3. Kapitel
Moskau
Mittwoch, den 7. Januar 1987 Von: H. A. R. Philby An: Generalsekretär der KPdSU
Darf ich, Genosse Generalsekretär, zu Beginn ganz kurz die Geschichte der britischen Labour Party skizzieren sowie ihre stetige Unterwanderung und allmähliche Beherrschung durch die Harte Linke im Lauf der letzten vierzehn Jahre.
Die Partei wurde ursprünglich von der (Labour-) Gewerkschaftsbewegung gegründet, als politischer Arm der erst kurz zuvor organisierten britischen Arbeiterklasse. Von Anfang an verfocht die Partei einen gemäßigten bürgerlichen Sozialismus, der mehr auf Reform ausgerichtet war als auf Revolution. Die Heimat des wahren Marxisten-Leninisten war damals die Kommunistische Partei.
Wenn auch das Fundament des Marxismus-Leninismus in England immer in der Gewerkschaftsbewegung verankert war, so blieben die »Rechtgläubigen« von jeher aus der Partei ausgeschlossen. Einigen unserer Freunde von der prosowjetischen Linken gelang es zwar, ab 1930, durch Täuschung in die Partei aufgenommen zu werden, doch sie mußten, sobald sie Mitglieder waren, sich äußerst unauffällig verhalten. Andere Moskaufreunde wurden aufgrund ihrer Ansichten gar nicht erst aufgenommen oder aber aus der Partei wieder ausgestoßen. Warum unsere wahren Freunde in England so viele Jahre keinen Zutritt zu Labour, dieser großen Volkspartei, hatten, läßt sich mit zwei Worten sagen: wegen der schwarzen Liste.
Diese Liste führte die geächteten Organisationen auf; sie verbot jeden brüderlichen Kontakt zwischen der Labour Party und den kleineren Gruppen wahrhaft revolutionärer Sozialisten, den Marxisten-Leninisten. Ferner konnte nach den Bestimmungen dieser schwarzen Liste kein Anhänger der Harten Linken der Labour Party beitreten. Diese Bestimmungen wurden von den diversen Führern der Labour Party fünfzig Jahre lang stur aufrechterhalten.
Da die Labour Party die einzige Volkspartei der Linken war, die hoffen konnte, in England an die Macht zu kommen, blieb die Unterwanderung und Beherrschung dieser Partei durch unsere Freunde nach der klassischen Lehre Lenins vom »Hinüberwachsen« in all diesen Jahren ein unerfüllbarer Traum. Trotzdem arbeiteten unsere Freunde, so wenige sie auch waren, unermüdlich und in aller Heimlichkeit an diesem Ziel; 1973 wurden ihre Bemühungen schließlich vom Erfolg gekrönt.
In diesem Jahr - die Partei wurde von dem schwachen und unsicheren Harold Wilson geführt - erreichten unsere Freunde eine hauchdünne Mehrheit im NPV, dem lebenswichtigen Nationalen Parteivorstand, und brachten infolgedessen einen Antrag auf Abschaffung der schwarzen Liste durch. Das Resultat übertraf ihre Erwartungen.
Nachdem die Schleusen einmal geöffnet waren, schwärmten Linksextremisten der Nachkriegsgeneration scharenweise in die Partei und konnten sofort Ämter auf allen Ebenen der Parteiorganisation übernehmen. Die Möglichkeit zum »Hinüberwachsen«, zur Einflußnahme und zur schließlichen Machtergreifung war gegeben, und diese Machtübernahme hat nun stattgefunden.
Seit 1973 war der absolut lebenswichtige NPV nahezu ohne Unterbrechung in den Händen einer linksextremen Majorität. Durch die geschickte Benützung dieses Werkzeugs wurde die Verfassung der Partei und deren Zusammensetzung auf den höheren Ebenen vollkommen verändert.
