martschenko nickte zustimmend. Das Glas hatte seinen Mund verfehlt, und der Kognak lief ihm übers Kinn.
»Krilow? Arschloch.«
Es war Mitternacht, als Karpow zu seinem Wagen taumelte. Er lehnte sich an einen Baum, steckte zwei Finger in den Hals und erbrach, soviel er hervorwürgen konnte. Dann sog er tief die eisige Nachtluft ein. Es half, aber die Fahrt zu seiner Datscha war mörderisch. Er schaffte sie, mit einer verbogenen Stoßstange und zwei tiefen Kratzern. Ludmilla hatte im Morgenrock auf ihn gewartet und brachte ihn zu Bett. Sie war entsetzt bei dem Gedanken, daß er in diesem Zustand die ganze Strecke von Moskau bis zur Datscha gefahren war.
Am Samstagmorgen fuhr John Preston nach Tonbridge, um seinen Sohn Tommy abzuholen. Wie immer, wenn sein Dad ihn mit nach Hause nahm, war der Redefluß des Jungen kaum zu bremsen: Geschichten aus dem abgelaufenen Schulsemester, Ausblicke auf das nächste, Pläne für die kommenden Ferientage, Lobreden auf seine besten Freunde und deren Vorzüge, Schmähreden auf alle, die er nicht leiden konnte.
Koffer und Tasche waren im Kofferraum verstaut, und auf der Rückfahrt nach London war Preston überglücklich. Er zählte auf, was er sich alles für diese eine gemeinsame Woche ausgedacht hatte und freute sich, daß seine Pläne Anklang fanden. Nur einmal wurde das Gesicht des Jungen lang, als die Rede darauf kam, daß er nach Ablauf einer Woche in das schicke, empfindliche und ungeheuer kostspielige Apartment in Mayfair übersiedeln müsse, das Julia mit ihrem Lebensgefährten, dem Kleiderfabrikanten, bewohnte. Der Mann war alt genug, um Tommys Großvater sein zu können, und Preston argwöhnte, daß schon die kleinste Beschädigung dieses trauten Heims die Stimmung auf den Nullpunkt würde sinken lassen.
»Dad«, sagte Tommy, als sie über die Vauxhall Bridge fuhren, »warum kann ich denn nicht die ganzen Ferien über bei dir bleiben?«
Preston seufzte. Es war nicht leicht, einem Zwölfjährigen das Scheitern einer Ehe und dessen finanzielle Konsequenzen zu erklären.
»Weil«, sagte er vorsichtig, »deine Mammi und Archie nicht wirklich verheiratet sind. Wenn ich sie zwingen wollte, sich von mir scheiden zu lassen, könnte sie Geld von mir verlangen, Unterhaltszahlung nennt man das, und das könnte ich nicht zahlen, ich verdiene nicht so viel. Auf keinen Fall genug, daß es für mich reicht, für deine Schule und für Mammi. Und wenn ich diesen Unterhalt nicht zahlen kann, dann findet der Scheidungsrichter womöglich, daß du am besten ganz bei deiner Mutter lebst. Und wir würden einander nicht einmal mehr so oft sehen wie jetzt.«
»Ich hab' nicht gewußt, daß es am Geld liegt«, sagte der Junge traurig.
»Fast alles liegt letzten Endes am Geld. Traurig, aber wahr. Wenn ich uns dreien vor Jahren ein besseres Leben hätte bieten können, hätten Mammi und ich uns wahrscheinlich nicht getrennt. Ich war nur Offizier bei der Army, und als ich von der Army weg und ins Innenministerium ging, war das Gehalt auch nicht viel höher.«
»Und was machst du eigentlich im Innenministerium?«
fragte der Junge. Er ließ das Thema der elterlichen Entfremdung einfach fallen, wie jeder junge Mensch versucht, vor schmerzlichen Tatsachen die Augen zu verschließen. »Ach, ich bin so eine Art kleiner Beamter«, sagte Preston. »Gosh, das muß schön langweilig sein.« »Ja«, sagte Preston, »da kannst du recht haben.«
Jewgenij Karpow erwachte gegen Mittag mit einem monumentalen Kater, den ein halbes Dutzend Aspirintabletten gerade einigermaßen im Zaum halten konnten. Nach dem Mittagessen fühlte er sich ein bißchen besser und beschloß, einen Spaziergang zu machen.
Irgend etwas ging ihm im Kopf um; eine Erinnerung, eine Ahnung, daß er den Namen Krilow irgendwann in nicht allzu ferner Vergangenheit schon gehört hatte. Es ließ ihm keine Ruhe. In einem der nur beschränkt zugänglichen Nachschlagwerke, das er in der Datscha hatte, standen Angaben über Professor Krilow, Wladimir Iljitsch: Historiker, Professor an der Universität Moskau, langjähriges Mitglied der Partei, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Mitglied des Obersten Sowjet usw. usw. Das alles wußte Karpow: aber da war noch irgend etwas anderes.
Mit nachdenklich gesenktem Kopf stapfte er durch den Schnee. Die Söhne waren Ski fahren gegangen, um den letzten guten Pulverschnee auszunützen, ehe das bevorstehende Tauwetter ihn verderben würde. Ludmilla Karpowa trottete hinter ihrem Mann her. Sie kannte seine Stimmungen und hütete sich, ihn zu stören.
Sein Zustand am Abend zuvor hatte sie erstaunt, aber auch erfreut. Sie wußte, daß er kaum jemals trank, und so unmäßig überhaupt nie, ein Besuch bei seiner Freundin durfte also ausgeschlossen werden. Vielleicht war er wirklich mit einem Kollegen vom GRU, einem der sogenannten »Nachbarn«, zusammengewesen. Mit Sicherheit machte irgend etwas ihm schwer zu schaffen, und mit Sicherheit war es keine Schnepfe aus dem Arbat-Distrikt.
Es war kurz nach fünfzehn Uhr, als ihm mit einem Schlag aufging, worüber er sich die ganze Zeit den Kopf zerbrochen hatte. Ein paar Meter vor Ludmilla blieb er plötzlich stehen, sagte: »Verdammt. Natürlich«, und war sofort wieder ganz obenauf. Strahlend lächelnd nahm er ihren Arm, und sie wanderten zu ihrer Datscha zurück.
General Karpow wußte, daß er am nächsten Morgen in aller Stille in seinem Büro ein paar Nachforschungen würde anstellen müssen und daß er am Montagabend den Herrn Professor Krilow in dessen Moskauer Privatwohnung aufsuchen würde.