Lassen Sie mich kurz abschweifen, Genosse Generalsekretär, um zu erklären, was ich genau unter »unseren Freunden« in der britischen Arbeiterpartei und der Gewerkschaftsbewegung verstehe. Sie können in zwei Kategorien eingeteilt werden, die Absichtlichen und die Unabsichtlichen. Wenn ich von der ersten Kategorie spreche, so beziehe ich mich dabei weder auf Leute von der sogenannten Weichen Linken noch auf die trotzkistischen Abweichler. Diese Leute verabscheuen Moskau, wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen. Ich meine damit Leute von der Harten Linken und ihren Kern von Ultraharten. Das sind dezidierte, in der Wolle gefärbte Marxisten-Leninisten, die es gar nicht schätzen, wenn man sie Kommunisten nennt, denn das würde sie zu Mitgliedern der völlig nutzlosen Kommunistischen Partei von Großbritannien stempeln. Sie sind unverbrüchliche Freunde Moskaus und agieren in neun von zehn Fällen nach Moskaus Wünschen, selbst wenn diese Wünsche unausgesprochen bleiben und die Betreffenden steif und fest behaupten sollten, aus Gewissensgründen oder im Interesse Englands zu handeln.
Die zweite Gruppe von Freunden, die sich in der britischen Labour Party eingenistet haben und sie beherrschen, könnte man wie folgt beschreiben: Leute mit einer tiefen politischen und emotionalen Bindung an eine Form des Sozialismus, der so weit links ist, daß man ihn als marxistisch-leninistisch bezeichnen kann, Leute, die unter allen Umständen und in jeder Lage ganz spontan in völliger Übereinstimmung mit den Vorstellungen und Wünschen der sowjetischen Außenpolitik gegenüber Großbritannien bzw. der westlichen Allianz handeln, die keine Anweisungen und Instruktionen benötigen und wahrscheinlich beleidigt wären, wenn man sie damit belästigen wollte; die sich wissentlich oder unwissentlich, aus Überzeugung, aus verschrobenem Patriotismus, aus Zerstörungswut, Gewinnsucht, aus Geltungsbedürfnis, aus Furcht vor Einschüchterung, aus Wichtigtuerei oder aus einem Herdentrieb heraus immer zum Besten unserer sowjetischen Interessen verhalten werden. Alle diese Leute stellen Einflußfaktoren zu unseren Gunsten dar.
Natürlich geben sie alle vor, auf der Suche nach der wahren Demokratie zu sein. Glücklicherweise versteht die Mehrheit der Briten unter Demokratie auch heute noch einen pluralistischen (Mehrparteien-) Staat, dessen Regierung in regelmäßigen Abständen durch allgemeine und geheime Wahlen bestimmt wird. Da unsere Freunde von der Harten Linken ganz offensichtlich Leute sind, die beim Essen, Trinken, Atmen, Schlafen, Träumen und Arbeiten keine Sekunde lang ihre Überzeugung vergessen, ist Demokratie für sie eine »engagierte Demokratie«, in der sie selbst und die ihnen Gleichgesinnten die führenden Rollen übernehmen. Die britische Presse tut zu unserem Glück wenig, um dieses Mißverständnis auszuräumen.
Von 1973 an konnten unsere marxistisch-leninistischen Freunde in der Labour Party ihre Energie voll und ganz auf den verdeckten Kampf um die Parteiführung konzentrieren, ein Ziel, dessen Erreichung durch die Abschaffung der schwarzen Liste vor drei Jahren so wesentlich erleichtert wurde.
Die Labour Party hat immer auf drei Beinen gestanden: den Gewerkschaften, den Wahlkreisverbänden (je ein Verband in den Stimmbezirken, aus denen sich das britische Wahlsystem zusammensetzt) und dem parlamentarischen Flügel, das heißt den Labour-Abgeordneten, die aufgrund der letzten Wahlen ins Unterhaus gekommen sind und aus deren Reihen der Parteiführer kommt.
Die Gewerkschaften sind von diesen drei Stützen die mächtigste, und dies aus zwei Gründen. Zum einen sind sie die Zahlmeister der Partei, deren Kassen sie mit Abgaben aus der Lohntüte von Millionen von Arbeitern füllen. Zum zweiten verfügen sie auf dem Parteitag über ein riesiges Paket von »Blockstimmen«, die der Nationale Gewerkschaftsvorstand im Namen von Millionen unbefragter Mitglieder abgibt. Mit diesen Blockstimmen kann jeder Antrag durchgebracht und die Zusammensetzung von maximal einem Drittel des allmächtigen Nationalen Parteivorstands bestimmt werden.
Die stimmberechtigten Gewerkschaftsvorstände sind von grundlegender Wichtigkeit; ihre hauptamtlichen Aktivisten und Funktionäre entscheiden über die Gewerkschaftspolitik. Sie bilden sozusagen die Spitze der Pyramide, gefolgt von den Landesverbandsfunktionären auf der mittleren Ebene und den Ortsverbandsfunktionären auf der unteren Ebene. Die Übernahme einer großen Anzahl von Funktionärsposten durch die Harte Linke war also unerläßlich, und unsere Freunde haben dies inzwischen auch geschafft.
Ihr größter Verbündeter bei dieser Aufgabe war immer schon die Apathie der weitgehend gemäßigten Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder, denen man nicht zumuten kann, dauernd die Versammlungen der Ortsverbände zu besuchen. Die Aktivisten jedoch, die alles besuchten, konnten Tausende von Ortsverbänden, Hunderte von Landesverbänden und die wichtigsten Nationalen Vorstände vereinnahmen. Zur Zeit verfügen die zehn größten der achtzig an die Labour Party angeschlossenen Gewerkschaften über mehr als die Hälfte der Stimmen der Gewerkschaftsbewegung; neun dieser zehn haben an ihrer Spitze Leute der Harten Linken, gegenüber zwei in den frühen Siebzigern. Das alles haben nicht mehr als zehntausend zielbewußte Männer über die Köpfe von Millionen britischer Arbeiter hinweg zustande gebracht.
Die Bedeutung der von der Harten Linken beherrschten Gewerkschaftsstimmen wird klar, wenn man bedenkt, daß der sogenannte Wahlausschuß den neuen Parteiführer bestimmt; die Gewerkschaften verfügen in diesem Ausschuß über vierzig Prozent der Stimmen.
Nun zu den Wahlkreisverbänden. Kern dieser Verbände sind die Allgemeinen Lenkungsausschüsse, die außer der Erledigung der laufenden Parteigeschäfte innerhalb des Wahlkreises noch eine weitere ausschlaggebende Funktion haben: Sie bestimmen den Labour-Kandidaten für das Parlament. In der Zeit von 1973 bis 1983 sind junge Aktivisten der extremen Linken in die Wahlkreisverbände eingezogen, haben durch ihre eifrige Betriebsamkeit bei den langweiligen, spärlich besuchten Versammlungen die altgedienten Funktionäre verdrängt und so allmählich einen Allgemeinen Lenkungsausschuß nach dem anderen erobert.
Bei dieser Lage der Dinge hatten die weitgehend der Parteimitte angehörenden Abgeordneten, welche die nun von der Harten Linken kontrollierten Wahlkreise vertraten, einen immer schwierigeren Stand. Sie konnten jedoch nicht ohne weiteres verdrängt werden. Um sich ein für allemal durchzusetzen, mußte die Harte Linke die Gewissensfreiheit der Unterhausabgeordneten schwächen und nach Möglichkeit völlig aushöhlen; sie von Sachwaltern der Wählerinteressen zu bloßen Vertretern der Allgemeinen Lenkungsausschüsse umfunktionieren.
1979 war es soweit. Die Harte Linke drückte in Brighton die Bestimmung durch, nach der die Parlamentsmitglieder jährlich von ihrem Lenkungsausschuß wiedergewählt oder abgewählt wurden. Das bewirkte eine massive Verlagerung der Macht. Eine ganze Gruppe von Vertretern der Mitte verließ Labour und gründete die Sozialdemokratische Partei; andere wurden abgewählt und kehrten der Politik den Rücken; einige der fähigsten Leute der Mitte waren so zermürbt, daß sie resignierten. Doch bei aller Schwächung und Demütigung verblieb dem parlamentarischen Labour-Flügel noch eine vitale Funktion: Er und nur er allein konnte den Parteiführer wählen. Diese Macht mußte ihm unbedingt genommen werden, um die Herrschaft über die drei Pfeiler komplett zu machen. Das geschah, wiederum auf Betreiben der Harten Linken, im Jahr 1981 durch die Schaffung des Wahlausschusses, in dem dreißig Prozent der Stimmen dem parlamentarischen Flügel, dreißig Prozent den Wahlkreisverbänden und vierzig Prozent den Gewerkschaften zukommen. Der Ausschuß wählt jeden neuen Führer, wenn und wann nötig, und bestätigt ihn jährlich aufs neue. Diese Bestätigungsfunktion spielt bei den Plänen, die ich im folgenden darlegen werde, eine Schlüsselrolle.
Der eben geschilderte Kampf um die Macht reichte bis ins Wahljahr 1983. Der Sieg war so gut wie vollständig, doch unsere Freunde hatten den Fehler begangen, von der leninistischen Doktrin der Vorsicht und Verstellung abzuweichen. Sie hatten, um diese titanischen Kämpfe zu gewinnen, sich zu weit aus ihrer Deckung begeben, und die Ausrufung vorgezogener Wahlen überraschte sie gewissermaßen in flagranti. Die Harte Linke hätte noch ein weiteres Jahr zur Konsolidierung, zur Beschwichtigung und zur Einigung gebraucht. Sie bekam es nicht. Die Partei, die sich nun zu früh mit dem radikalsten Manifest ihrer Geschichte belastet hatte, war völlig aus dem Konzept gebracht. Schlimmer, die englische Öffentlichkeit hatte das wahre Gesicht der Harten Linken gesehen.
Wie Sie wissen, waren die Wahlen von 1983 scheinbar eine Katastrophe für die nun von der Harten Linken beherrschte Arbeiterpartei. Ich meine aber, daß der Wahlausgang in Wahrheit ein verkappter Segen war. Denn er führte zu dem mutigen Realismus, den unsere Freunde in der Partei während der letzten vierzig Monate in einem grandiosen Akt der Selbstverleugnung praktizierten.
Kurz, von den 650 Wahlkreisen, die es 1983 in England gab, gewann die Labour Party nur 209. Aber dieses Resultat war nicht so schlecht, wie es aussah. Zum einen waren nun von den zweihundertneun Labour-Parlamentariern einhundert fest in der Linken und vierzig davon in der Harten Linken verankert.
Das mögen scheinbar wenige sein, doch der gegenwärtige parlamentarische Labour-Flügel ist der am weitesten links stehende, den das Unterhaus je gekannt hat.
Zum zweiten hat die Wahlschlappe jene Narren wachgerüttelt, die dachten, der Kampf um die totale Herrschaft sei bereits vorbei. Ihnen wurde bald klar, daß es nach den bitteren, aber notwendigen Kämpfen unserer Freunde um die Parteiführung in den Jahren 1979 bis 1983 an der Zeit war, die Einheit wiederherzustellen und die angeschlagene Machtbasis im Land mit Blick auf die nächsten Wahlen zu festigen. Dieses Programm wurde auf dem Parteitag im Oktober 1983 auf Betreiben der Harten Linken in Gang gebracht und bis auf den heutigen Tag unverdrossen verfolgt.
Zum dritten hat jedermann die Notwendigkeit der Rückkehr in den Untergrund eingesehen, eingedenk Lenins Forderung an die wahrhaft Gläubigen, die in bürgerlichen Gesellschaften operieren. Das Streben der Harten Linken war also während dieser letzten vierzig Monate voll und ganz auf die Rückkehr in einen Untergrund ausgerichtet, von dem aus sie Anfang und Mitte der siebziger Jahre so gute Erfolge erzielt hatte. Zugleich legte sie eine überraschende Mäßigung an den Tag. Es bedurfte dazu einer ungeheuren Selbstdisziplin, doch unsere Genossen erwiesen sich einmal mehr dieser Herausforderung völlig gewachsen.
Seit Oktober 1983 zeigt sich die Harte Linke im Gewand der Höflichkeit, Toleranz und Mäßigung; oberstes Gebot ist seither die Einheit der Partei, und zur Erreichung dieses Ziels wurden Konzessionen gemacht, die nach dem Dogma der Harten Linken bis dato als unmöglich galten. Sowohl der entzückte und freundschaftlich gesinnte Flügel der Mitte als auch die Medien scheinen völlig eingenommen zu sein von diesem neuen Gesicht unserer marxistisch-leninistischen Freunde.
Die Herrschaft über die Partei wurde schließlich auf diesem verdeckten Weg erreicht. Alle Machthebel der Ausschüsse und Vorstände sind nun in Händen der Harten Linken oder könnten durch Einberufung einer einzigen Dringlichkeitssitzung übernommen werden. Aber, und das ist ein wichtiges Aber, sie hat sich damit begnügt, die Leitung der Ausschüsse in den Händen von Leuten der Weichen Linken und gelegentlich, bei überwältigender Stimmenüberlegenheit, sogar in den Händen eines Mannes der Mitte zu belassen.
Von einem Dutzend Skeptikern abgesehen, hat sich der Block der Mitte durch die neu gefundene Einheit und die Einstellung der Feindseligkeiten von Seiten der Linken weitgehend besänftigen lassen. Doch die eiserne Faust steckt immer noch schlagbereit im Samthandschuh.
Auf der Wahlkreisebene übernahm die Harte Linke in aller Ruhe einen Verband nach dem anderen, ohne daß dies die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit oder der Medien erregt hätte. Desgleichen, wie bereits erwähnt, quer durch die Gewerkschaftsbewegung. Neun der großen zehn und die Hälfte der übrigen siebzig Gewerkschaften gehören nun zur Harten Linken, und auch hier hält man sich bewußt viel mehr zurück als vor 1983.
Kurz und gut, die ganze Labour Party wird nun von der Harten Linken beherrscht, entweder mittels Stellvertretern aus der Weichen Linken und der eingeschüchterten Mitte oder durch kurzfristig einberufene Dringlichkeitssitzungen der entsprechenden Ausschüsse; und weder das Fußvolk der Partei und der Gewerkschaften noch die Medien oder die breiten Massen der alten Labour-Wähler scheinen dies mitbekommen zu haben.
Im übrigen betreibt die Harte Linke seit vierzig Monaten eine gleichsam generalstabsmäßige Vorbereitung für die kommenden Parlamentswahlen. Zur einfachen Mehrheit würde sie dreihundertfünfundzwanzig oder sagen wir dreihundertdreißig Sitze benötigen. Man darf davon ausgehen, daß sie zweihundertzehn davon so gut wie in der Tasche hat. Die anderen einhundertzwanzig, die 1979 oder 1983 oder in beiden Wahljahren verlorengingen, gelten als rückgewinnbar, und die betreffenden Wahlkreise wurden zu Zielgebieten erklärt.
Das politische Leben in Großbritannien weist eine fast gesetzmäßige Eigenheit auf: Nach zwei vollen Legislaturperioden unter ein und derselben Regierung scheinen die Leute zu denken, daß es nun Zeit für einen Wechsel sei, selbst wenn die amtierende Regierung nicht eigentlich unbeliebt ist. Doch die Engländer werden nur dann wechseln, wenn sie dem, was sie dafür eintauschen, vertrauen können. Oberstes Ziel der Labour Party während der letzten vierzig Monate war daher die Rückgewinnung dieses Vertrauens, und sei es unter Verleugnung der eigenen Grundsätze.
Laut den jüngsten Meinungsumfragen war diese Methode äußerst erfolgreich, denn der Abstand zwischen der Labour Party und den regierenden Konservativen ist auf ein paar Prozente zusammengeschmolzen. Wenn man bedenkt, daß nach dem britischen System achtzig »unsichere«, das heißt von knappen Mehrheiten abhängige Sitze, über den Ausgang einer Wahl entscheiden und daß über diese Sitze von den fünfzehn Prozent Wechselwählern in der einen oder anderen Richtung entschieden wird, dann hat die Labour Party eine Chance, nach den nächsten Parlamentswahlen wieder ans Ruder zu kommen.
Der Wahlsieg der Labour Party allein würde jedoch nicht genügen, um England so zu destabilisieren, daß es reif für eine Revolution ist. Der siegreiche Parteiführer müßte vor seiner Vereidigung als Premier gestürzt und durch einen vorher ausgesuchten Mann der Harten Linken ersetzt werden. Dieser Linksextremist wäre dann der erste marxistisch-leninistische Premierminister Großbritanniens. Die Vorbereitungen zu dieser Wende sind bereits weit gediehen.
Darf ich eine weitere Abschweifung machen, um zu erklären, wie der Parteiführer gewählt wird. Seit der Schaffung des Wahlausschusses auf Betreiben unserer Freunde von der Harten Linken ist die Prozedur wie folgt: Nach einer Parlamentswahl müssen die Nominierungen für den Posten des Parteivorsitzenden spätestens dreißig Tage nach der Vereidigung der Unterhausmitglieder getätigt sein. Während der darauffolgenden drei Monate können die rivalisierenden Kandidaten ihren Führungsansprüchen Nachdruck verleihen. Dann tritt der Wahlausschuß zusammen. Bei einer Labour- Niederlage könnte es zu einem Wechsel in der Parteiführung kommen; bei einem Sieg wäre jedoch ein Sturz des Premierministers undenkbar, denn während dieser drei Monate könnten die Massen landesweit zu seinen Gunsten mobilisiert werden.
Letztes Jahr haben daher unsere Freunde auf dem Parteitag im Oktober eine »kleine« Reform durchgebracht. Bei einem Labour-Sieg würde der Labour-Chef umgehend bestätigt werden: Nominierungen für den Posten des Parteivorsitzenden müssen innerhalb von drei Tagen nach Bekanntgabe des
Wahlresultats vorliegen. Innerhalb weiterer vier Tage findet eine außerordentliche Sitzung des Wahlausschusses statt. Nach dieser Sitzung und der »Wahl« des Parteiführers ist zwei Jahre lang kein Einspruch erlaubt, wobei das laufende Jahr nicht zählt.
Den Unschlüssigen, die gezögert hatten, die Reform zu unterstützen, wurde bedeutet, daß diese »Bestätigungsprozedur« eine reine Formalität sei. Niemand werde sich gegen den siegreichen Parteiführer stellen, der darauf warte, in den Buckingham-Palast gerufen zu werden; sondern der Parteiführer werde selbstverständlich durch eine Wiederwahl ohne Gegenkandidaten bestätigt.
Das Gegenteil ist natürlich beabsichtigt. Ein Alternativkandidat wäre zur Stelle. Die Mobilisierung der Massen wäre wegen der Kürze der Zeit nicht möglich. Die Gewerkschaftsvorstände würden im Namen ihrer Mitglieder ihre vierzig Prozent in die Waagschale werfen, und diese Vorstände werden von unseren Freunden beherrscht. Desgleichen die Wahlkreisausschüsse. Zusammen mit der Hälfte des parlamentarischen Flügels würde diese Allianz über fünfzig Prozent des Wahlausschusses ausmachen. Die Königin würde den neuen Parteichef zu sich bitten müssen.
Nun zum Wesentlichen. Den inneren Kern der Harten Linken der Labour Party und der Gewerkschaftsbewegung bildet eine Gruppe von zwanzig Leuten, die man als den ultraharten Flügel bezeichnen kann. Diese Gruppe kann man nicht als Komitee bezeichnen, denn wenn die Beteiligten auch miteinander in Kontakt sind, so kommen sie doch selten an einem Platz zusammen. Jeder hat sich im Laufe seines Lebens langsam im inneren Apparat nach oben gearbeitet; jeder verfügt über ein Maß an Einfluß, das weit über sein eigentliches Amt oder seinen Posten hinausgeht. Jeder ist ein höchst engagierter marxistischleninistischer »Rechtgläubiger«. Es sind, wie gesagt, insgesamt zwanzig Leute, neunzehn Männer und eine Frau. Neun von ihnen sind Gewerkschaftler, sechs (zu ihnen gehört die Frau) sitzen als Labour-Abgeordnete im Unterhaus, dazu kommen zwei Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, ein Peer, ein Rechtsanwalt und ein Verleger. Diese zwanzig Personen sitzen an den Schalthebeln und werden die Machtübernahme inszenieren und auslösen.
Der neue Parteiführer und Premierminister würde carte blanche haben. Er könnte mit Unterstützung des von der Harten Linken beherrschten Parteivorstands eine Regierungsmannschaft nach; seinen ureigensten Vorstellungen bilden und das beabsichtigte Legislaturprogramm in Gang setzen. Kurz und gut, das Volk würde für eine scheinbar traditionalistische oder bestenfalls reformistische Regierung der Weichen Linken gestimmt haben, tatsächlich aber hätte eine Harte Linke reinster Prägung die Macht ergriffen, und zwar ohne den lästigen Umweg über ein Wählervotum.
Das Legislaturprogramm besteht bis dato aus einem Katalog von zwanzig Maßnahmen, die aus begreiflichen Gründen noch nicht zu Papier gebracht worden sind. Alle diese Maßnahmen bilden seit langem das Wunschprogramm der Harten Linken, wenn auch nur ein paar Punkte, und auch die nur in verwässerter Form, im Labour-Manifest enthalten sind.
Der Zwanzig-Punkte-Plan ist unter der Bezeichnung »Manifest der britischen Revolution« oder kurz »M. B. R.« bekannt. Die ersten fünfzehn Punkte betreffen die Massenverstaatlichung von Privatunternehmen und Privateigentum; die Abschaffung des privaten Grundbesitzes sowie des privaten Gesundheits- und Erziehungswesens; die staatliche Lenkung der Polizei, der Massenmedien und der Justiz; die Abschaffung des Oberhauses, das ein Vetorecht hat gegen die Mandatsverlängerung einer Regierung im Selbstermächtigungsverfahren.
(Die britische Revolution darf schließlich nicht durch eine Laune der Wähler aufgehalten oder in ihr Gegenteil verkehrt werden.)
Was die letzten fünf Punkte betrifft, so berühren sie die Sowjetunion in hohem Maße, und ich gebe sie daher im Wortlaut wieder:
(A) Der sofortige Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft ohne Rücksicht auf vertragliche Bindungen.
(B) Die unverzügliche Reduzierung der gesamten britischen Streitkräfte auf ein Fünftel ihrer gegenwärtigen Stärke.
(C) Die sofortige Abschaffung sämtlicher Kernwaffen Großbritanniens sowie die Zerstörung ihrer Herstellungsstätten.
(D) Die umgehende Ausweisung aller amerikanischen Streitkräfte mitsamt ihrer konventionellen und nuklearen Ausrüstung.
(E) Sofortiger Austritt aus der NATO und Ächtung dieser Organisation.
Ich brauche nicht besonders darauf hinzuweisen, Genosse Generalsekretär, daß die Realisierung der letzten fünf Punkte die Verteidigungskraft der Westlichen Allianz so erschüttern würde, daß sie für die Zeit unseres Lebens, wenn nicht für immer, gebrochen wäre.
Die kleinen NATO-Länder würden wahrscheinlich dem Beispiel Großbritanniens folgen, die NATO würde aufgelöst werden, und die USA wären völlig isoliert auf der anderen Seite des Atlantiks.
Natürlich hängt die Realisierung der Möglichkeiten, die ich in diesem Memorandum beschrieben habe, von einem Sieg der Labour Party ab, und dafür könnten die nächsten, im Frühjahr 1988 stattfindenden Wahlen die vielleicht letzte Gelegenheit bieten.
Das alles wollte ich ausdrücken mit meiner während des Abendessens bei General Kryutschow gemachten Bemerkung, die politische Stabilität Großbritanniens werde in Moskau dauernd überschätzt, »und heute mehr denn je«.
Hochachtungsvoll!
Harold Adrian Russell Philby
Die Antwort des Generalsekretärs kam überraschend schnell. Einen Tag, nachdem Philby den Bericht an Major Pawlow ausgehändigt hatte, stand der undurchdringlich und kalt blickende junge Offizier vom Neunten Direktorat schon wieder vor seiner Tür. Er hatte einen Umschlag aus Manilapapier in der Hand, den er Philby wortlos reichte. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Es war wieder ein Handschreiben vom Generalsekretär persönlich, kurz und sachlich wie immer.
Der Sowjetführer dankte darin Philby für seine Mühe. Er könne die Richtigkeit von Philbys Ausführungen im großen und ganzen bestätigen. Der Sieg der Labour Party bei den nächsten allgemeinen Wahlen sei daher für die UdSSR eine Sache von vordringlicher Wichtigkeit. Er werde einen kleinen, nur ihm persönlich verantwortlichen Ausschuß ins Leben rufen, der ihn über eventuell zu treffende Maßnahmen beraten solle. Er fordere Harold Philby auf, sich diesem Ausschuß als Berater zur Verfügung zu stellen.